Meine Väter
Von Martin R. Dean
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Über dieses E-Book
In »Meine Väter« stellt Martin R. Dean die Suche nach den eigenen Wurzeln in den Echoraum der Kolonialgeschichte. In dem mitreißend erzählten Roman blitzen immer wieder auch Zweifel und erfrischend ironische Momente der Selbstbefragung auf: Sind Abstammung, Hautfarbe und biologische Ähnlichkeit wirklich von existenzieller Bedeutung?
Martin R. Dean
Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören Meine Väter (Neuausgabe 2023), Ein Stück Himmel (2022), Warum wir zusammen sind (2019) und Verbeugung vor Spiegeln – Über das Eigene und das Fremde (2015). Martin R. Dean lebt in Basel.
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Buchvorschau
Meine Väter - Martin R. Dean
Für Silvia und Mona
VORWORT ZUR NEUAUSGABE
Bücher sind Batterien der Erinnerung, bei ihrer erneuten Lektüre laden sie uns mit dem Gedächtnis jener Zeit auf, in der sie entstanden sind. Der Roman Meine Väter erschien 2003, und beim Wiederlesen stellte ich fest, dass sich der Kern des Projektes im Laufe der Jahre verschoben und weiterentwickelt hat. Über den Vater, zumal über zwei Väter zu schreiben, basiert auf einer intimen biografischen Erfahrung, die vielleicht nie ganz abgeschlossen ist. Die Suche nach meinem Vater, damals noch frisch, hat seither an Prägung gewonnen und eine andere Gewichtung erhalten. Gewisse Passagen traten bei der Wiederlektüre als wesentlich hervor, während andere an Dringlichkeit verloren.
Aber nicht nur meine »innere Geografie« zu diesem Thema hat sich gewandelt; seit dem Verfassen des Buches kurz nach der Jahrhundertwende sind Ereignisse eingetreten, die vieles in einem neuen Licht zeigen. Eines dieser Ereignisse ist der Sommer 2021, in dem die »Black Lives Matter«-Bewegung nach Europa kam und auch mich erreichte. Seither ist in Europa eine Diskussion über Rassismus in Gang gekommen, die seine strukturellen wie individuellen Auswirkungen umfänglicher in den Blick nimmt. Das berührte auch mein Buch, denn die Geschichte meines leiblichen wie die meines Stiefvaters wurde auch von Ausgrenzung geprägt. Die forcierte Assimilation meines Stiefvaters in die schweizerische Dorfgemeinschaft wäre ohne das xenophobe Klima der sechziger und siebziger Jahre nicht denkbar, ebenso wenig die Attacken, die mein leiblicher Vater in London erfuhr.
Die Geschichte von Roberts Vatersuche im Buch, die mit meiner Suche nicht identisch ist, greift weit in die koloniale Vergangenheit aus; sie führt von Basel, wo Robert als Dramaturg arbeitet, über London ins Britische Commonwealth. Die Heimat von Roberts Vater Ray, den Robert in einer Londoner Absteige findet, ist die ehemalige britische Kronkolonie Trinidad und Tobago. Eine Nation mit einer vielfach diversen Bevölkerung, deren größte Anteile Nachfahren afrikanischer Sklaven und nordindischer Kontraktarbeiter darstellen. Die Erzählung der Väterbegegnung wäre unvollständig, würde sie nicht die Beschränkungen und Verwerfungen dieser immer wieder von ethnischen Spannungen heimgesuchten ehemaligen Kolonie miterzählen. Denn die Gesetze des kolonialen und postkolonialen Lebens haben auch die Familien von Roberts Vorfahren beeinflusst. Das indische Kastensystem, das in der Neuen Welt obsolet sein müsste, diente und dient der indischen Community auf Trinidad zur Binnendifferenzierung, stiftet Fehden und Feindschaften, die auch das Leben von Roberts Vorfahren tangierten. Auf der Suche nach seinem Vater gerät Robert nicht nur zwischen die Fronten verschiedener Familien, sondern muss sich zuletzt auch als Produkt einer gewaltsamen kolonialen Politik begreifen. Seine schweizerische Identität wird durch seine Vatersuche »globalisiert«. Die Mutterländer der Karibischen Inseln sind China oder Indien, afrikanische Staaten ebenso wie Syrien oder der Libanon. Und natürlich immer wieder England, Roberts Vaters zweite Heimat.
Die Wiederlektüre rückt auch ein globales Thema stärker in den Vordergrund, nämlich Vertreibung und Flucht, und die Anstrengungen, im fremden Land anzukommen.
Ausschlaggebend für eine Überarbeitung war zuletzt auch der Umstand, dass nahe Familienmitglieder inzwischen verstorben sind. In meiner Schweizer Familie, in der vieles nicht zur Sprache kommen durfte, hatte die Wahrheit zuweilen einen schweren Stand, da sie sich etlichen Rücksichten beugen musste. Bei meiner Überarbeitung entfällt diese Rücksicht zugunsten von Einsichten, die für alle, den Protagonisten Robert wie auch den Autor, ebenso unbequem wie erhellend sind.
Martin R. Dean, Dezember 2022
I
Mind the Gap
Besenkammer in Trinidad
Auf dem Flug nach London las ich in der Zeitung von einem seltenen Verbrechen: Ein Junge hatte seinen Vater getötet. Nachdem er mit einer Eisenstange auf den Schlafenden eingedroschen und ihn mit einigen gezielten Messerstichen verwundet hatte, erstickte er ihn unter einem Kissen. Die Stiefmutter des Jungen wurde Zeugin der Bluttat. Die ganze Wohnung, die Wände und auch das weiße Bettlaken, sagte sie später vor Gericht aus, seien voller Blut gewesen, als der Sohn endlich vom Vater ließ. Der Sohn habe sofort ein Geständnis abgelegt.
In den meisten Fällen können Söhne ihre Väter nicht von Angesicht zu Angesicht angreifen. Kaum ein Mordversuch am Vater findet in der direkten Konfrontation statt. Da der Vater als unbezwingbar erscheint, erfolgt der Angriff meist im Schlaf, hinterrücks oder mit Gift.
Welche Strafe steht auf Vatermord?
Ich habe meinen Vater erst jetzt, im Alter von vierzig Jahren, gefunden. Fast vierzig Jahre wusste ich nichts über ihn. Vierzig Jahre lang glaubte ich, er sei eine Art Märchenprinz mit einem silbernen Stock.
Vor einer Woche versicherte mir der in London ansässige Hochkommissar von Trinidad und Tobago am Telefon, dass mein Vater noch lebe, ja dass er sogar mit ihm bekannt sei. Sofort buchte ich einen Flug von Basel nach London.
»Ihr Vater Ray hat dreißig Jahre lang auf Ihren Anruf gewartet«, hat der Hochkommissar gesagt. »Er stammt aus einer angesehenen Familie in Trinidad. Aber Sie sind spät dran.«
Ich sah einen einflussreichen alten Mann mit gegerbtem Gesicht vor mir, der irgendwo in einem Seemannshaus an der Themse residiert und weltweit seine Geschäfte führt. Im Laufe all der Jahre und Jahrzehnte habe ich ihn mir immer wieder anders vorgestellt. Mal hellhäutig, dann wieder dunkel, mal schmächtig – oder groß, ja überwältigend groß wie ein Baum.
Nun bin ich auf dem Weg zum Hochkommissar von Trinidad und Tobago. Mein linkes Auge ist geschwollen und tränt, meine Nase so verstopft wie die Straßen von Belgrave, durch die sich der Cabdriver im Stop-and-go voranbewegt. Seit vierzehn Tagen leide ich an einem Stirnhöhlenkatarrh. Deutlich sehe ich noch das Röntgenbild mit meinen gegen die Stirnhöhle sich verengenden Nasenlöchern vor mir, in denen mein Atem stockt und stecken bleibt. Sodass ich zuweilen fast zu ersticken drohe. Keine Panik, no panic, it’s the normal rush hour, meint der Cabdriver.
Wenn ich krank werde, sagt mir Leonie, soll ich nicht gleich in Panik verfallen. Meine Krankheiten sind unauffälliger Natur, sie unterscheiden sich nicht von denen meiner Freunde und Bekannten. Mal eine Verzerrung des Nackenmuskels, dann eine Magenverstimmung oder ein Nierenstein. Hypochondrische Kapriolen. Vor allem aber Fieber, Fieber seit meinem achtzehnten Lebensjahr. Immer wieder schnellt meine Körpertemperatur nach oben und wirft mich ins Bett. Meine Zunge und mein Hals schwellen an, und meine Wahrnehmung wird trübe. Ich kann nicht mehr unter die Leute gehen und muss tagelang das Bett hüten. Leonie weiß dann, dass ein neues Loch in mir aufgegangen ist. Eigentlich siehst du gesund aus, sagt sie; wenn man dich sieht, bemerkt man nicht, dass du so viele Löcher mit dir herumträgst. Vielleicht wärst du gesünder, wenn du deine Geschichte kennen würdest. Aber auch Leonie weiß nicht, wie mir zu helfen ist. Die Ärzte wissen es auch nicht. Wenn ich mit hohem Fieber im Bett liege, bin ich für andere nicht mehr erreichbar. Bin abgeschnitten von allem. Wie viele Verpflichtungen und Termine habe ich deswegen versäumt. Das halbe Leben habe ich verpasst. Aber deine eigentliche Krankheit, sagt Leonie, ist in keinem Lehrbuch zu finden. Vielleicht nennen wir sie einfach mal »Vatermangel«. Damit wirst du in die medizinischen Lehrbücher eingehen.
Am Belgrave Square weichen die schmucken Backsteinhäuser imposanten Prunkbauten mit weiß leuchtenden Fassaden, mit teppichausgelegten Entrees und goldbeschrifteten Lettern an den Briefkästen. Die ganze Zeit muss ich daran denken, dass dies meines Vaters Stadt ist. Die ganze Zeit sehe ich Ray mit einem Stöckchen durch die in goldenes Licht getauchten Straßen gehen. Auch der ärmste indische Schlucker, der heruntergekommenste Schwarze, der zerlumpteste Bettler darf hier spazieren gehen. Der Fassadenprunk ist Teil des ehemaligen britischen Empires, dem auch mein Vater angehört. Die Namen, die Häuser und die Monumente auf den Plätzen bilden einen großen Echoraum der weltumspannenden Kolonialgeschichte, die die Geschichte Indiens wie auch Trinidads geprägt hat.
Wie viel weiß der Hochkommissar? Wird er mir verraten, was dieser Ray all die Jahre in London getrieben hat? Kennt er die Leute, mit denen er verkehrt? Ist es denkbar, dass er Rays Leben in wenigen klaren Sätzen zusammenfasst?
Auf dem großen Platz vor der Botschaft überlege ich, wie viele Schiffe, Segelschiffe der englischen Flotte, beispielsweise der von Sir Francis Drake angeführten englischen Flotte, hier nebeneinander Platz hätten. Ich habe diese Flotte vor Augen, dazu das ans Kielholz schlagende Meer, während ich die Stufen der weiß getünchten Treppe hinaufsteige. Ein frischer Wind knattert in der grün-roten, auf einer Zinne angebrachten Landesflagge, als ich den glänzenden Klingelknopf drücke. Eine Angestellte öffnet mir die Tür, und ich versichere ihr, dass ich eine Verabredung mit Hochkommissar Lennox habe. Sie schüttelt den Kopf, als wäre ich ein Schwindler, und weist mich in einen dunklen Raum, kaum größer als eine Besenkammer. Eine Besenkammer in Trinidad, denn mit dem Überschreiten der Botschaftsschwelle habe ich London verlassen und befinde mich nun auf Rays Heimatboden. Auf dem Boden, den meine beiden Väter, Neil und Ray, verlassen haben.
Aber man lässt mich ziemlich lange in dieser stickigen Kammer auf einem folkloristischen Holzschemel warten; eine halbe Stunde schon, in der der Hochkommissar der Inselrepublik seine Fingernägel säubert oder mit seiner Geliebten telefoniert oder seine Zimmerpflanzen gießt.
Ich schleiche mich aus der Besenkammer und klopfe an die Tür, hinter der die Bedienstete verschwunden ist.
»Sie wünschen, Sir?«, fragt mich eine andere Beamtin.
»Wo ist die Frau von vorhin? Sie wollte mich doch zu Mister Lennox bringen.«
»Die hat jetzt Dienstschluss. Hat sie Sie etwa vergessen«, sagt sie, lacht und legt ihren Harry Potter zur Seite. »Kann ich etwas für Sie tun, Sir?«
»Wie gesagt, ich möchte zu Mister Lennox.«
»Mister Lennox ist für vier Tage nach Barbados geflogen. Worum geht’s denn?«
»Ich suche meinen Vater.«
Nun greift sie kichernd zum Telefon und redet mit rasender Geschwindigkeit in die Muschel.
In einem holzgetäfelten Zimmer eilt mir kurz darauf Lennox – ein Schwarzer und kein Inder, wie üblich für einen trinidadischen Regierungsbeamten – mit ausgestreckten Armen entgegen, fast so, als wollte er mich an sich drücken. Im letzten Augenblick aber lässt er beide Arme sinken und gibt mir seine trockene Hand. Dann setzt er sich umständlich hinter einen magistral großen Schreibtisch. Er streicht mit der Handinnenfläche über seine Bügelfalten, die scharf hervorstechen.
»Sie sind also der Mann aus der Schweiz, der seinen karibischen Vater sucht. Wie sind Sie überhaupt auf mich gekommen?«
»Ich habe die trinidadischen Vertretungen in halb Europa angerufen.«
»Ich verstehe aber nicht, warum Sie erst jetzt kommen? Es ist doch eigentlich zu spät.«
»Am Telefon haben Sie gesagt, mein Vater sei am Leben und warte seit dreißig Jahren auf meinen Anruf.«
»Das war metaphorisch gesprochen. In Wirklichkeit glaube ich nicht, dass er das tut. Hat er sich überhaupt jemals bei Ihnen gemeldet?«
»Nicht, dass ich wüsste«, sage ich, unangenehm überrascht. »Auf jeden Fall hat mir Neil, mein Stiefvater, nie etwas davon gesagt. Meine Familie hat leider nicht das beste Verhältnis zu diesem Ray Randeen, obwohl auch Neil ein Trinidader indischer Herkunft war.« Ich rede offen mit Lennox, der sicherlich genug Erfahrung in solchen Dingen hat.
»Verstehe«, sagt Lennox und schnalzt mit der Zunge. »Ihr Stiefvater ist auch indischer Abstammung und aus Trinidad. Kompliziert die Sache enorm. In diesem Fall weiß ich gar nicht, ob ich befugt bin, Ihnen Rays Adresse zu geben.«
Lennox kommt hinter seinem Schreibtisch hervor und stellt sich vor mir auf, sodass ich ihn nur noch aus den Augenwinkeln sehe. Ich bin verunsichert, schaue auf meine Jeans und überprüfe mein Jackett, an dem einige Fäden heraushängen. Bin ich zu nachlässig angezogen? Hätte ich Lennox zuliebe nicht doch besser eine Krawatte umbinden müssen?
»Mein Stiefvater ist tot, und es ist nicht länger die Sache meiner Familie, über mich zu entscheiden.«
Schweigen.
»Wir«, sagt Lennox und betont dieses »wir«, »wir tun hier etwas Falsches, wenn wir Ihrer Familie einen Mann wie Ray aufhalsen. Vergessen Sie’s. Jetzt noch Ihren leiblichen Vater kennenzulernen, bringt nur unnötige Probleme.«
Lennox enttäuscht mich, nein, er macht mich wütend. Um welche Art von Problemen kann es sich denn handeln? Wie kann Ray, ein honorabler Geschäftsmann, der in einem alten Seemannshaus an der Themse Rassehunde züchtet und mit Curry handelt, überhaupt jemandem zum Problem werden? Oder ist er vielleicht gestrauchelt, sitzt er im Gefängnis, ist er gerade seinen guten Ruf losgeworden?
Lennox schaut auf die Uhr. Mit einem Blick auf mich springt er auf und weist mit ausgestrecktem Arm auf das Motto der an der Wand angebrachten Landesflagge: Together we aspire – together we achieve. Auf seine Fingernägel einredend, versucht er, mir den Gemeinschaftsgeist der Insel näherzubringen.
Aber ich verliere die Geduld.
»Ich bin hier, um alles über meinen Vater zu erfahren. Ich bitte Sie um Auskunft. Und um seine Adresse«, sage ich zerknirscht. »Bevor ich Sie überhaupt anzurufen wagte, dachte ich jahrelang, mein Vater sei tot. Nun wollen Sie, der ihn kennt, ihn mir vorenthalten.«
Lennox macht eine versöhnliche Handbewegung.
»Es gibt Tausende von Kindern, die ihre karibischen Väter suchen. Kinder von weißen, skandinavischen Müttern. Mütter mit sommersprossiger Haut aus dem Norden«, sagt Lennox. »Kinder der Schwarzen Gentlemen von den Inseln. Verlassene, desorientierte Kinder, Sprösslinge der globalen Völkerwanderung, die erst ihren Anfang genommen hat. In zehn bis fünfzehn Jahren wird es auf diesem Planeten keine Rassen mehr geben. Sie werden rotblonde, sommersprossige Afrikaner durch die Oxford Street spazieren sehen. Die Rassenmischung, die in Trinidad weit fortgeschritten ist, wird weltweit sein. Aber« – und hier stemmt Lennox sein ganzes Körpergewicht auf seine gespreizten, zerbrechlichen, auf den Schreibtisch gestützten Finger – »ich billige damit keinesfalls das Verhalten meiner schwarzen Brüder. Wenn sie eine dieser wunderbaren weißen Ladys verführt, ihnen den Kopf verdreht und sie geschwängert haben, suchen sie zu oft einfach das Weite. Mater certa, pater incerta est, sagt der Lateiner.«
Lennox reibt seine trockenen Handflächen aneinander. »Trinidad ist eine großartige Insel. Trinidad ist ein wirklicher Melting Pot, und es gab bedeutende Anstrengungen gerade der Schwarzen Gemeinde, so etwas wie absolute Gleichberechtigung aller Rassen zu erlangen. Und auf dieser großartigen Insel leben selbstverständlich außergewöhnliche Menschen. Der echte Trinidader hat einen verqueren Humor, der nicht nur während des Karnevals aufblüht. Er ist bekannt für seine überschäumende Lebenslust wie für seine alerte Geschmeidigkeit. Wen wundert’s, dass ihm weiße, skandinavische Frauen erliegen. Seine männliche Stärke, gepaart mit einer feinfühligen tropischen Seele, macht ihn zu einer unnachahmlichen Mischung. Weder die Härte der Entwurzelung noch die der Versklavung oder die der Einwanderung haben ihn knicken können. Diese Härte und dieser feurige Stolz sind es, was die Europäerinnen aus den traurigen Regenländern anzieht.«
Lennox zeigt mir seine Reserviertheit gegenüber Europa, markiert seine Distanz gegenüber den Werten der Weißen. Lennox ist nicht einfach ein Afrotrinidader, er verkörpert seine Nation. Übertriebene Gesten, große Geschmeidigkeit, Durchtriebenheit und Kindlichkeit, das sind typische Charakterzüge meiner Vaterinsel, die ich auf den Reisen im Gefolge meines Stiefvaters kennengelernt habe. Eigenschaften, die mich ebenso anziehen, wie sie mich abstoßen. Auch Lennox nervt mich als Verkörperung all dieser Eigenschaften, und ich frage mich, wie er mich einstuft. Bin ich für ihn ein skandinavischer, respektive helvetischer Inder, ein Halbinder oder gar ein dem Melting Pot entstammender Trinidader?
»Dutzende von Jungen und Mädchen haben auf Ihrem Stuhl geweint und gebettelt. Und gedroht, sich etwas anzutun, wenn ich ihnen nicht augenblicklich ihren Vater herbeischaffe. Dutzende von diesen Kindern aus einer vaterlosen Welt, in der das Scheitern der Väter immer offenbarer wird. Sie alle wollten ihren Vater kennenlernen, um herauszufinden, wer sie sind.«
Lennox legt den Kopf in den Nacken und sucht die Decke ab: »Wer bin ich? – Ich bin der Sohn eines einfachen Fischers und einer Gemüsefrau aus Couva, Mister Robert, und ich bin gleichzeitig Botschafter dieses Landes, das ich liebe.«
Bevor Mister Hochkommissar weiter abschweifen kann, betritt eine Sekretärin mit einem Tablett das