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Henningstadt
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eBook277 Seiten3 Stunden

Henningstadt

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Über dieses E-Book

Das Leben ist manchmal ein ziemliches Miststück: Henning ist siebzehn Jahre alt und lebt in der Provinz. Als wäre das nicht schon ärgerlich genug, muss er sich seit Neuestem mit der Tatsache herumschlagen, schwul zu sein. Die beste Freundin ist beleidigt, die Eltern sind verunsichert. Zum Glück ist da Steffen, der sich auf eine Affäre mit dem deutlich jüngeren Henning einlässt - bis er nervös wird und nach Berlin abhaut. Kurz entschlossen reist Henning ihm hinterher. In der Hauptstadt begegnet er Tete, einer waschechten Tunte, die dafür sorgt, dass Henning die Dinge wieder klarer sieht. Jetzt muss nur noch Steffen zur Vernunft kommen, der in den Darkrooms und Saunas der Stadt nach Ablenkung sucht ...
SpracheDeutsch
HerausgeberBruno-Books
Erscheinungsdatum1. Juni 2012
ISBN9783867874090
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    Buchvorschau

    Henningstadt - Marcus Brühl

    Impressum

    »Für Franz, einen der ersten Kenner. Viel Spaß bei der Lektüre der abschließenden Fassung wünscht Marcus. Berlin, im September 2001«

    Zur Wiederveröffentlichung von

    Marcus Brühls Henningstadt

    Kennengelernt habe ich Marcus Brühl im Herbst 1998, ein Jahr nach Erscheinen seines ersten Buches Lebensansichten einer gepflegten Tunte: ein geistreicher, göttlicher komischer ›praktischer Ratgeber‹, den er unter dem Namen Penelope im Querverlag veröffentlicht hatte. Bei einer Veranstaltung zum Buch bei Prinz Eisenherz wird’s wohl gewesen sein – Marcus war wirklich wie Penelope im Buch: witzig, intelligent, schlagfertig und attraktiv!

    Drei Jahre später erschien im Männerschwarm Verlag Henningstadt und ich bekam meine obige Widmung. Und jetzt hier, noch mal zehn Jahre später, versuche ich mir und dem geneigten Leser wiederzugeben, wie es zu diesem Buch kam und weshalb ich damals wie heute so begeistert von ihm bin.

    Etwa ein halbes Jahr nach unserem Kennenlernen bekam ich elektronische Post von Marcus. Ich, der Buchhändler, erhielt ein Manuskript mit der Bitte um meine ehrliche Meinung und Einschätzung. Ich las die fast vierhundert ausgedruckten Seiten Papier. Und obwohl ich von dem, was ich las, durchaus angetan war, stellte sich mir ein Problem: Wie sagt man einem, den man mag, seine kritische Meinung? Dass man die Idee zwar interessant, aber so nicht druckreif findet? Ich habe ihm einen ›harten‹ und ›bösen‹ Lektor empfohlen: Joachim Bartholomae vom Männerschwarm Verlag. Marcus hat sich darauf eingelassen. Der Lektor auch. Und tatsächlich: die beiden haben lange und, vermute ich mal, hart miteinander gearbeitet. Herausgekommen ist der bis heute beste deutsche Coming-out-Roman. Leicht und direkt und voller Ironie und Wortwitz erzählt er, was andern so oft zum ewigen Drama wird. Die ersten Schritte in ein selbstbewusstes schwules Leben.

    Ich freue mich sehr darüber, dass es diesen schönen Roman jetzt wieder zu lesen gibt. Und ich wünsche mir ebenso sehr, dass sein Autor, der zurzeit des Deutschen nicht mächtigen Menschen unsere Sprache beibringt, uns bald wieder mit seiner Sprache, seiner Fantasie und neuen Geschichten und Gedichten zu begeistern sucht. Ich mag ihn immer noch. Und seine Art zu schreiben sowieso.

    Franz X. Brandmeier

    Ich danke meinen Freunden!

    Alle Personen, Begebenheiten und die Stadt

    entsprechen so exakt der Realität.

    I

    Ich gewöhn mich ins Glück,

    ich sage, es ist ganz leicht

    Johannes Bobrowski

    0

    Tete bürstet ihre Augenbrauen und fixiert sie mit Haarspray. Neben der Mona Lisa, die auf dem Spiegel klebt, ist noch genügend Platz für das eigene Gesicht. Tete betrachtet nachdenklich ihr Spiegelbild. Ein starkes Kinn, eine sanfte Augenpartie, ein paar Falten, der Mund wie der ihrer Mutter. Sie fragt sich, wem sie da in die Augen sieht und schmiert Gel in ihre Kurzhaarfrisur, zupft ein bisschen daran herum. Dann fragt sie das Bild. Sie, die Taucherin war in der Tiefsee, die in entlegensten Fernen mit Händlern Verkehr hatte, Mona Lisa, muss schließlich wissen, ob man gut frisiert ist oder nicht: Und sie lächelt. Tete lächelt zurück. »Vielen Dank, Frau Gioconda!«

    Tete wirft sich die Winterperücke auf den Kopf und geht auf die Straße. Hauptsache gut frisiert! Es ist dunkel und natürlich ist es kalt. Es ist kalt, weil Februar ist, nicht weil das Schicksal sie hasst. Rote Schaufensterbeleuchtung taucht die Straße in ein unwirkliches Licht. Schneeflocken säuseln zu Boden, bleiben aber nicht liegen. Straße und Bürgersteig glänzen nass und rot. Kein Auto ist unterwegs, kein Fußgänger zu sehen. Es ist Nacht. Wind weht ihr ins Gesicht und klappt die Herrenwinker der Perücke nach außen. Der Sturm heult sie an. Tete kämpft sich durch das Wetter.

    Tete ist eine mächtige Zauberin. Wenn sie befiehlt, bewaffnen sich die Dämonen der Hölle, um ihr zu gehorchen. Davon macht sie allerdings selten Gebrauch. Eigentlich lebt sie unerkannt. Eigentlich kann sie nicht mal einen Brief zum Briefkasten bringen, ohne dass er nass wird und die Adresse verschmiert. Sie ärgert sich.

    Mit einem Stoßgebet wirft sie den Brief ein: Er möge nützen! Hoffentlich bringt er was! Hoffentlich kommt er an! Zu Hause tritt sie vor den Spiegel. Nichts hat sich verändert.

    Vielleicht muss sie warten, bis der Brief ankommt.

    Vielleicht ändert sich die Vergangenheit nicht.

    Nicht durch einen Brief.

    Nicht durch einen faulen Zauber.

    Tete kratzt sich am Kopf. Die Perücke verrutscht. Tete nimmt sie und wirft sie auf ihren Ständer. Dann stellt sie sich vor den Spiegel und wartet, bis der Brief ankommt. Man weiß nicht, wie lange so ein Brief braucht.

    Drei Tage und drei Nächte bleibt sie vor dem Spiegel stehen. Dann hat sie einen Bart, aber sonst ist nichts passiert. Jedenfalls kann man es nicht sehen.

    1

    Schritte schreien im Hausflur. Henning flüchtet von der Party. Manchmal fremdelt er. Dann will er keinen sehen, kann keinen mehr riechen, und alles liegt hinter einer fetten Milchglasscheibe, die ihn vom Rest der Welt trennt. Alles scheint unwirklich. Er ist mit Isa auf Eriks Party. Alle sind da: Die gesamte Stufe tanzt und säuft, dazu die Stadtjugend. Es ist eine Campari-Orange-Party. Man trinkt roten Orangensaft und wundert sich, dass man schon torkelt.

    Rote Lampen und Lämpchen zeigen die Dunkelheit eher her, als dass sie sie erhellen. Im Wohnzimmer steht ein Stroboskop, das die Bewegungen zerhackt. Musik. Natürlich gibt es Musik. Sie ist so, laut, dass man schreien müsste, wenn man was sagen wollte.

    Henning stiehlt sich davon, er läuft durch die Straßen. Es ist eine laue Nacht im frühen Sommer. Er geht schnell, er will schwitzen. Nach kurzem Zögern schlägt er den Weg zum Friedhof ein, der fast mehr ein Park ist. Hier wird ihm zu so später Stunde niemand begegnen. Er dreht seine Runde und setzt sich neben den Brunnen für Gießwasser. Es ist dunkel. Die Toten liegen gut verpackt unter der Erde und lassen die Lebenden unbehelligt. Henning gibt sich Mühe, keine Angst zu haben. Schließlich ist es normal, zu sterben und zu vermodern. Das Leben ist eine große Chance oder viele tausend kleine Chancen, je nachdem, wie man das sieht, und dann ist es vorbei. Das Bewusstsein erlischt mangels Versorgung durch einen Körper. Henning lehnt sich zurück, lächelt und denkt entspannt an die Freuden des Todes, der so ruhig ist, dass man gar nicht merkt, dass man tot ist. Das Gebüsch neben ihm bewegt sich, es raschelt, knackt und knistert. Henning zuckt erschrocken zusammen. Eine menschliche Gestalt kommt daraus hervor. Sie nähert sich langsam und bedrohlich.

    »Ich wollte dich nicht erschrecken, tschuldige!«, sagt der Untote und geht weiter.

    Anstatt mal nachzuschauen, ob da noch wer im Gebüsch ist, lehnt Henning sich wieder zurück. Er lauscht dem Plätschern des Brunnenwassers, das irgendwie lauter geworden ist. Dieser Brunnen hört mit. Er verteilt die Gerüchte der Stadt in alle Haushalte, die Wasseranschluss haben.

    Als er zu Ende gepisst hat, packt Christian seinen Schwanz ein und verlässt das Gelände.

    Das Plätschern des Brunnens wird leiser. Henning dreht seinen Kopf verwundert zum Brunnen. Dann raschelt es auf der anderen Seite, und eine weitere Gestalt kommt aus dem Gebüsch. Sie starrt ihn intensiv an und verschwindet grußlos.

    Henning begutachtet die Stelle, aus der diese neuen Menschen die Welt betreten. Er schlägt sich durch ein paar Sträucher und steht auf einer kleinen Lichtung. Henning verschränkt die Arme und beschließt, der Angst zu trotzen. Die Leichen liegen hier nicht auf dem Boden, sondern darunter. Er schilt sich einen dummen Jungen.

    Er nimmt eine dunkle Gestalt wahr, die irgendwie auf dem Boden hockt. Seine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und er merkt, dass die Gestalt aus zwei Leuten besteht. Vorsichtig geht er zwei Schritte näher ran. Zweige und Laub machen leise Geräusche, als er drauf tritt, aber die Gestalten merken es nicht oder lassen sich nicht stören.

    Der eine fängt an zu stöhnen. Henning erkennt eine wichsende Hand. Und es fällt ihm wie Schuppen von den Augen. Der Friedhof! Hier sind die Schwulen und treiben Unzucht! Panik steigt in ihm auf. Blut füllt seinen Schwanz. Sein Herz klopft. Er geht näher ran.

    Der eine liegt rücklings auf dem Boden und wichst den Schwanz des anderen, der zwischen seinen Beinen kniet, den linken Oberschenkel gegen die Eier des anderen gestemmt. Kein Zweifel, zwei Männer. Henning merkt, dass er seinen Schwanz unter der Hose in der Hand hält und langsam wichst. Fasziniert beobachtet er das Treiben. Leider kommen die beiden bald und beenden die geile Show. Henning tritt schnell ein paar Schritte zurück, um nicht gesehen zu werden. Die Schwuchteln stehen auf und flüstern, ziehen sich die Hosen hoch und die T-Shirts runter. Einer lacht. Sie machen sich in unterschiedliche Richtungen auf den Heimweg. Der größere von beiden kommt auf Henning zu. »Tschüs, Kleiner!«, sagt er im Vorübergehen zu Henning, bevor er durchs Gebüsch verschwindet. Henning wartet eine Weile und geht hinterher.

    Man würde vielleicht denken, dass Henning jetzt viel denkt. Macht er aber nicht. Er ist müde, betrunken und geil. Er geht zurück ins Gebüsch und holt sich einen runter. Außer ihm ist niemand da. Henning steht gut im Saft, wie viele junge Männer seines Alters. Es tut ihm gut, das überflüssige Sperma abzuschlagen. Erleichtert geht er zurück zur Fete.

    Auf der Tanzfläche ist es genau so dunkel wie im Gebüsch. Er tanzt mit Isa, die ihr Becken an seins drängt. Ihre Lippen kommen aufeinander zu. Die Musik will sie überreden. Sie küssen sich. Henning spürt Isas warme Lippen. Er saugt sich an ihr fest. Die Wichser aus dem Park surfen in seinen Gedanken, tauchen auf und ab.

    Erik kommt mit drei Campari in der Hand auf sie zu. »Genug geknutscht!«, sagt er rau und reicht ihnen die Gläser. Isa lacht. Henning nimmt und trinkt. »Wo ist Steffi?«, fragt er. Steffi ist Eriks heutiges Projekt.

    »Sie hat gekniffen«, sagt Erik mit einem Anflug von Verachtung über die Feigheit der jungen Dame. Das Projekt ist gestorben.

    »Andere Töchter haben auch schöne Mütter!«, meint Henning. Erik sieht ihn an und zeigt ihm einen Vogel. Dafür boxt Henning ihn gegen die Schulter. Campari schwappt über. Isa kann nicht widerstehen und leckt Eriks Hand ab. Henning fasst Isa um die Hüfte und führt sie weg. Erik kommt mit. »Isa ist ein Luder«, raunt er Henning zu. »Was will sie von Andreas? Sie ist deine Freundin! Nimm du sie dir!«

    »Sie liebt ihn halt«, sagt Henning.

    »Ach, Quatsch!«, kotzt Erik. Dann kommt ein Song, den Erik für einen wahren Hit hält, und er wankt in Richtung Tanzfläche. Isas Campari ist alle. Henning holt Nachschub.

    Die improvisierte Theke ist hart umlagert. Hennings Schwanz wird seitlich gegen Lars’ Po gedrückt, weil Meike und Nicole besoffen sind und sich den Weg zum Alk durch Drängen erpressen wollen. Angeblich ersticken sie auch ihre Liebhaber nach dem Verkehr mit ihren Brüsten. Das ist der Stufentratsch. Wahrscheinlich stimmt es nicht.

    Sein Schwanz wird hart an Lars’ Po. Lars reibt sich an Henning. Das kann aber auch nur Einbildung sein. Mit zwei Bierflaschen in der Hand dreht er sich um und grinst Henning an. Henning grinst verlegen zurück und bestellt die Campari.

    2

    Henning, mein Lieber!

    Ich werde dir jetzt Deine Geschichte erzählen. Ich habe schon begonnen.

    Ich erzähle dir die Geschichte eines jungen Mannes, der feststellen muss, dass alles ganz anders ist als zu der Zeit, als es noch keinen Sex gab. Ich erzähle einen siebzehnjährigen, glatten, kraftvollen Körper, angespannt, um allem ins Gesicht zu springen, das sich ihm entgegenstellt. Aber nichts Festes stellt sich gegen ihn, der Körper verharrt in der Anspannung vor dem Sprung. Die Welt ist eine klebrige, zähe Masse.

    Man kann sie nicht bespringen, sie gibt keinen Widerstand. Das ist die Crux: Die berühmte See von Plagen ist unangreifbar – zwischen deinen Fingern zerrinnt sie dir. Womöglich auch noch glitzernd.

    Ich schicke dir deine Geschichte Stück für Stück. Du warst nur kurz hier bei mir in Berlin. In meinem kleinen Turmzimmer, dem Tete-Palast, wenn man von einer Wohnung im ersten Stock überhaupt als Turmzimmer sprechen kann. Mit Steffen, dem dummen Jungen.

    Natürlich muss ich oft den Kaffeesatz befragen, wenn ich nicht weiter weiß – und nicht schwindeln will. Da ich aber viel Kaffee trinke, ist das kein Problem.

    Weißt du, Henning, manchmal habe ich das Gefühl, der Kaffeesatz ist so viel wahrhaftiger als wir alle, weil er so dunkel ist. Aber lassen wir das – glaub einer alten Tunte, mein Lieber!

    Ich schreibe dir deine Geschichte auf, weil jedes Wort, das ich über dich schreibe, mir sagt, wie alles war, wie alles bei mir war. Ich habe keine Geschichte. Ich habe alles vergessen. – Wahrscheinlich ist Lidschatten schlecht fürs Gedächtnis.

    Bevor wir wieder in die wirkliche Welt eintauchen, muss ich dir wie versprochen noch verraten, wie alt ich wirklich bin. Damals an der Spree sagte ich neunundzwanzig. In echt bin ich aber höchstens neunundzwanzig.

    3

    Schritte murmeln im Hausflur, die Treppe hoch bis in den vierten Stock. »Kannst du mir mal den Schlüssel geben?«, fragt Isabell.

    »Wieso denn?«, fragt Henning zurück. Sprechen und atmen ist zu viel auf einmal. Henning muss sich an die Wand lehnen und fixiert Isabell. Sie ist groß und schlank. Sie ist Hennings Freundin, seine beste Freundin seit immer. Immer heißt, seit ungefähr sechs Jahren. Isabell hat hellbraune Haare und ist schön, wie Frauen in dem Alter schön sind. Frauen in Isabells Alter sind siebzehn.

    Henning sieht Isabell an und freut sich über sie. Isabell steht da mit leicht gespreizten Beinen und aufmerksamen Augen und wartet offensichtlich auf irgendetwas. »Den Schlüssel!«

    Hennings Hand wühlt in der Jackentasche und fischt den Schlüssel raus. Henning sieht seiner Hand zu, die Isabell den Schlüssel gibt.

    Isabell nimmt ihn und macht eine rasend schnelle Bewegung. Sie stößt sich von der Wand ab und fliegt zu Hennings Wohnungstür.

    Isabell dreht kurz den Kopf und grinst in Hennings Richtung. Henning greift sich unwillkürlich in den Schritt und bestreitet lallend, dass er betrunken ist. Isabell sagt: »Gut, komm rein!« Henning macht Isabells Bewegung nach. Er stößt sich von der Wand ab, taumelt und wacht in seinem Bett auf.

    Er sieht die beige Decke über sich. Der Raum ist halbdunkel, nur die Schreibtischlampe brennt. Er hört Isabells Stimme. Isabell fragt, wie es ihm geht. Schlecht, denkt Henning und sagt nichts. »Henning!« Das war lauter als eben, denkt Henning. »Gut«, murmelt er. Die Decke dreht sich halb um sich selbst. »Schlecht. Mir geht’s schlecht«, wimmert Henning. Er wälzt sich auf die Seite, sieht kurz in Isabells erschrockenes Gesicht, holt noch einmal Luft und übergibt sich über den Bettrand. Krämpfe zucken durch seinen Oberkörper. Er hat Angst zu ersticken. Drei Mal laufen die Würgekrämpfe durch seinen Körper und schütteln ihn durch, dann entspannen die Muskeln und er keucht, seine Haare fallen bis kurz über das Erbrochene. Henning macht schnell die Augen zu. Es stinkt. Über dem Gestank liegt eine leise, köstliche Note Orangenduft.

    »Na, Gott sei Dank!«, nuschelt Isabell und geht weg. Geh nicht weg!, denkt Henning, und eine Träne fällt in die Kotze. Er merkt, dass sein Denkapparat ziemlich langsam läuft. Es freut ihn. Wozu betrinkt man sich sonst?, denkt er und irgendwie macht ihn dieser Gedanke zufrieden. Er findet ihn entschlossen und klar, geradezu nobel in seiner Klarheit. Es kommt ihm so vor, als sei diese Klarheit ein Zeichen geistigen Edelmuts. Der Alkohol, der noch eben sein Koordinationsvermögen so sehr beeinträchtigt hat, dass er stürzte, verleiht ihm nun die Flügel, mit denen er sich zur Welterkenntnis aufschwingt. Die Klarheit des Herrn umstrahlt seinen Geist. Morgen wird es wieder besser gehen.

    Henning liebt Isabell; dieser Gedanke, groß und irgendwie in derselben Farbe wie Hennings Gemütszustand: dunkel – mit diesem finsteren Gedanken wiegt er sich in den Schlaf, der mit der Schwere eines Whiskey-Fasses auf ihn fällt. Sein Gesicht wird schlaff. Isabell spült den Kotzeimer aus und räumt alles weg. Sie legt sich angezogen neben Henning. Sie greift seine Hand und dreht sich von ihm weg. Ihre Gedanken zucken zu Andreas, der ihr Freund ist. Jedenfalls noch ihr Freund ist. Um geil zu werden, ist sie zu müde. Sie nimmt den Rhythmus seiner Atemzüge auf und schläft ein.

    4

    Henning und Isabell sitzen in der Küche und frühstücken. Sie isst ein Nutella-Brötchen, er ein Brot mit Marmelade.

    »Kaffee ist ein ziemlich ekelhaftes Getränk.« Isabell verzieht das Gesicht. »Erst riecht es wunderbar und dann schmeckt es so fürchterlich.«

    »Ich kann auch Tee machen.«

    »Nee, lass ma.« Isabell ist geistesabwesend. »Kümmer dich lieber um dich selbst.«

    Henning schluckt Kaffee.

    »Wie lange sind deine Eltern denn noch weg?«, will sie wissen.

    »Noch zwei Wochen.«

    »Zwei Wochen! Gut. Da hast du ja noch was Zeit für dich.« Das Brötchen ist aufgegessen und Isabell nimmt sich eine Scheibe Brot. »Das ist ja noch ’ne Weile hin. – Gehst du zur Schule?«

    »Ja, mal sehn. Lust hab ich keine.«

    Das versteht niemand besser als Isabell.

    »Im Grunde bist du ja auch wirklich krank«, sagt sie, steht auf und schaltet in Hennings Zimmer das Radio ein. Henning macht ein leidendes Gesicht.

    Isabell unterdrückt ein schadenfrohes Grinsen, steht aber ohne Kommentar auf und knipst das Radio wieder aus. Henning bedankt sich und lächelt sie an. Sie knuddelt den sitzenden Henning von hinten. Die beiden fühlen sich wohl. Henning vergisst seinen Kater. Isabell reckt sich und streckt die Beine lang unter den Tisch.

    »Kannst du dich eigentlich noch an alles erinnern von gestern?«, fängt Isabell die Unterhaltung wieder an.

    »Ich glaub schon«, Henning hält einen Moment inne. »Hab ich dir was Wichtiges gesagt?«, fragt Henning.

    »Was denn?«, will Isabell wissen.

    »Was sehr Wichtiges?«

    »Nee – was denn?«

    »Ach nichts. – Es ist nur –«

    Isabell legt das Messer auf ihr Brettchen. Sie hat keine Ahnung, was jetzt kommt. Henning sieht seine Tasse intensiv an und muss sich räuspern. »Also, ich liebe dich, Isabell.« Jetzt sieht er sie an.

    Isabell runzelt die Stirn, legt die geöffnete Hand auf den Tisch, lächelt und sieht Henning an. »Das ist schön.« Henning legt seine Hand auf Isabells Hand. Er macht die Augen zu, seufzt und entspannt sich. Alles ist klar. Er liebt Isabell und sie hat nichts dagegen und außerdem hat sie einen Freund. Der heißt Andreas. Alles ist in Ordnung.

    »Ich bin mit Andreas zusammen.« Isabells Stimme klingt ein bisschen besorgt.

    »Ich weiß«, sagt Henning.

    »Aber ich weiß überhaupt nicht, was das bedeutet«, fügt sie hinzu.

    »Was soll es bedeuten?«

    »Na ja, aber es muss doch etwas bedeuten!«, sagt Isabell.

    »Job«, sagt Henning und grinst. Isa grinst zurück. Henning sieht sie an. Er kennt alle Züge in diesem Gesicht und hat verfolgt, wie sie sich mehr und mehr ausgeprägt haben. Er kennt ihre Augen ganz genau. Die sind ein mattes Blau mit einem unregelmäßigen goldfarbenen Strahlenkranz um die Pupillen. Im linken mehr Gold.

    »Wie lange bist du noch mal mit Andreas zusammen?«

    »Acht Monate.«

    »Und liebst du ihn immer noch?«

    »Na ja, irgendwie schon.«

    »Wir können ja zusammen sein, wenn du nicht mehr mit Andreas zusammen bist!«

    »Ja, machen wir«, sagt Isabell und drückt irritiert Hennings Hand. Die flammende Leidenschaft ist das ja nicht gerade, denkt sie. Aber sie kennen sich ja nun auch seit so langen Jahren. Fast die ganze Zeit, an die sie sich erinnern kann. Praktisch sind sie zusammen. Sie sind schon oft für ein Paar gehalten worden. Henning ist ihr so vertraut wie sonst keiner auf der Welt. Zusammen sein? Sie sind zusammen. Hier am Küchentisch. Er muss kein Duell, nicht mal eine Szene mit Andreas machen. Er ist sich einfach sicher. Deshalb hat er Zeit. Ihr ist wohlig warm.

    »Und, soll ich noch zur Schule?« Die Frage ist mit der Zeit zu einem Ritus geworden.

    »Nee, bleib doch noch hier und dann gehst du nach Hause.«

    »Und mein schlechtes Gewissen?«

    »Das vergisst du am besten! – Wir können ja Kognak zum Kaffee nehmen.«

    »Mann, Henning! Es ist helllichter Vormittag!«

    »Na und!«

    »Nee, ich will nicht saufen!«

    »Na, gut!« Henning lässt Isabells Hand los. »In zwei Wochen kommen meine Eltern wieder.«

    »Ich weiß!«

    Henning steht auf und stützt sich am Küchentisch ab. »Komm mit!«, sagt Henning.

    »Wohin?« Sie steht auf.

    »Ins Bett will ich mit dir!«

    Isabell zögert. »Was meinst du?«

    »Was ich sage.« Hinter ihm her geht sie in sein Zimmer und macht die Tür zu. Durchs Fenster kann ihnen niemand zusehen. »Wir sind allein«, stellt sie fest. Es klingt unentschieden.

    Henning sagt »Ja«, zieht Pullover und T-Shirt aus. Isabell setzt sich auf den Schreibtischstuhl und wartet, bis Henning im

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