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Im Überfluss: Tagebuch einer seltsam spirituellen Liebe
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Im Überfluss: Tagebuch einer seltsam spirituellen Liebe
eBook373 Seiten5 Stunden

Im Überfluss: Tagebuch einer seltsam spirituellen Liebe

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Über dieses E-Book

Nach ihrer Übersiedlung von Berlin nach Bolivien lebt die Aussteigerin und Autorin in einer Finca inmitten eines subtropischen Gartens in der Nähe des Städtchens Coroico. Sie schildert ihre ersten Jahre, alleine auf dem Land, in der Natur und inmitten einer fremden Kultur. Die Begegnung mit Personen, zu denen sie Beziehungen aufnimmt, bescheren ihr eine Vielzahl an ungewohnten Erfahrungen. Vor allem die Liebe zu einem jungen Mann bringt Überraschungen mit sich. Schreibend verarbeitet sie das Verwirrende dieser Beziehung. Während sie das Tagebuch in ein Buch verwandelt, werden weitere Menschen Mitspieler in dem Stück, vernetzen die Ereignisse sich zu einer romanhaften Geschichte und erschaffen eine neue, faszinierende, auch spirituelle Realität. Mit Humor und Scharfsinn reflektiert die Schreiberin ihre zumehmende Lebensfreude und verwandelt sie in Poesie und spannende Lektüre für andere.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum1. Sept. 2018
ISBN9783746758848
Im Überfluss: Tagebuch einer seltsam spirituellen Liebe

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    Buchvorschau

    Im Überfluss - Sigrid Fronius

    Zum Buch

    Nach ihrer Übersiedlung von Berlin nach Bolivien lebt die Autorin in einer Finca inmitten eines subtropischen Gartens in der Nähe des Städtchens Coroico. Sie schildert ihre ersten Jahre, alleine auf dem Land,  inmitten einer fremden Kultur. Die Begegnung mit Personen, zu denen sie Beziehungen aufnimmt, bescheren ihr eine Vielzahl an ungewohnten Erfahrungen. Vor allem die Liebe zu einem jungen Mann bringt Überraschungen mit sich. Schreibend verarbeitet sie das Verwirrende dieser Beziehung. Während sie das Tagebuch in ein Buch verwandelt, werden weitere Menschen Mitspieler in dem Stück, vernetzen die Ereignisse sich zu einer romanhaften Geschichte und erschaffen eine neue, faszinierende Realität. Mit Humor und Scharfsinn reflektiert die Schreiberin ihre Erfahrungen und verwandelt sie in Poesie und spannende Lektüre für andere. 

    Sigrid Fronius, in Rumänien geboren, hat an der FU Berlin studiert. wirkte ab 1966 in der Studentenbewegung mit, ging nach Argentinien und veröffentlichte ein Buch über die Peronistische Bewegung. Nach mehreren Jahren Frauenbewegung begegnete sie östlicher Weisheit und Heilverfahren und wanderte 1983 nach Bolivien aus. Inmitten eines subtropischen Gartens errichtete sie das Hotel Sol y Luna Ecolodge, gibt Massagen und praktiziert ökologischen Anbau. Sigrid Fronius lebt und wirkt bis heute dort.   www.solyluna-bolivia.com

    Sigrid Fronius

    Im Überfluss

    Tagebuch einer seltsam

    spirituellen Liebe

    Selbstverlag der Autorin
    Copyright: Sigrid Elke Fronius Wetzel
    Umschlagsfoto:
    Die Autorin Sigrid Fronius im Jahre 1986
    Umschlagsgestaltung: Sigrid Fronius
    Alle Rechte vorbehalten

    Inhalt

    Kapitel 1

    Zu deinem Paradies fehlt dir nur noch der Adam

    Kapitel 2                                                                          

    Im Vorfeld des Eigentlichen                                                     

    Kapitel 3

    Wo sich die Flüsse vereinen und trennen      

    Kapitel 4

    Seine Vorwürfe höre ich gerne

    Kapitel 5

    So kann man Zuneigung auch ausdrücken

    Kapitel 6

    Es geht da lang wo Unbekanntes wartet                                  

    Kapitel 7

    Ich bin das abgestürzte Flugzeug

    Kapitel 8

    Habe ich aus-ge-dacht?

    Kapitel 9

    Warum hast du dich soo angezündet?                                     

    Kapitel 10

    Zeit und zu viel Ewigkeit

    Kapitel 11

    Freude will weitergegeben werden                                          

    Kapitel 12

    Eine Unruhe aus nicht fassbarem Glück                                  

    Kapitel 13

    Siehst du, jetzt hat er dich geküsst                                      

    Kapitel 14

    Wohin willst du denn noch rennen?                                          

    Kapitel 15

    Lade mich zu dir auf dein Bettchen ein

    Kapitel 16

    Nichts ist so interessant wie gelebtes Leben

    Kapitel 17

    Du schreibst an Leute, die du gar nicht kennst?               

    Kapitel 18

    Der Finsternis nicht nachspüren

    Kapitel 19

    Eine verwirrende Gesellschaft                                                

    Kapitel 20

    Das Leben ist doch ein Kunstwerk

    Kapitel 21

    Ein hoher Herr der Tiere                                   

    Epilog: Im Jahre 2018                                                              

    Florencios Gedicht                                                                   

    Gewidmet all jenen
    Freundinnen und Freunden,
    aus Coroico und von anderswo,
    die Akteure in dieser Geschichte sind
    und sie ins Leben riefen.
    Zur gemeinsamen Erinnerung.

    1

    Zu deinem Paradies fehlt dir nur noch der Adam

    Januar 1986

    Ich liege in der Hängematte und Wind kühlt mein erhitztes Gesicht. Es duftet nach Jasmin, Vögel zwitschern und Bienen umsummen die Blüten. Sonst ist alles still an diesem frühen Morgen, dem ersten dieses Jahres. Aus halb geschlossenen Lidern betrachte ich den hohen Himmel über mir, den Schneegipfel und die lilafarbenen Berge. Mit ihrer Beständigkeit wirken sie beruhigend, doch das Licht, das diese Landschaft reflektiert, bedrängt mich. Zu aufdringlich blinzelt es mich an. Macht da ein Geist des Neuen einen Scherz, beleuchtet Szenen dieser Nacht, die ich noch nicht begreife? Mit Mühe nur ertrage ich die Fülle der Natur, die das widerspiegelt, was ich fühle. Gesättigt bin ich und doch hungrig. Da hat etwas begonnen. Doch was?

        Ich lege Chopin auf, hole mein Tagebuch, setze mich an den Tisch auf der Veranda und schreibe. Unter den Zweigen der Palme vor meinem Haus sehe ich in nicht allzu weiter Ferne die rostroten Dächer des Städtchens, die Mauern des Nonnenklosters und davor das Haus, in dem ich die Nacht durchtanzt habe.

    Neun Geschwister sind sie: sechs Brüder und drei Schwestern. Die beiden ältesten, Enrico und Emma, sind Zwillinge und um die dreißig. Ihnen folgen Raimundo, Nardo, Margarita und Andrés. Der Name des Siebten in der Reihe lautet Florencio. Paola und Daniel, die Jüngsten, sind noch Kinder.

    Die Mutter dieser Kinderschar hatte ich mir als breithüftige Matrone in langem Rock vorgestellt, doch sie ist zart, trägt Jeans und eine buntkarierte Bluse. Wer der Vater ist – oder sind es mehrere Väter – weiß ich nicht. Mir wurden zwar auch Herren vorgestellt, doch keiner wurde sonderlich beachtet. Die Mutter wurde ständig von einem ihrer Kinder in den Arm genommen und geküsst. Drei Brüder betreiben hier im Städtchen eine Wachtelfarm. Die anderen Mitglieder der Familie sind aus der Stadt gekommen, um Silvester auf dem Land zu feiern. Sie laden ihre Sachen von den Autos und schleppen sie in das Haus, als ich zum Fest erscheine.

        Da ich kaum jemanden kenne und sonst nichts anzufangen weiß, gehe ich in das Zimmer mit der Musikbox und dem Holzfußboden, ziehe meine Tanzschuhe an, lege die Einstürzenden Neubauten auf und tanze. Auf einem der Betten liegt ein älterer Herr und schläft. Zwar fühle ich mich seltsam, doch genieße ich die verrückte Musik, die Freiheit meiner Bewegungen und die Leere dieses Zimmers. Ich tanze, wie es mir Spaß macht, mindestens eine Stunde lang.

    Immer komme ich zu früh zu Festen, nie zu spät. Wenn ich den Weg ins Städtchen hinuntergehe und unten die Lichter sehe, dann denke ich, die anderen seien längst am Feiern. Wie früher in Berlin, wenn wir zu Demonstrationen gingen. Auch da war diese erwartungsfrohe Stimmung und ich unterstellte allen in der U-Bahn, sie führen auch dorthin. Heute war ich schon in Tanzstimmung, als ich die weiße Hose und das weinrote Jackett anzog und mich schminkte. Die Frau im Spiegel schien mir fremd und schön. Da die Tanzschuhe zu empfindlich für den steinigen Weg ins Dorf sind, packte ich sie samt Taschenlampe, Pullover und Regencape in den Beutel. Wir sind in der Regenzeit und man kann nie wissen. Irgendwann möchte ich auch mal mit dem Handtäschchen ausgehen und in ein Auto steigen, dessen Tür jemand mir offen hält.

    Auf dem Weg hinab ins Städtchen höre ich Schritte im Kaffeewäldchen. Ein Nachbar, der mir bei der Arbeit im Garten hilft, hat mich abgepasst. Er greift nach meiner Hand.

    „Warte, ich begleite dich."

    „Nein danke, ich bin eingeladen."

    „Aber es ist doch schon finster."

    „Na und?"

    „Du kannst doch nicht alleine und im Dunkeln runtergehen."

    „Wieso nicht, ich mache es doch immer."

    „Dann hole ich dich aber ab."

    „Ich weiß doch gar nicht, wann das Fest zu Ende ist."

    „Macht nichts. Ich warte. Um Mitternacht auf der Plaza."

    „Nein, du wartest nicht. Das fände ich schrecklich."

    Er scheint tatsächlich Angst zu haben. Vielleicht finde ich einen, der mich heimbegleitet, denke ich und der Nachbar sagt mit spitzer Stimme: „Ich weiß genau, wegen wem du zu diesem Fest gehst."

    „Na, dann weiß es wenigstens einer", entgegne ich und entwinde mich seiner Hand.

    Es ist mir ein Rätsel, wen er meinen könnte. Ich kenne die Brüder kaum. Ich habe wirklich niemanden im Sinn.

    Der schlafende Herr ist aufgestanden und hat das Zimmer verlassen, ohne dass ich es merkte. Dafür hat es sich mit Tänzern und Zuschauern gefüllt. Enrico, mit seinen dreißig Jahren der älteste der Brüder, gesellt sich zu mir. Wir tanzen Cumbia und Reggae. Er lacht verwundert, als erlebe er zum ersten Mal, wie er sein Becken drehen und schwenken kann. Unsere Hände berühren sich nicht, doch unsere Blicke halten einander fest. Wir tanzen immer ausgelassener, springen und hüpfen wie Bälle. Enrico hat den Charme eines Charlie Chaplin. Seine Augen leuchten. Sein dunkelblondes Haar ist leicht gekraust, seine Nase über dem kleinen Schnurrbart fein gebogen und seine Lippen sind voll. Er schürzt sie, als wolle er etwas sagen und fände die Worte nicht. Wie ein Vogel neigt er den Kopf, beobachtet und wartet. Wenn Lachen die anderen ergreift, entspannt er sich und lacht in freien Kaskaden. Solch ein unverwandt liebevoller Blick ist mir ungewohnt. Erst weiche ich ihm aus, dann halte ich ihm stand, gebe ihn gar zurück und genieße unsere Freude. Was soll denn schon passieren? Sobald ein Tanz endet, drückt er mich an sich. Oder bin ich diejenige, die nicht anders kann, als sich in seine Umarmung zu flüchten? Beginnt der nächste Tanz, so lösen wir uns wieder.

    Zu vorgerückter Stunde drückt er seinen Mund an mein Ohr und flüstert in abgehacktem Rhythmus, als diktiere er ein Gedicht: „Es geht ... die Sonne ... unter ... doch dann ... erscheint ... der Mond." Er neigt den Kopf zurück und blickt mich fragend an. Hast du die Botschaft verstanden?

    Habe ich? Habe ich nicht? Ich weiß es nicht, doch wir teilen ein Geheimnis. Es geht auch um ein Licht, das in ihm angezündet worden sei. Er sagt öfter „tu y yo", du und ich, doch meint er mich sicher nicht persönlich. Dieses Du klingt wie etwas Umfassendes, Großes. Löse ich einen Gefühlsüberschwang in ihm aus? Er habe wieder Glauben an sich, sagt er. Ich freue mich für ihn. Ich sehe, wie Zuneigung zu mir fließt und gleichzeitig spüre ich ein Zurückhalten. Plötzlich geht seine Mutter zwischen uns und tanzt mit ihrem Sohn. Ich bin verblüfft und erleichtert.

    Es hatte ein Fest im engsten Kreis der Familie werden sollen. Doch nun kommen auch fernere Bekannte. Selbst Touristen bleiben neugierig am Gartentor stehen und werden hereingebeten. Neben Italienern und Deutschen gibt es einen Brasilianer mit rotem Tüchlein um den Hals, blütenweißem Hemd, eng anliegenden Jeans über praller Männlichkeit und hohen hellen Stiefeln. Sein schwarz glänzendes Haar ist glatt zurückgekämmt und altmodisch der Schnurrbart. Im Tanz führt er mich gut; danach verbeugt er sich, geleitet mich an meinen Platz, kehrt an den seinen zurück und sitzt dort lange alleine. Er wirkt einsam. Lächelt er nicht, so ist sein Mund verhärmt, als habe er Schweres mitgemacht. Seine Augen leuchten durch die tanzende Menge hindurch zu mir herüber. Ja, wie lernt Mann eine Frau kennen und wie Frau einen Mann?

    Um Mitternacht, als der Ansturm auf die Sektgläser losgeht und das Zählen beginnt, gehe ich mit meinem Glas hinaus vor die Türe. Dort finde ich Florencio, den jüngsten der Brüder, auf den Stufen sitzen und in die Ferne schauen. Als die Gesellschaft drinnen stürmisch das neue Jahr begrüßt, stoßen wir schweigend an. Wir betrachten den Sternenhimmel und Florencio erzählt vom gesunden Landleben, von den Sitten der Bauern, von der Magie der Pflanzen und von meinem schönen Garten. „Was kostet die Übernachtung in deiner Pension?", fragt er schließlich. Ich nenne ihm den Preis und er wird verlegen.

    „Oh, sagt er leise, „ich würde so gerne mal eine ganze Woche bei dir wohnen, aber …

    „Du kannst ja mein Haus hüten, wenn ich verreise", biete ich ihm an.

    Florencio ist zwanzig Jahre alt und wird wegen seines halblangen, blonden Haares und seiner grünen Augen oft für einen Ausländer gehalten. „Man nennt mich den Teutonen", sagt er stolz. Er weiß zwar nicht, wer, doch merkt man, dass er in dem bescheidenen Bewusstsein lebt, jemand Besonderes zu sein. Er könnte von überallher stammen: aus Berlin, Buenos Aires oder London. Seine Kleidung ist von elegantem Schnitt und seine Gesten sind die eines Gentleman. Ich sehe ihn, als wir wieder drinnen bei den anderen sind, fast nie tanzen. Meist lehnt er an der Wand, das eine Bein angewinkelt und gegen die Wand gestemmt. Seine rechte Hand hält Weinglas oder Zigarette, die andere ist in die Hosentasche geschoben. So blickt er, den Kopf leicht zurückgeneigt, auf das turbulente Geschehen. Eine Weile lehnt er still, doch dann ist er plötzlich verschwunden. Wahrscheinlich hat er jemanden entdeckt, dem er nützlich sein kann. Seine Bewegungen sind jungenhaft und schlaksig. Mache ich eine Tanzpause, so gesellt er sich zu mir und verwickelt mich in ein Gespräch. Seine grünen Augen blicken mich forschend an, als wolle er in mir lesen. Sicheres Auftreten und Unsicherheit mischen sich in ihm auf seltsam sympathische Weise.

    Zwischendurch verlasse ich das Fest, ohne mich abzumelden. Ein Bolivianer und ein Engländer, denen ich kürzlich Massagen gab, haben mich ebenfalls zum Tanzen eingeladen. Ich steige die Stufen zum Prefectural hinab, dem größten und vornehmsten Hotel am Ort. Wie ein erleuchtetes Schiff vor Anker liegt es am unteren Rand des Städtchens. Über eine halbrunde Treppe aus hellem Stein und einen Vorsaal mit geschliffenen Fliesen aus Marmor gelange ich in einen von Kronleuchtern erhellten Tanzsaal. Ich habe Lust auf Tango, doch das Orchester, als Bauern ge- oder verkleidet, spielt Sikuri, einen indianischen Tanz. Der Bolivianer entdeckt mich, stürzt erfreut auf mich zu und wir fallen ohne Übergang in diesen fremden Rhythmus. Mein Tänzer wirbelt mich herum, lässt mich los und fängt mich wieder auf. Es ist ein Fliegen im Kreis, dann die Gerade, die gemeinsame Parade – hin, gewendet und zurück, getrennt und dann wieder gemeinsam. Sich drehen und gedreht werden, hinausgeschleudert und zurückgeholt, aufgefangen von einer Hand, die sicher greift und die ich nie verfehle ... Sonnenhof, König, Königin … Hat der Bolivianer mir die Geschichte dieses Tanzes erklärt oder ist es das Bild meiner Erinnerung, das sich über dieses Erlebnis legt? Der Saal mit goldumrandeten Spiegeln, unsere harmonischen Drehungen, als tanzten wir schon immer zusammen ...

    „Du tanzt ja wie eine Cholita, ruft er erstaunt. Ich fühle mich geehrt. „Auch du bist kein Indio und tanzt perfekt. Wir gönnen uns keine Pause. Die Musiker, Indios, lachen uns zu und freuen sich an unserem Vergnügen. Sie bemerken mit Genugtuung, dass eine Ausländerin ihren Rhythmus liebt, genießt und tanzen kann.

    Irgendwann bin ich erschöpft und lasse mich in einen mit zerschlissener Seide bespannten Sessel fallen. Der Engländer zieht mich ins Gespräch. Ich nicke viel, doch ich mag nicht reden. Ich verschwinde, wie ich gekommen bin.

    Ich verlasse das Hotel über die geschwungene Treppe und erwarte, gleich in das Dunkel einer nächtlichen Straße zu treten, doch stattdessen stehe ich, verblüfft, vor einer Wand aus dichtem weißem Nebel: Eine Wolke, durchtränkt von diffusem Licht, hat sich herabgesenkt und verhüllt das Städtchen. Das einzig Wirkliche in diesem Nichts aus weißer Stille ist der Boden unter meinen Füßen. Auf ihm schiebe ich mich vorsichtig voran. Ich bin alleine auf der Welt und frei. Die Leere des Nebels fasziniert mich. Alles ist möglich, scheint sie mir zu sagen. Schemen gleiten vorbei, wohl Büsche, dann die Andeutung einer Mauer und nun stehe ich vor Treppen, die sich im Nichts verlieren. Ich weiß: Irgendwo dort oben gibt es ein Fest. Diese Stufen führen mich hin. Doch ich schiebe mein Eintauchen in die Welt des Festgefügten absichtlich hinaus. Ich horche, staune und lasse mich verzaubern. Ich starre mit Genuss in etwas, das man weder sehen noch hören kann. Was fasziniert mich so an diesem Nebel?

    Über mir nehme ich einen Flecken wahr, der sich allmählich in ein Fenster verwandelt. Von Stufe zu Stufe wird es heller und lauter. Links das verschlossene Tor zum Kloster und rechts eine Mauer aus Lehm. Darin eine weit geöffnete Türe, aus der Licht und Stimmengewirr quellen und Musik ertönt. Ich befinde mich noch in dem wunderbaren Zustand der zahllosen Möglichkeiten, als eine Stimme mich ins Diesseits holt.

    „Sigrid, wo bist du die ganze Zeit gewesen?" Florencio fragt, als habe er mich überall gesucht.

    Dann entdeckt Albert mich, ein älterer Gast aus meiner Pension. „Sigrid, weißt du, wo Pia, unsere Tochter, ist?" Er haucht das Wort unsere Tochter und legt den Arm um mich. Ich weiche innerlich zurück. Pia, seine junge Begleiterin, könnte meine Tochter sein, doch niemals von ihm. Er führt mich zum nächsten Tanz, einem ländlichen Walzer. Er presst sein Becken an mich und sein Blick hängt schmachtend in einer der Ecken. Er tanzt knochenlos, ja klebrig. Auch Enrico drückte mich an sich, doch anders. Er blieb auf dem Boden und bei sich. Albert hingegen schleicht heran, als wolle er etwas stehlen. Denkt er, man merkt es nicht? Als Pia, seine jugendliche Begleiterin, auftaucht, stürzt er sich auf sie. Er drückt sie gegen die Wand, knutscht sie und sie lässt es sich gefallen.

    Gegen drei Uhr morgens kommt die Indio-Band vom Hotel Prefectural zu uns herauf. Die Stimmung schlägt noch einmal hohe Wellen. In sich gekehrt und doch ganz da für die anderen, spielen die Musiker um eine unsichtbare Mitte vereint auf Charangos, Zampoñas und Flöten. Ich bin ein Glied in einer Kette von Menschen, die sich wiegend umschlungen halten. Sie klatschen mit den Händen und singen mit Begeisterung. Die Musiker nehmen den Rhythmus und Gesang dieses Kreises in ihr Spiel auf und musizieren noch intensiver. Andrés hat seinen Arm um mich gelegt und blickt mich unablässig an. Er bewegt seine Lippen deutlich, damit ich den Liedertext daran ablesen und mitsingen kann. Nun breitet er die Arme aus und seine Geste sagt: Lass dich auf den Schwingen der Freude tragen. Er blickt zu seiner Mutter, sie bestätigen einander und lachen. Fröhliche Blicke fliegen zu anderen Geschwistern und von diesen zurück zu mir. Andrés führt mich im nächsten Tanz, zu zweit und zugleich mit der Gruppe, in wildem Rhythmus und voller Übermut.

    Der Morgen graut hinter beschlagenen Fensterscheiben. Der Nebel lichtet sich und lässt hellgrüne Flecken durchscheinen. Die Berge zwischen den Wolken empfangen die ersten Sonnenstrahlen. Sie verheißen den neuen Tag. Die Musiker sind gegangen und die Schar der Tanzenden hat sich gelichtet. Die Mutter dieser Kinderschar tanzt in grün plissiertem Kleid auf Seidenstrümpfen mit ihren Söhnen und mir zur Musik von Kitaros Silk road. Wir sind Vögel, die schweben und Derwische, die sich drehen. Siehst du mich? Fühlst du das gleiche Glück?, fragt mich Enricos Blick. Er nimmt meine Bewegungen auf, führt sie weiter, gibt sie verwandelt zurück, zu mir, zur Mutter, zu seinem Bruder Rosendo. In einem der Fenster sehe ich die grüner werdenden Bananenstauden. Einer chinesischen Landschaft gleich sind die Kuppen der Berge von Nebel umhängt und Wolken schmiegen sich in ihre grünen Falten, um mit zunehmendem Tageslicht als zerrissene Wattebäuschchen sanft auseinanderzuschweben.

    Ich fühle, dass die Bäume an den Abhängen dort drüben schon eine frische Brise atmen, während hier im Zimmer noch Nachtluft von gestern hängt. Ich möchte plötzlich nach Hause. Ich gebe Enrico ein Zeichen. Er faltet die Hände vor der Brust und verneigt sich zum Gruß wie ein Yogi. Als ich nach draußen gehe, packt eine Hand meinen Fuß und eine besoffene Stimme jammert: „Sigrid, nimm uns mit. Wie kommen wir sonst nach Hause?" Albert und Pia sitzen vor mir am Boden. Ich mache mich aus ihrer Umklammerung frei. Es ist mir egal, wie sie nach Hause kommen. Ich will alleine durch die morgendliche Landschaft gehen und meinen Heimweg genießen.

    „Sigrid, darf ich dich begleiten?" Florencio steht in der Türe und stellt mir diese Frage.

    „Aber gerne", antworte ich.

    Wir steigen die Treppen zur Plaza hoch und überqueren das Karree. Frauen fegen die Bürgersteige, öffnen ihre Läden und stellen die Brotkörbe heraus. Wenn wir an ihnen vorbeikommen, blicken sie auf und grüßen respektvoll. Oder bilde ich es mir nur ein? Florencio geht und grüßt normal und doch wie einer, der tief innen weiß, dass es ihm wohl gebührt, mit Hochachtung behandelt zu werden. Mit diesem jungen Mann an meiner Seite fühle ich mich wie auf der Bühne. Oder stammen wir aus einem anderen Jahrhundert und laufen zur Verwunderung der Bürger hier so eben mal vorbei? Die Frauen spannen Sonnendächer aus weißem Leinen auf und wir wünschen allen ein fröhliches Neues Jahr.

    Da kommen uns zwei wankende Gestalten entgegen. Sie schwenken eine Flasche mit Schnaps. Als sie mich entdecken, hellen sich ihre Gesichter auf. „Die Sigrid!!!" Der Bolivianer, mein Tänzer aus dem Prefectural, und der Engländer steuern auf mich zu. Letzterer greift nach meiner Hand und lässt sie nicht wieder los. Er stiert mir in die Augen. Alles an ihm scheint rot: seine Augen, sein pockennarbiges Gesicht sowie das zum Zopf geflochtene Haar. Er spricht, doch ich verstehe kein Wort. Ich sperre mich gegen die Begeisterung, mit der er mich überfällt: die herrliche Atmosphäre gestern, in meinem Haus, als ich ihm die Massage gab. Mit Florencios Hilfe verstehe ich ihn schließlich. ‚Monasterio‘ habe er gesagt. Sechs Jahre habe er als Mönch in einem Kloster gelebt, doch niemals solch einen Frieden gefunden wie gestern in meinem Zimmer. Er hält noch immer meine Hand und zerrt an mir. Ich solle mitkommen und mit ihnen trinken. Ich blicke Hilfe suchend zu Florencio. Mit seiner Unterstützung kann ich mich schließlich entwinden.

    „Danke, Florencio. So schnell und höflich wäre ich ohne dich nicht entkommen."

    Er nickt, als wäre er es gewohnt, Frauen aus der Gewalt ehemaliger Mönche zu befreien, und fährt fort mit der Geschichte, die er erzählte, seit wir aus dem Tor seines Hauses getreten sind. Ich bemühe mich, ihn zu verstehen und gleichzeitig wahrzunehmen, wie die Sonne den Himmel und dieser die rosa und hellblau gestrichenen Fronten der Häuser zum Leuchten bringt. Am Dorfausgang bleibt Florencio stehen. Er beugt sich vor, verabschiedet sich mit der hier üblichen Berührung von Wange zu Wange, führt dann die Hand zur Schläfe und salutiert.

    „Señora, also auf Wiedersehen."

    Ich lächele. Bin ich denn ein General? Oder er?

    „Wann sehen wir uns wieder?", fragt er.

    „Ich weiß nicht, stottere ich. „Bald.

    Ich schaue ihm lange nach, wie er zwischen den kleinen Häusern unter grasbewachsenen Ziegeldächern und erstaunt dreinblickenden Fenstern die holprige Straße entlanggeht. Dann drehe ich mich um und steige meinen Weg nach oben. Die Schneegipfel, frühmorgens noch rosa, leuchten jetzt weiß.

    Es ist kühl auf der Veranda geworden. Ich habe den Korbsessel in den Garten gestellt und bin immer noch am Schreiben, als Pia verknautscht und schmuddelig vorbeikommt. Sie haben den Weg nach hier oben nicht gefunden und irgendwo im Graben geschlafen. Dort liege Albert immer noch. Pia verzieht sich in ihr Häuschen. Für mich ist es höchste Zeit, den Hund und die Hühner zu füttern und nach den Gästen zu sehen.

    Meine Pension besteht aus einem Gartenhäuschen und einem zweistöckigen Rohbau. Sie hat noch keinen Namen und hat sich auf Drängen der Gäste entwickelt. Touristen, denen die Landschaft, der Garten und das Häuschen gefielen, mieteten sich ein, empfahlen es weiter und neue Gäste kamen. Ich muss nicht mehr vom Ersparten leben, sondern habe Einkünfte, um alles Notwendige zu kaufen. Ich kann eine Köchin und einen Gärtner bezahlen.

    Als ich vor gut zwei Jahren meine Zelte in Berlin abbrach und nach Bolivien ging, glaubten viele, ich verfolge ein politisches Ziel. Doch ich war nur großstadtmüde und wollte aufs Land. Es hätte auch die Toskana sein können oder irgendein Dorf in der Heide. Ich habe dieses Grundstück in Bolivien nicht gesucht. Es hat mich gefunden. Es war Liebe auf den ersten Blick: Wir kauften es zu dritt, doch ich kam alleine. Meine Mitbesitzer leben immer noch in Deutschland.

    In meinen Koffern befanden sich viele Bücher, vor allem über Medizin, um für die Heilpraktiker Prüfung zu lernen, denn irgendein Ziel musste ich erstmals haben; dann über Landwirtschaft, Imkerei und Gärtnern; Bücher über Religion, Psychologie und Esoterik sowie jede Menge Romane. Auch Farbstifte zum Malen und Anleitungen für Körperübungen, Yoga und Meditation. Denn Zeit für das alles würde ich nun reichlich haben.

    Der Augenblick, da das Auto um jene Kurve der Gebirgsstraße bog, von der aus man das Städtchen Coroico auf der Nasenspitze eines Berges erblickt, scheint mir heute schon sehr ferne. Ich weinte Tränen der Freude. Mir war, als hätte ich mich, ohne es zu wissen, lange nach diesem Fleckchen Erde gesehnt und sei nun endlich angekommen.

    Das Haus, eine Finca aus Lehm mit Innenhof sowie Zimmern und Türen zu Veranda und Garten, stand leer. Mein einziges Möbelstück war eine Matratze, die ich auf den Fußboden des mittleren Zimmers legte. Dort fühlte ich mich am sichersten, denn nach Einbruch der Dunkelheit war mir noch unheimlich zumute. Damals schlief ich bei geschlossenen Türen und es fiel mir nicht ein, in den Garten oder gar hinunter zu den Tannen zu gehen. Elektrisches Licht gab es nur in Form einer Glühbirne, die an einem selbstgezogenen Kabel von der Decke hing.

    Ich tat mir damals nicht leid. Es war schön, ganz von vorne zu beginnen. Die Leere tat mir gut. Das Haus und der Garten gefielen mir von Anfang an. Alles war aufregend und neu. Doch heute, nachdem ich mir Raum für Raum erobert und eingerichtet habe, da das Haus sich mit Leben und Geschichten füllt und mir der Garten selbst um Mitternacht heimelig geworden ist, empfinde ich jene Zeit des Anfangs doch als karg und mich als Pionierin.

    Ich spüre ein Gefühl von Verliebtheit. Doch wenn Enrico in meiner Phantasie zu Besuch kommt und sich mir nähert, weiche ich zurück. Ich weiß nicht, ob ich etwas und was ich von ihm will. Muss es immer einen geben, der den ersten Schritt macht und sich dem Risiko aussetzt, abgelehnt zu werden? „Der Mann muss von Liebe reden, nicht wahr?, hatte er mich während unseres Tanzens gefragt. Ich verstand nicht ganz, worauf er hinauswollte, doch ich nickte. „Natürlich. Der Mann, die Frau, jeder … Und nicht nur reden, ging es mir durch den Kopf. Hatte er den ersten Schritt schon getan und ich merkte es nur nicht? Hatte er die Brücke schon überschritten? Und ich sitze am Ufer, grüble und warte? An den bolivianischen Bergen kann es jedenfalls nicht liegen, dass ich immer noch alleine bin. Es tut gut, diesen Augenblick des Brückenschlagens zu beobachten und herauszufinden, wie und wann er geschieht. In diesem Fall will er sich nicht risikolos ergeben. Ich frage mich, ob ich nur feige bin und will, dass der andere sich als Erster zeigt oder ob wir beide im Grunde gar nicht wollen. Ich sehe Enrico und mich nicht als Frau und als Mann. Ich sehe uns eher als Kinder. Und doch zieht mich verliebte Sehnsucht. Ich werde die Familie besuchen, werde der Mutter einen Blumenstrauß bringen und die Gelegenheit nutzen, Enrico zu beobachten, und sehen, was ich für ihn empfinde.

    Bruder Andrés und seine Freundin Fatima sind mir zuvorgekommen. Sie würden gerne bis morgen bei mir bleiben. Ob das ginge? Natürlich. Ich erkundige mich nach Florencio, nach Enrico frage ich nicht. Meine Frage könnte mich verraten.

    Fatima und Andrés wirken wie das ideale junge Paar. Fatima macht ihrem Namen aus Tausendundeiner Nacht alle Ehre. Das dunkle, leicht gelockte Haar fällt in kringeligen Locken über ihre Schläfen. Um die Stirn hat sie ein Tuch gebunden, das so in sich gedreht ist, dass rote und weiße Spiralstreifen entstehen. Es gibt ihrem arabisch wirkenden Gesicht eine noch exotischere Note. Ihre Augen sind mandelförmig und braun, die Nase ist zart und an der Spitze leicht gebogen. Ihren hübschen Mund hat sie dunkelrot geschminkt. An ihren Ohren hängt modisches Geklunker. Alles an ihr ist bunt: die Hose rosa, der weite Pulli gelb und die Schuhe lila; alles wirkt aufeinander abgestimmt, selbst Andrés passt zu ihr. Er ist etwas größer und schmal wie sie, doch kräftig. Sein Bart verleiht ihm etwas Rabbinerhaftes. Seine braungrünen Augen unter dem ewig schwarzen Hut strahlen. Ich führe das Liebespaar hinunter zu den Tannen, dem schönsten Platz in meinem Garten.

      „Ich bin mit einem Amerikaner verlobt", flüstert

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