Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Schwuchteln
Schwuchteln
Schwuchteln
eBook483 Seiten7 Stunden

Schwuchteln

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Fred Lemish wird in wenigen Tagen vierzig, und inmitten einer Community, für die es nur Sex, Drogen und Ekstase gibt, sehnt er sich nach der großen Liebe. Aber Kramer denkt gar nicht daran, seinen Helden an die Hand zu nehmen, um ihn durch alle Stürme sicher in den Hafen der Geborgenheit segeln zu lassen. Rasant und radikal, zynisch und zärtlich, wütend und unglaublich witzig führt er uns durch diese fantastische und unglaublich temporeiche Geschichte. Es gibt nur wenige Bücher in der modernen schwulen Literatur, die zu lesen ein absolutes Muss ist. "Schwuchteln" ist ohne Zweifel eines davon.
SpracheDeutsch
HerausgeberBruno-Books
Erscheinungsdatum1. Juni 2012
ISBN9783867874076
Schwuchteln

Ähnlich wie Schwuchteln

Titel in dieser Serie (3)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Schwuchteln

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Schwuchteln - Larry Kramer

    Table of Contents

    Titelei

    Vorwort

    Widmung

    Schwuchteln

    Über den Autor

    Impressum

    »And I’m not a faggot!«

    Zu Larry Kramers Faggots (1978)

    Es gibt wenige Romane, an deren Lektüre ich mich Jahrzehnte später noch so gut erinnern kann wie an Larry Kramers Faggots. Ich sah das Buch in einem Laden in London (in den späten Achtzigerjahren), in dessen Regalen meist nur Aids- oder Coming-out-Romane zu finden waren, mit denen ich wenig anfangen konnte. Der Titel Faggots suggerierte, dass es bei Kramer vielleicht um etwas anderes gehen könnte, etwas, das darüber hinauszielen würde. Schon der erste Satz – »There are 2,556,596 faggots in the New York City area« – faszinierte mich. Und spätestens beim folgenden Absatz fing ich an zu schmunzeln und wollte mehr wissen: »There are now more faggots in the New York City area than Jews. […] The straight and narrow, so beloved by our founding fathers and all fathers thereafter, is now obviously and irrevocably bent. What is God trying to tell us?« Genau. Was wollte Gott mir sagen? Mir, dem katholischen Jungen, dem seine Eltern erklärt hatten, dass Homosexualität eine Todsünde sei, und dass er bitte in eine andere Stadt ziehen solle, damit sie nicht mitbekommen müssten, wie er sie auslebt? Das war der Startschuss für meinen Umzug nach London (für New York hatte mein Geld leider nicht gereicht).

    Die Lektüre von Kramers Buch war auch deshalb so einprägsam, weil ich weder vor Faggots noch danach je eins gelesen habe, bei dessen Lektüre ich eine Dauererektion hatte. Kramers Trick ist es, die Beschreibung des schwulen Alltags in New York City sexuell so aufzuladen, dass sich viele Abschnitte wie grandioser Porno lesen, aber gleichzeitig jede Menge Tiefgang besitzen und die Charaktere greifbarer machen, d.h. der Sex dient dazu, etwas über die Figuren zu sagen. Dass er gleichzeitig unterhält und erregt, ist das Erfolgsgeheimnis von Kramers Erzählstil. Außerdem ist der Autor unglaublich witzig. Man kann das Buch auch als gigantische Gesellschaftssatire lesen, in der die Hauptpersonen fortwährend in den aberwitzigsten Situationen landen und unverhofft Bekannte in Darkrooms treffen, die sie dort lieber nicht sehen wollen.

    Wirklich ergreifend wird Kramer, wo er ernste Töne anschlägt. Denn seine Haupthandlungsstrang, der vom Ich-Erzähler Fred Lemish und seiner hoffnungslosen Liebe zum hedonistischen Dinky, endet mit der Erkenntnis, dass aus der einseitigen Beziehung nichts werden kann. Mehr noch: Der Ich-Erzähler kommt zu dem Schluss, dass er das Leben, für das Dinky steht – das einer typischen New Yorker ›Schwuchtel‹ – selbst nicht leben möchte. »No, it’s time to just be. […] I’m not gay. I’m not a fairy. I’m not a fruit. I’m not queer. A little crazy maybe. And I’m not a faggot. I’m a Homosexual Man. I’m Me. Pretty Classy.« Amen!

    In einer Zeit meines Lebens, in der ich selbst noch meinen Platz in der Welt suchte, machte dieses Credo Kramers auf mich tiefen Eindruck. Und begleitete mich noch Jahre danach. Bis heute eigentlich.

    Bei der Erstlektüre kam mir das New York, das Kramer beschreibt, wie ein surreales Zauberland vor. Mir war anfangs nicht bewusst, dass er ein ziemlich exaktes Abbild des wirklichen Lebens in New York in den Siebzigern zeichnete – ein Leben, das es so schon in den späten Achtzigern (als ich Faggots las) nicht mehr gab. Aids hatte dem wilden Treiben auf den Docks, auf Fire Island und auf den Privatpartys ein Ende bereitet, von dem bei Kramer niemand etwas ahnen konnte – Faggots ist erstmals 1978 veröffentlicht worden.

    Wenn ich danach irgendwo etwas über das New York der Siebziger las oder hörte, liefen Passagen aus Kramers Buch in meinem Kopf ab: bunt und schrill und over the top. Bis ich bei der Recherche zu meinem eigenen Buch Porn: From Andy Warhol to X-Tube und dem darin enthaltenen Kapitel über eben diese Dekade merkte, dass alles, was Kramer beschreibt, keine Übertreibung war, sondern eine genaue Darstellung des Ist-Zustands. New York und andere Städte wie San Francisco und Berlin waren damals ein schwules Sex-Utopia. Ein Zustand, von dem Kramers Hauptfigur am Ende des Romans sagt, dass es so nicht weitergehen kann, weil es die Menschen kaputt mache. Fred Lemish sagt sich davon los, indem er sich auf der letzten Seite des Romans endgültig von Dinky trennt. Mit den memorablen Worten: »There goes Dinky. Handsome Dinky. Such Potenzial Dinky. […] … yes it still hurts. […] … yes I’m still scared … [….] Many many many millions who wish to welcome The Summer of Our Lives. Two other discos opened last night. ContreTemps closed. Heavenly Garage looks to be a winner. I’m 40. Happy Birthday Me.«

    Inzwischen bin ich selbst 40 geworden. Und Kramers Epiphanien aus Faggots kommen mir öfter in den Sinn, besonders in kritischen Lebenssituationen. Seine Worte begleiten mich seit Jahren wie ein Kompass. Und dass ich als Chefredakteur von MÄNNER einmal ein Interview mit Kramer anlässlich des Broadway-Revivals seines berühmten Aids-Dramas The Normal Heart führen würde (seinem zweiten Meisterwerk, ein Jahrzehnt nach Faggots geschrieben), hätte ich mir als 22-Jähriger damals im Buchladen von London auch nicht träumen lassen. We’ve come a long way, Faggots and I, könnte man sagen. Sogar meine Eltern stufen Homosexualität inzwischen nicht mehr als Todsünde ein, und ich muss auch nicht mehr in London leben, um fern von ihnen schwul sein zu können.

    Durch Kramer wird Geschichte lebendig. Der Autor, mittlerweile 76 Jahre alt, steht immer noch bereitwillig Rede und Antwort. Je mehr Zeit vergeht, die zwischen Heute und der Handlung von Faggots liegt, desto aufregender wird das Buch. Denn das »Goldene Zeitalter der Promiskuität« – in all seiner Glorie, Dekadenz und Beschränktheit – hat niemand so unterhaltsam und intelligent beschrieben wie Larry Kramer. Deswegen wird Faggots auch immer ein Klassiker für all diejenigen bleiben, die wissen wollen, wie’s damals wirklich war. Und wie es ist, sich als Schwuler zu emanzipieren und zu sich selbst zu finden. Egal, ob man nun über die Siebziger spricht, oder über das Heute.

    Kevin Clarke

    Dieses Buch ist für:

    Arthur und Alice Kramer,

    William H. Gillespie,

    und Sam Klagsbrun.

    Und für David – »unser Buch«

    … die Alten wähnten die tiefen Emotionen in den Eingeweiden.

    – Evelyn Waugh, Mit Glanz und Gloria

    Es gibt 2.556.596 Schwuchteln im Großraum New York City.

    Die meisten von ihnen, 983.919, leben in Manhattan. 189.991 leben in Queens oder gleich auf der anderen Seite des Flusses. In Brooklyn leben 181.236 und 180.009 in der Bronx. 2.469 leben auf Staten Island, um der alten Theorie Rechnung zu tragen, dass Schwuchteln nicht gerne reisen, beziehungsweise ungern auf kleinen Inseln leben, je nachdem, welche alte Theorie Sie gehört haben und/oder welche Sie gerne bestätigt wissen wollen.

    In den Bezirken Westchester und Dutchess, den kleinen Teil von New Jersey, der eigentlich New Yorker Vorstadt ist, dazugenommen, gibt es in etwa 297.852, wobei die Dunkelziffer geringfügig höher liegen mag.

    Long Island, der ganze Bereich hinter Queens also, zählt mindestens 211.910. (Bedenken Sie: Der Bereich erstreckt sich bis nach Montauk, ganz im Osten.)

    In dem Randgebiet im Osten, an der Grenze zu Connecticut (nicht unbedingt von Belang zwar, so wenig wie die Vorstädte von New Jersey oder New York, aber Sie können ebenso gut vom kompletten Umfang der Statistik profitieren, da sie nun schon so akribisch erstellt wurde), zu dem das stark befallene Gebiet rund um Danbury gehört, gibt es ebenfalls etwa 211.910, also eine statistische Schwester von Long Island, ganz wie man es annehmen möchte, da die beiden Bezirke sich schließlich recht ähnlich sind.

    Es gibt im Großraum New York City heute mehr Schwuchteln als Juden. In den gesamten Vereinigten Staaten gibt es mittlerweile mehr Schwuchteln als all die Cohens und Levi’s und Greenbaums zusammengezählt. (Nur eine Zusatzinformation, nicht von sonderlicher Relevanz, aber gleichwohl ein Menetekel.)

    Das Aufrechte und Gradlinige, so wertgeschätzt von unseren Gründervätern und all den Vätern, die folgten, ist nun offensichtlich und unwiderruflich geknickt worden. Was versucht Gott uns zu sagen …?

    Sieben Discos werden an diesem Ferienwochenende ihre Tore öffnen. Auch wenn der premier palais de dance, das Capriccio von Billy Boner, heute in die Sommerpause geht, damit Billy den Ice Palace, seinen Zweitbetrieb in Cherry Grove, aufmachen kann, bleibt seine schärfste Konkurrenz, das Balalaika, geführt von dem unzertrennlichen Trio Patty, Maxine und Laverne, geöffnet, um die Heißwettergetriebenen an den Wochenenden abzufangen, an denen sie es nicht raus nach Fire Island schaffen.

    Jeder fragt sich bang, welcher der neuen Läden wohl als Erstes untergehen wird, denn ungeachtet der oben genannten vitalen Statistik hat man Angst, dass es nicht genug Schuppen gibt, die man abklappern könnte.

    Samstagabend öffnet die Toilet Bowl. Das soll allerdings mehr sein als nur eine Disco.

    Später würde man sich an diesen Sommer als den Falschen Sommer erinnern. Alles war zu schnell aufgeblüht. Ende Mai war es schon so heiß wie gewöhnlich erst am Unabhängigkeitstag, Anfang Juli. Zu viel, zu früh. Alle irrten sie durch die Stadt wie durchs Nimmerland. Ins Capriccio? Ins Badehaus? Ins Balalaika? Das Pits? Die Toilet Bowl? Nach Fire Island? Alle waren völlig bedient. Das Wetter war auch keine Hilfe – die drückende Sommersonne stand unbeirrbar über der Stadt –, es taugte nicht mehr dazu, Ziel und Inhalt der Freizeitaktivitäten zu diktieren, wie sonst, wenn kaltes Wetter Tanzen und sehr kaltes Wetter Fernsehen, Kiffen und Schlafen bedeutete.

    Und es war doch gerade erst Mai.

    … gibt es überhaupt einen Gott, der etwas Derartiges verstehen würde:

    »Baby, ich will, dass du mich von oben bis unten vollpisst!«

    Fred Lemish hatte niemals zuvor auf irgendetwas uriniert, abgesehen vielleicht von kleineren Rasenflächen, mitten in der Nacht, wenn er betrunken war und niemand zusah.

    »Oder lass mich dich vollpissen!«

    Das hätte Fred Lemish nun niemals gestattet.

    Fred stand hilflos da. Warum erstarrte er in einem Moment, der Reaktion erforderte? Der Typ sah nicht schlecht aus. Sollte Fred reingehen oder weglaufen?

    »Oder fick meinen Freund und ich sauge deine Soße aus seinem Arschloch.«

    Diesen Wunsch konnte Fred als ›Felching‹ einordnen, er hatte davon gehört. Hatte er Interesse daran, sich auf so etwas einzulassen?

    »Oder ich fessel dich. Oder du fesselst uns. Oder einen von uns. Oder was dein Schwanz sonst so begehrt.«

    Der Mann bot zweifellos eine breite Auswahl an Möglichkeiten. Sollte Fred es wagen? Sollte Fred es besser bleiben lassen?

    »Stehst du auf Scheiße?«

    Fred sollte es besser bleiben lassen.

    Warum zögerte er überhaupt, fragte Fred sich, statt einfach weiterzugehen? Weil er rattig war, darum, und dieser Kerl sah besser aus als all die anderen, von denen an diesem Nachmittag ohnehin nicht viele da waren, und er wollte die Sache hinter sich bringen. Deshalb. Und er hatte Dinky Adams seit drei Wochen, sechs Tagen und – er warf einen Blick auf seine Rolex Submariner, die er nie ablegte – sechzehn Stunden nicht gesehen. Auch deshalb.

    In Ordnung, dachte Fred, was will dieser Mann von mir? Oder in Anbetracht der Fülle der Vorschläge, die der Mann offeriert hatte: Was wäre Fred in der Lage, mit ihm zu tun? Pisse und Scheiße waren nichts für ihn, auch wenn ihn ersteres – der Schlag sollte ihn treffen – irgendwie reizte. Wie auch immer, Fred entschied, dass es leichtes Spiel war, er konnte beiläufig reingehen, ohne sich festzulegen, nur ein Blick, er konnte den Freund dieses Mannes ficken, der ihm, auf einem Bett liegend, seine zwei einladenden, perfekt gerundeten Arschbacken entgegenstreckte, die ihn von da unten anstarrten und freundlich grüßten.

    Dann aber war Fred wieder unentschieden, denn nun warf er einen Blick auf den ersten Typen, den Bulligen, der ihn in dieses winzige Kämmerchen gelockt hatte, und stellte fest, dass er weniger bullig als vielmehr fett war, und dass das, was mit einem Meter Abstand wie wohlgeformte Brustmuskeln (unverzichtbar!) ausgesehen hatte, sich bei halbiertem Abstand eher als ein Paar Hängetit-ten präsentierte, kleine Euter gar, jahrelang in diese unansehnliche Form gekaut und gelutscht, definitiv ein Turn-off. Dieser Mann begann nun noch dazu zu murmeln, fast schon eine Litanei zu beten, »... mein Freund ist ein guter Sklave, er ist ein guter Sklave …«, ein zusätzlicher Abtörner. Fred stand, zumindest in diesem Moment, der Sinn auch nicht nach Bondage und so stolperte unser Held weiter in die Unentschiedenheit, überlegte sich die Sache ein drittes, ein viertes und dann ein fünftes Mal und fragte sich, ob er sich wohl würde übergeben müssen, wenn der Master, wie angekündigt, hinterher die Reste verdrücken würde, indem er seine Zunge in das Rektum seines Sklaven einführen würde, um sein Sperma ›herauszufelchen‹.

    Doch hier stand Fred immer noch, den Sklaven auf dem Bett betrachtend. Er fragte sich, wie das wohl so war, ein Sklave zu sein.

    Der Sklave verharrte still und hingestreckt, den Hintern hochgestülpt, wie es sich offenkundig für einen guten Sklaven gehörte.

    »Was machst du denn so an Freitagabenden?«, fragte der Master, Freds Schwanz dabei massierend.

    »Hä? Hm, tanzen gehen, später. Letzte Party im Capriccio vor der Sommerpause.«

    »Ein gutaussehender Kerl wie du … schönen Schwanz hast du … auf dich ist bestimmt jeder scharf. Bist doch bestimmt nachher noch hier.«

    »Nö.«

    »Tanzen, hm? Du bist bestimmt ein wunderbarer Tänzer. Geile Beine hast du!« Der Master massierte Fred die geilen Beine. »Ich nenne das Tuntensport, das Tanzen. Tuntensport ist unsere Form der Leichtathletik.«

    Das brachte Fred zum Lachen.

    »Nein, ernsthaft! Tanzen ist Sport für Tunten. Darin sind wir die Besten. Und es gibt keine Gewinner oder Verlierer. Keinen Wettkampf. Kein Als-Letzter-ins-Team-gewählt-werden.« Er begann Freds Schwanz zu lutschen.

    Fred dachte sich, dass er auch dableiben konnte. Wo er schon mal hier war …

    Das Everhard Badehaus auf der West 19th Street gehörte einem Verband von Geschäftsmännern und nicht, wie ein Gerücht behauptete, der Wohltätigen Athletischen Liga der Feuerwehr – ein Gerücht, das die Betreiber offensichtlich begeistert aufrecht erhielten, sodass sich die Jungs sicher fühlten. Das Gebäude, Badehäusern überall sonst auf der Welt nicht unähnlich – ganz gleich welcher Konfession –, war groß und hässlich, mit Gewölben unten und langen Fluren oben. Es hatte, was aber niemand entsprechend würdigte, das erste beheizte Schwimmbecken in New York oder sonst wo, das in diesem Moment jedoch noch etwas zu übelriechend war für einen täglichen Gebrauch, wie eigentlich das gesamte Gebäude, auch wenn Murray, der Nachtportier, auf Anfragen hin, warum es dort immer so dreckig war, mit Zahlen und Statistiken um sich werfend behauptete, dass nach der letzten Grundreinigung die Besucherzahlen rückgängig gewesen seien.

    Diamond Drew Everard (das ›h‹ wurde erst später aus geschäftlichen Gründen hinzugefügt, als der Laden in den Swinging Sixties offenkundig schwul wurde) war ein Bierbaron gewesen, der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts einen angenehmen Platz zum Ausnüchtern gesucht hatte, also kaufte er eine alte Kirche und funktionierte sie um. Erst um 1920 wurde der Ort dann auch ein angenehmer Platz für homosexuelle Männer, wenn auch zweifellos die Anlaufpunkte damals versteckter waren als heute. (Aber: damals wie heute drei Sterne, »einen Abstecher wert«, Nationalheiligtum in jedem Guide für Schwule). In der Erbfolge wurde das Gelände zunächst weiterverkauft an Tammanys, den Piping Rock Sportverein, verschiedene Kuttenträger (sowohl klerikale als auch juristische), sogar an eine Madame und ihre Mädels, die alle nach einem ruhigen Ort, eine Gelegenheit für eine gute Investition suchten. Jetzt war also dieser Verband von Geschäftsmännern am Start – im Sattel ein gewisser William Boner –, der die Polizisten auf Streife augenscheinlich mit regelmäßigen Spenden bei Laune hielt. Gleich und Gleich gesellte sich hier, war geschützt, wenngleich von Gesetz, Landsleuten und Zeitgeist geächtet. Man blieb unbehelligt, was selbst für einen Laden, der sechs Millionen Dollar Schutzgeld in bar auf den Tresen packte, kein geringzuschätzendes Kunststück war. Mene Mene Tekel.

    Während er den Sklaven fickte, die ganze Zeit hoffend, dass der Meister nur zuschauen und nicht selbst Druck würde ablassen wollen, versuchte Fred sich an seinen Entschluss zu erinnern:

    Hatte er nicht beschlossen, über eine Reise zu schreiben, seine Entdeckungsreise in diese Welt, in der er lebte? Diese Schwuchtelwelt.

    Hatte er nicht – vor nur drei Monaten, als sie beide im Capriccio saßen, die Tanzfläche überblickend, und sich die vorbeikommenden Massen anschauten – seinem lieben Freund Gatsby (groß, blond, gutaussehend, Freds Dreifaltigkeit, Freds Robert Redford, intelligent, witzig und weise, zweifach dreifaltig, ganz der Liebhaber, den Fred sich immer erträumt hatte, abgesehen davon, dass Gatsby nicht interessiert war) aus dem Penguin Companion to Literature, European zitiert: »Der Stendhalsche Held lehnt jede Autorität ab, die seine persönliche Freiheit beeinträchtigt, und schickt sich unter Missachtung von gesundem Menschenverstand und Geschichte an, das Universum nach seinem eigenen Bild neu zu gestalten.«

    Gatsby, der seinen Namen in Princeton bekommen hatte, da er aus St. Paul, Minnesota kam und Schriftsteller sein wollte, und der nun, mit dreiundreißig, endlich damit begann, an seinem Roman zu schreiben, den er als »eine Übung in Selbstekel« bezeichnete und dessen Grundmotiv die Frage danach war, »wie zwei Kerle, die sich selbst nicht mögen, jemals jemand anderem erlauben können, sie selbst zu mögen und also für Liebe zugänglich zu sein« (obwohl er Fred darin zustimmte, dass man die Hoffnung nicht aufgeben solle), tat das geringschätzig ab: »Da haben wir’s wieder, Lemish. Du lenkst deine eigenen Emotionen, um ins Bild zu passen wie jeder andere auch. Du willst dazugehören und zu all den Partys und Disco-Eröffnungen und nach Fire Island gehen und einen Liebhaber haben, mehr als jeder andere, den ich kenne. Verschone mich mit dieser Künstler/Held-und-Außenseiter-Scheiße.«

    »Stimmt nicht. ›Entfremdung jedoch führt unseren Helden nicht aus der Gesellschaft heraus, sondern tiefer in sie hinein, denn er ist angetrieben von der Neugier, die korrupte Gesellschaft, der er sich entfremdet fühlt, bis ins letzte Detail zu kennen. Seine Opposition kaschierend, spielt er seine Rolle in den Ränkespielen seiner Zeit, mit dem versteckten Ziel, sich selbst durch die Falschheit seines Vorgehens zu beweisen, dass sich ein Graben auftut zwischen ihm und seinen Zeitgenossen.‹ Die Geschichte meines gegenwärtigen Lebens.«

    »Nebelschleier, Lemish! Das sind wieder deine Nebelschleier. Du willst nichts außer Liebe. Und wenn du so dringend Liebe willst, warum hattest du sie dann noch nie? Sagt das nicht eher etwas über den Wollenden aus als über seine Welt?«

    Und Fred Lemish, dank einundzwanzig Jahren unterschiedlichster Formen der Therapie, kürzlich erst abgeschlossen, bereit für Koalitionsverhandlungen, antwortete stolz: »Wir werden sehen. Aufgepasst, Welt! Der Wollende ist bereit!«

    Hatte er nicht beschlossen, jawohl!, dass er als Schriftsteller und Bürger/Person/Im-Hier-und-Jetzt-Lebender alles selbst erleben, alles ausschöpfen musste? (Mach weiter, Meister, piss mich an!) Dass er alles zumindest einmal gesehen haben musste, wenn er der Christoph Kolumbus, vielleicht auch eher der Amerigo Vespucci, sicherlich aber der James Boswell seiner Schwuchtelwelt sein wollte; wenn er wollte, dass Abe Bronstein sein Drehbuch über diese Welt produzierte, sodass der ganze Rest des Planeten es würde sehen können … der erste seriöse Schwuchtelfilm. Vielleicht könnten sie Brando dafür gewinnen eine Rolle zu spielen (obwohl der in letzter Zeit zu fett war), mit Paul Newman, wieder vereint, so tun als wäre es echt. Aber dann, wenn man darüber nachdachte, waren sie beide zu alt, also besser Redford und McQueen, ach, waren die nicht auch schon zu alt … wo war der Nachwuchs? …; und wenn er schon so forschte, beobachtete und erlebte, konnte er nicht auch gleich beweisen, dass er und Dinky es vormachen könnten, dass sie sich ineinander verliebten, gleichfalls vor den Augen der ganzen Welt. Zwei intelligente Homosexuelle die nicht davonrannten, sobald sie den ersten Stolperstein auf der Straße erblickten, so wie es jede andere Schwuchtel tat, sondern bewiesen, dass es möglich war?!

    »Was du willst, Tantchen, existiert nicht«, hatte sein bester Freund Anthony Montano gesagt, als sie letzte Woche das Probe Cinema am Times Square verlassen hatten, wo sie sich Twenty Cocks Over Tokyo angeschaut hatten. Anthony, der mit seinem Job als Vize-Präsident und Kreativ-Direktor bei Heiserdiener-Thalberg-Slough (verantwortlich für den Winston-Mann der gleichnamigen Zigaretten) verheiratet war. »Kauf dir einen Hund. Hunde sind Homokinder.«

    »Unsinn. Es ist möglich, dass sich zwei intelligente Männer in Gänze voneinander angezogen fühlen: emotional, physisch und intellektuell. Nur weil ich jetzt bald mittleren Alters bin, werde ich nicht eine zickige, mittelalte Tunte werden. Ich werde nicht versauern.«

    »Ich sag es dir, kauf einen Hund.« Anthony widmete sich nicht gerne dieser Art von Problemen.

    Fred fuhr fort: »Ich möchte doch nur jemanden, der Bücher liest, seine Arbeit liebt, mich auch, natürlich, und der keine Drogen nimmt und nicht von der Stütze lebt.«

    »Und der Dostojewski und Proust liest und schätzt, wenn möglich im Original, außerdem ein guter Koch ist, ein hingebungsvoller Liebhaber, der leidenschaftlich küsst und fantastisch im Bett ist. Ach ja, heiß und umwerfend sollte er auch sein.«

    »Was soll daran falsch sein? Das scheint mir doch eine vollkommen akzeptable und begehrenswerte Vorstellung zu sein.«

    »Du bist im falschen Land. Geh raus, schau dir die Welt an! Mach die ›geografische Kur‹.«

    »Sprinkle ist nicht gerade ein toller Küsser«, sagte Fred, womit er sich auf Anthonys Liebhaber bezog, den er, selbstverständlich, weder sonderlich mochte noch als gut genug für seinen besten Freund erachtete. »Wo steckt er eigentlich?«

    »Bei seiner Mutter. Er versucht es mit der Mutter-Kur. Wo ist Dinky?«

    »Dodger, sein Mitbewohner, sagt, er müsste jeden Tag zurück sein.«

    »Fred, sie wollen uns nicht. Wir wissen einfach nicht, wie man spielt. Wie man vorspielt. Alle, die sie da draußen sind, spielen. Manchmal sind es Cliffs und manchmal Cecilias, aber alle spielen sie. Und wir sind nur Fred und Anthony. Wer sollte mich schon wollen? Ich will auch Häuschen spielen. Ich bin gierig, besitzergreifend, unsicher, erfolgreich, ein unzufriedener Bengel. Ich würde vor mir weglaufen. Werde ein Märtyrer in deinem Job. Deine Arbeit ist das Einzige, was zählt.«

    »Du bist ein Märtyrer in deinem Job. Du arbeitest täglich fünfundzwanzig Stunden für einen Job, den du nicht einmal magst. Was hat es dir gebracht? Du hast nicht einmal Zeit fürs Ficken. Wie auch immer. Schwuchteln wollen nichts von Erfolg wissen. Es erinnert sie an Dinge, denen sie eigentlich entkommen wollen. Ich habe Jahre daran gearbeitet, Erfolg zu haben. Wenn ich einem Typen erzähle, dass ich Sleep geschrieben habe, flippt er aus. Entweder läuft er weg oder er behandelt mich wie einen alten Mann.«

    »Nein, nein, wir sind die, die entkommen wollen. Nichts ist gut genug für uns. Arbeit ist das Einzige, was zählt. Das Leben ist ein Kompromiss. Ich werde lieber hetero. Es ist nicht machbar für zwei Männer, sich zusammenzuraufen.« Anthony zog seinen Regenmantel an und zog den Gürtel fest.

    Und Fred, der diese Meinungen seiner Freunde nicht akzeptierte und der mit Anthony nie hatte erörtern wollen, warum sie kein Paar waren – Fred redete sich selbst ein, dass es an Anthonys haarigem Körper lag, während Anthony sich einredete, dass Fred zu sehr wie er selbst war – und der nun bald seinen Dinky wieder in seinen Armen haben würde, sagte: »Nein, Tantchen, es ist definitiv Zeit für Liebe!«

    Fred war kurz davor zu kommen, als er fühlte wie warme Pisse seinen Rücken herunterplätscherte. »Ich hatte gehofft, du würdest das lassen«, murmelte er, während er versuchte, sich selbst schnell zum Abschuss zu bringen.

    »Das gefällt dir! Das gefällt dir!«, kläffte der Meister, dessen Strahl sich nun wie ein Wasserfall ergoss.

    »Ich komme! Ich komme!«, fühlte Fred sich verpflichtet zu verkünden.

    »Ja, Sir! Ja, Sir!«, ließ nun auch der Sklave verlauten.

    »Ich komme …!«

    »Gib mir deinen Saft, Baby! Ramm mir deinen Pflock bis in mein Hirn!«

    Fred, kurz vorm Abschuss, versuchte sein Bestes, dem Wunsch des Sklaven nachzukommen.

    »Ich spüre deinen Saft in mir, Baby! Ich fühle es! Ich fühle dich! Füll mich ab! Fick mich auf den Mond!« Der Sklave war nun ausgesprochen redselig.

    Er und Fred klatschten schmatzend gegeneinander und auf die nun durchnässte Matratze. Dann sprang Fred schnell auf, befreite sich, schnappte sich sein Handtuch und versuchte, sich davonzumachen.

    »Ich hab dich noch nicht leergesaugt!«, konstatierte der Meister und Pisser.

    Fred rannte aus der Kabine, hörte nicht hin, als der Meister sich bei seinem Sklaven entschuldigte: »Schon gut, Liebling, ich finde einen anderen für dich.«

    Fred steuerte die Duschen an.

    Toller Held, dachte er.

    Fred Lemish war neununddreißig Jahre alt. Er war Single, noch immer, auch wenn er schon viele Jahre Anspruch auf einen Liebhaber erhoben hatte. Er hatte einen oder zwei gehabt, vielleicht auch neun oder zehn; er hatte oft Schwierigkeiten zu definieren, was genau einen Liebhaber ausmachte und von einem Flirt unterschied, mit dem er ein paarmal zugange gewesen war, von bemühten Wiederholungen gelungener Bettgeschichten oder auch nur von Kanalarbeiten an Urlaubsromanzen, die man besser dort ließ, wo man sie aufgegabelt hatte. Welche Definition er auch anwendete, es war nichts dabei, das mehr als ein Einführungsangebot gewesen wäre. Er schob die Schuld daran für gewöhnlich auf den anderen und hielt daran fest, dass er gegen seinen Willen allein war.

    Fred hatte eine behaarte Brust, breite Schultern, endlich eine 30er Hosenweite, nachdem jahrelang ein kleiner Schwimmreifen seinen unteren Rumpf geziert hatte, Speckröllchen, an die neue Bekanntschaften ärgerlicherweise immer zuerst ihre Hände legten, beiläufig, bei einer begrüßenden Umarmung, wobei sie in Wirklichkeit nur erkunden wollten, wie hart und demzufolge begehrenswert das Terrain war, das sich unter dem Shirt befand, bevor sie sich wieder davonmachten, nie wieder von sich hören ließen, wenn die Früchte zu weich waren, die Auslage zu überfrachtet, wie es bei Fred noch bis vor kurzem der Fall gewesen war. Außerdem hatte er kräftige Beine, die in seiner Kindheit eher eine peinliche Bürde gewesen waren (welcher andere Knabe hatte im Alter von zehn Jahren schon voll ausgeformte Melonenwaden), die nun aber endlich als der muskulöse Bonus angesehen wurden, der sie waren; so wie auch seine behaarte Brust, die nun ebenfalls ein Vermarktungsvorteil war, anders als in seiner Kindheit, als er der einzige King Kong unter unbehaarten Klassenkameraden gewesen war, die allesamt wie griechische Statuen aussahen. Dann waren da noch der unerlässliche Schnauzbart, schwarz mit, leider, einigen grauen Stellen, sowie, ebenfalls leider, der kleine, aber größer werdende kahle Fleck auf seinem dunkelhaarigen Hinterkopf – ein Problem, dem er mit keiner noch so großen Dosis Head-Start-Vitaminen mit mysteriösen Inhaltsstoffen Herr werden konnte und auch nicht mit der Hair Trigger Program Formula 6, per Post erhältlich über I. Magnin in Beverly Hills, allabendlich aufzutragen mit einem heißen Handtuch, anschließend zwanzig Minuten in die Kopfhaut einziehen lassen, gefolgt von einem Glas warmer Milch und zwei zusätzlichen Kapseln mit Mineralien für die natürliche Regeneration der Haarwurzeln. Kürzlich hatte er angefangen, sich den Bart und die Schläfen mit einem Mascara von Revlon zu färben – ein Tipp, den er in Kalifornien von Frigger bekommen hatte, diesem Kerl mit der steinharten Brust – breit wie ein Weinfass – und den Bauarbeiterarmen. Frigger, aus dessen Mund immerzu geistreiche Einzeiler schossen, ungemein gewinnend, ein guter Freund, der, wie Fred später herausfinden sollte, mit Feffer an eben dem Tag rumgemacht hatte, an dem dieser zu ihm, Fred, zurückgekommen war, um gemeinsam einen zweiten Anlauf in Sachen Zusammengehörigkeit zu unternehmen, den sie alsbald wieder eingestellt hatten.

    Er war Mitglied in zwei Fitnessstudios und besuchte sie regelmäßig, wobei er zwischen beiden wechselte, um keine Monotonie aufkommen zu lassen. Im Sheridan Square Health Club, auch bekannt als ›Bodyworks (but the mind doesn’t)‹, konnte er unweit von zu Hause Muskelaufbau mit den Vorstadtschwuchteln betreiben, eine ernsthafte Truppe, gänzlich konzentriert auf die Resultate, die sie auf der Christopher Street zur Schau tragen wollten, auch wenn sie und ihre Unterhaltungen (jeder war ›sie‹ oder ›Mary‹ und mannigfach waren die Meinungen zu Operninszenierungen, Rezepten und textiler Meterware) etwas zu dramatuntig für Freds Geschmack waren; sie erinnerten ihn alle an kriechende, dämmerungsaktive, mittelalte Unzufriedenheit, auf dem Weg zu Leder oder anderen obskuren sexuellen Abweichungen, heilig den Ungeliebten, und er hatte doch noch Hoffnung, wenn auch nicht ihre übermuskulöse Statur. Meistens aber nutzte er das West Side YMCA in der 63rd Street, fröhlich verschrien als die größte Schwulenbar der Stadt (und wesentlich besser als die Ys in der 23rd oder der 47th). Hier gesellte er sich zu den gleichermaßen Geistreichen, ein fröhlicher, geistesverwandter Trupp, von dem viele mittlerweile gute Freude waren: Frigger, wenn er gerade in L. A. war; Gatsby; der energische Tarsh; die Göttliche Bella; die stadtbekannten Liebhaber Josie und Dom Dom; der fesche Fallow; Mikie, das vierunddreißigjährige Blumenkind; der süße Bo Peep, der für seinen 30-Meilen-Sprint und schwerwiegendes Gewichtestemmen kam.

    Und wie seine Muskeln gewachsen waren! Sein Körper reagierte, Pectoralis, Latissimus und Deltoideus nahmen Form an, seinem Schwimmreifen ging die Luft aus (Friggers Empfehlung, der Waist Sweater, hatte sich bezahlt gemacht), sein Bauch straffte sich, sogar der Obliquus Abdomini machte ihm seine Aufwartung. Er hatte nun das fettfreie Stadium großartiger Form erreicht, sicherlich besser in Form als sämtliche seiner heterosexuellen Freunde (wie viele von ihnen trieben schon sieben Mal die Woche Sport?), und nun standen offenkundig alle Zeichen auf Vereinigung mit Mr. Right. All die Jahre der Völlerei – wollte er sich damit der Liebe entziehen? Denn musste ein Schwuler, der Tauschhandel mit seinem Körper betrieb, nicht auch ein ansprechendes Schaufenster präsentieren?

    Feffer hatte ihm vor Jahren gesagt, er müsse an seinem Körper arbeiten. Wäre er noch mit Feffer zusammen, wenn er darauf gehört hätte? Er wollte ihn nun nicht mehr. Aber sicherlich hatte er ihn damals gewollt. Und jetzt gab es Dinky, der in ihm eben den Schmerz, die Pein, Hoffnung und Liebe, denselben Terror aufwallen ließ, den er seit Feffer nicht mehr gefühlt hatte. Ah, Romantik!

    Ja, so wie er die Dinge sah, war dies seine letzte Chance. Muskeln rauf, Fett runter, grabsch dir deinen Kerl jetzt – denn mit über vierzig würde es nicht einfach sein, auch nur eine dieser Aufgaben zu bewältigen. Und wenn er die Jahre, die ihn hierhin geführt hatten, auch mit Faulheit verbracht hatte, mit Gier und Selbstmitleid und Schokolade und Ablehnung und Schlampigkeit und Algonqua und Lester und Harvard und Junggesellentum und Jäger sein anstatt gejagt zu werden, der Zappelnde sein anstatt andere zappeln zu lassen, war es doch immer noch nicht zu spät für eine Umkehr. Und wenn der Rest des Landes dünn und wunderschön sein wollte und trotzdem jeder so blieb, wie er war, dann würde er eben nicht wie der Rest des Landes sein. Und was gab es für ein besseres Motiv nach Schönheit zu streben, als verliebt zu sein?

    Fred machte sich auch über die üblichen Dinge so seine Sorgen. Wenn er sich schlecht fühlte, wenn eine Krankheit ihn plötzlich flachlegen sollte, dann wollte er wissen weswegen, worauf es zurückzuführen war: Hatte er bei der Morgentoilette genug Stuhl entsorgt? Sollte er vielleicht noch mal gehen? Hatte er ausreichend gegessen, hatte er genug Proteine für den Tag zu sich genommen, hatte er letzte Nacht ausreichend Schlaf gehabt, oder zu viel, verlangte sein Körper nach zuckerhaltiger Nahrung, hatte er am Ende gar Hypoglykämie? All diese Optionen mussten abgewogen und einkalkuliert werden. Gewöhnliche, schlichte, tägliche, unspezifische Unsicherheiten durften nicht toleriert werden. Wenn all diese Fragen zu keinem Ergebnis führten und nur noch die Angst blieb, hatte Fred Zuflucht in den Gedanken an Messerklingen und das Aufschlitzen der Handgelenke (»Das Ansetzen der Messerklinge an das Handgelenk«, so zitierte er sich gerne aus den schmissigen Formulierungen des Standardwerks von Menchitt & Swinger, um sich aufzuheitern, »steht stellvertretend für den Entschluss, die Nabelschnur zu einem früheren Trauma zu durchtrennen«), an eine Überdosis Tabletten oder einen Sprung aus ausreichender Höhe. Er hatte Höhenangst. Er tendierte zu Überreaktionen. Er tat selbstverständlich keine dieser schrecklichen Sachen; das waren nur qualvolle Gedanken, um sich einen schönen Tag zu ruinieren.

    Fred war – kurz gesagt – ein durchschnittlicher Standardnörgler. Eine New Yorker Schwuchtel. Nett, immerhin. Und mit fröhlichen, dunkelbraunen Augen. Aber vielleicht mit etwas zu viel Therapieerfahrung. Und er versuchte nicht darüber nachzudenken, ob das, was er erreichen wollte, wofür er all die Jahre und Dollar und Pfund (Sterling, nicht Körpergewicht, wenngleich sicherlich auch das) investiert hatte, am Ende gar nicht da war, nicht erreicht werden konnte, sondern die wahre Erkenntnis nicht nur jeder Therapie, sondern der menschlichen Reife im Allgemeinen die war, dass man lernen musste, mit der unentrinnbaren Tatsache zu leben, dass 97% aller Menschen schlicht gefickt waren und so auch 97% aller Schwuchteln.

    Er hatte kürzlich sein Seven-Star-Tagebuch des letzten Jahres studiert und dabei folgende Statistik erstellt:

    Dates, die zum Orgasmus führten: 87 (nicht berücksichtigt waren Kerle, mit denen er in den Straßen, Badehäusern oder auf Fire Island rumgemacht hatte; definitiv nicht berücksichtigt waren jegliche Begegnungen im Meat Rack).

    Dates, die interessant genug waren, um sie wiederzutreffen: 2.

    Dates, die er wiedergesehen hatte: 23.

    Körbe: 23.

    Besuche in den Badehäusern: 34.

    Besuche in Discotheken: 47 (Fire Island nicht berücksichtigt).

    Er war bestürzt darüber, an wie viele der Namen er sich nicht mehr erinnern konnte. Wer waren Bat, Ivan, Tommy, Sam Jellu, der schöne Henry, Kelly Hurt (oder sollte das was anderes heißen?), Joe Johns, François, Watson Datson … zu viele der dreiundzwanzig, ganz zu schweigen von den siebenundachtzig, sagten ihm überhaupt nichts mehr, er erinnerte sich so wenig an sie wie an die – wie viele? Einhundert? Zweihundert? Fünfzig? Dreiundzwanzig? – vielen Orgasmen, die er wahrscheinlich vergessen hatte zu zählen. Er hatte Sex gehabt mit diesem oder jenen, ein-, zwei- vielleicht auch dreimal die Woche, die Feiertage eingerechnet, Krankheitstage (hoffentlich) nicht. Er hatte ein komplettes Jahr (von den vorangegangenen ganz zu schweigen) mit einer gesichtslosen Gruppe von Sexobjekten verbracht. So viel zum Thema Sexismus! So viel zum Thema den Körper als ein Ding zu betrachten! Und wer zur Hölle war Tiddy Squire? Oder hieß es Ditty Squirt? Hatte er da auch nur eine Sauerei notiert? Selbst seine Handschrift war wenig hilfreich. Er erinnerte sich an keinen Tiddy Ditty und schon gar nicht daran, was sie miteinander getrieben hatten, wie es sich angefühlt hatte, wo sie es getrieben hatten – und das, obwohl seine Randnotiz vermerkte: »Wirklich heiß! Unbedingt wiederholen!« Als er in seinem Adressbuch suchte, auf den hinteren Seiten, die für all die Kerle reserviert waren, an deren Namen er sich nie würde erinnern können, wenn er sie alphabetisch einsortiert hätte, wurde er fündig: Derry Spire, 14. März – nur ein paar Monate her. Wie konnte er sich daran nicht erinnern? Wie konnte er mit einem anderen Menschen Liebe machen und sich nicht daran erinnern? Das Gesicht? Der Körper? Irgendwas? Gar nichts? Eine Warze? Körpergeruch?

    Dann dachte Fred an die lange Reihe von Architekten, Gärtnern, Art-Direktoren, Werbetextern, Dilettanten, Schulabbrechern, Arbeitslosen, Möchtegerns, Kellnern, Schauspielern, Studenten, Tänzern, die alle sein Leben geschmückt hatten, und er fragte sich, warum es ständig die Nichts-Geber dieser Welt, die Unverwundbaren, die Defensiven und die Hilfsbedürftigen waren, in die er, edler Rotes-Kreuz-Ritter, sich verliebte, die er durch Schlamm und Scheiße schleifte wie ein verfluchter Lawinenhund. Er hatte den Bodybuilder-Soziologen nach Paris geschleppt, um ihn zu verführen, nur um festzustellen, dass er ein lausiger Fick war. (Anthony hatte ihn da mit einem dringenden Telegramm rausholen müssen, signiert »Barbra Streisand«.) Er hatte den Weber und Makramee-Fetischisten nach Marrakesch transportiert und sich seine Liebesschwüre angehört, was ihm außer Angstattacken im Kasbah nichts eingebracht hatte. Beide hatten Mikie geheißen. Mikie I und II waren beide irgendwo da draußen und trugen die Rolex Submariner, die Fred ihnen am Ende gekauft hatte. Mikie III, das vierunddreißigjährige Blumenkind, halber Architekt, jetzt Lkw-Fahrer, noch immer ein guter Freund, trug ebenfalls seine Rolex, nachdem sie ein Affärchen auf einer Karibik-Kreuzfahrt gehabt hatten.

    Dann war da noch Feffer. Große Liebe Nummer eins.

    Und jetzt gab es Dinky Adams. Große Liebe Nummer zwei.

    Fred war überrascht gewesen, als er im Hinterteil seines Adressbuchs entdeckte, dass er und Dinky sich bereits vor sieben Jahren getroffen und rumgemacht hatten, ein One-Night-Stand; Fred erinnerte sich vage daran, ihn gefickt zu haben, nachdem sie einander im Metropolitan Museum vor einer Goya-Herzogin aufgegabelt hatten. Dinky studierte damals Architektur und war voller Pläne, eine schönere Welt zu erbauen. Er brachte es gerade mal auf anderthalb Jahre. Er hatte es nie geschafft. Ah, das Potenzial! War es das, was ihm Dinky so lieb und teuer machte?

    Feffer war groß, blond, unglaublich gescheit, hinreißend, in seinem Alter, ein Mitglied der Phi Beta Kappa aus Wisconsin; es

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1