Die Sonnenkönigin: Frankreichs vergessene Königin
Von Louise Bourbon
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Über dieses E-Book
Begeben Sie sich auf eine Reise durch die Erinnerungen zweier Liebender, denen solch Unrecht widerfahren ist. Mit Hilfe von Auszügen aus dem privaten Schriftverkehr, Tagebucheinträgen und allerlei Anekdoten lässt die Autorin die Faszination des französischen Hofes zu Zeiten des Königs Louis XIV wiederauferstehen. Sie erzählt eine Geschichte, in der der Hass von der Liebe besiegt und die Schuld von der Vergebung gereinigt wird. Es ist die Geschichte einer großen Liebe. Es ist die Geschichte einer Bestimmung. Die wahre Geschichte von Frankreichs vergessener Sonnenkönigin - Louise de La
Vallière.
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Buchvorschau
Die Sonnenkönigin - Louise Bourbon
Louise Bourbon
Die Sonnenkönigin
Frankreichs vergessene Königin
Über die Autorin
Louise Bourbon hat französische und deutsche Wurzeln und pendelt bevorzugt zwischen beiden Ländern hin und her.
Ihre Großmutter brachte ihr drei Leidenschaften nahe: die französische Sprache, Geschichte und Literatur. Insbesondere über Geschichte schrieb sie bereits zu Schulzeiten, noch auf einer alten mechanischen Schreibmaschine, ihr Tagebuch führte sie in französischer Sprache.
Regelmäßige Aufenthalte in Frankreich prägen noch heute ihr Leben, und ihr größter Wunsch ist es, dorthin zurückkehren zu können.
20 Jahre der historischen Recherche über das Frankreich des Sonnenkönigs und seiner vergessenen Königin haben genügend Material für mehrere Bücher hervorgebracht.
Bevorzugt erzählt sie die Dinge, die nicht im Geschichtsbuch stehen. Vielleicht sind sie gerade deshalb wahr.
SocialMedia-Accounts und Websiten von Louise Bourbon:
http://versaillessecret.com - dreht sich hauptsächlich um Versailles und seine Geheimnisse
http://lareynesoleil.com - die Seite zum Buch
Facebook: https://www.facebook.com/ReyneSoleil/
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Twitter: www.twitter.com/bourbon_louise
Instagram: www.instagram.com/Louise.bourbon/
Louise Bourbon
Die Sonnenkönigin - Frankreichs vergessene Königin
ISBN Print:
978-3-946376-12-5
ISBN eBooks:
978-3-946376-13-2 (ePub)
978-3-946376-14-9 (mobi)
© 2016 Lysandra Books Verlag (Inh. Nadine Reuter),
Overbeckstraße 39, 01139 Dresden
www.lysandrabooks.de
Coverfoto: © Louise Bourbon; Sonnenmotiv: stock.adobe.com Nr.19504347
Coverdesign/Umschlaggestaltung: Takezo Graphic Dirk Schröck,
www.takezo-design.de
Lektorat: Bücherseele Natalie Röllig, www.lektorat-buecherseele.de
Layout/Satz: Lysandra Books Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Lysandra Books Verlags ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die mechanische, fotografische, elektronische und sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung - auch auszugsweise - durch Film, Funk, Fernsehen, elektronische Medien und sonstige öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Pour mon soutien, mon mainteneur, mon tout.
Préface
Lieber Leser,
die Geschichte, deren Buch Sie gerade in den Händen halten, ist wahr. Sie ist das Ergebnis von zwanzig Jahren Recherche. Mir ist bewusst, dass das Geschichtsbuch die Geschichte anders erzählt. Doch die langen Jahre des Suchens und Findens lassen mich sagen, dass sich die Geschichte so zugetragen hat, wie sie hier zu lesen ist.
Wenn ich meiner Sache so sicher bin, warum dann ein Roman? Nun, die Antwort ist einfach. Biografien werden meist mit Blick auf die Vergangenheit geschrieben; da die historischen Fakten ja bekannt sind oder bekannt zu sein scheinen, weiß man im wahrsten Sinne des Wortes, wie die Geschichte ausgeht.
Doch die handelnden Personen wussten dies nicht, ihre Entscheidungen beeinflussten aus ihrer Sicht die Zukunft und wurden in der Gegenwart getroffen. Als ich zu schreiben begann, war mein Ziel, die Geschichte des Sonnenkönigs so aufzuzeichnen, wie er sie selbst erlebt haben mag, wie er sie empfunden und gedacht hat.
Doch diese Geschichte erzählt von zwei Personen, und im Laufe der Jahre und des Schreibens geschah es dann, dass die vorgeblich verschollenen Informationen über Louise de La Vallière so faszinierend waren, dass ich den großen König ein Stück habe zurücktreten und Platz machen lassen für seine vergessene Königin. Gerade weil die offiziellen Informationen hier um einiges dürftiger sind als im Falle des Königs, ist es mir besonders wichtig, ihren Lebensweg so aufzuzeichnen, wie sie ihn selbst erlebt und empfunden haben mag. Denn, davon bin ich überzeugt, man darf Geschichte nicht mit den aktuellen Kenntnissen bewerten, sondern mit denen, die die handelnden Personen zu ihrer Zeit hatten.
Entgegen der offiziellen Geschichtsschreibung gehe ich von folgenden Tatsachen aus:
Die Marquise de Montespan war niemals königliche Maîtresse. Das Ganze war ein einstudiertes, von ihr gefordertes Schauspiel.
Die natürlichen Kinder des Königs stammten von Louise de La Vallière. Der Duc du Maine beispielsweise trägt deutlich ihre Gesichtszüge. Da die Geschichte manchmal Humor hat, hinkte er übrigens, wie seine Mutter Louise.
Ein Kind der Montespan aus dieser Zeit wurde von ihr selbst zur Welt gebracht, der Vater ist aber nicht der König.
Die Marquise de Maintenon ist die Erzieherin, niemand sonst.
Der französische König ist Herr über die katholische Kirche in Frankreich und kann Gelübde lösen.
Louis XIV hat ein weiteres Mal geheiratet, und zwar Louise de La Vallière, die durch ihren neuen Namen die gleichen Initialen besitzt wie er. Hinsichtlich der Embleme an verschiedenen Bauwerken ist das von Interesse.
Louise de La Vallière ist Frankreichs vergessene Königin.
Ihre
Louise Bourbon
Prologue I
Alles hat seine Stunde¹.
Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:
Eine Zeit, geboren zu werden
Und eine Zeit zum Sterben
Eine Zeit zum Pflanzen
Und eine Zeit zum Ernten
Eine Zeit zum Töten
Und eine Zeit zum Heilen
Eine Zeit zum Niederreißen
Und eine Zeit zum Bauen
Eine Zeit zum Weinen
Und eine Zeit zum Lachen
Eine Zeit für die Klage
Und eine Zeit für den Tanz
Eine Zeit zum Steinewerfen
Und eine Zeit, um die Steine einzusammeln
Eine Zeit zum Umarmen
Und eine Zeit, die Umarmung zu lösen
Eine Zeit zum Suchen
Und eine Zeit zum Verlieren
Eine Zeit zum Behalten
Und eine Zeit zum Wegwerfen
Eine Zeit zum Zerreißen
Und eine Zeit zum Zusammennähen
Eine Zeit zum Schweigen
Und eine Zeit zum Reden
Eine Zeit zum Lieben
Und eine Zeit zum Hassen
Eine Zeit für den Krieg
Und eine Zeit für den Frieden.
Wenn jemand etwas tut, welchen Vorteil hat er davon, dass er sich anstrengt?
Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen.
Gott hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan.
Überdies hat er die Ewigkeit in alles hineingelegt,
Doch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott getan hat,
Von seinem Anfang bis zu seinem Ende wiederfinden könnte.
Alles, was Gott tut, geschieht in Ewigkeit.
Man kann nichts hinzufügen und nichts abschneiden.
Was auch immer geschehen ist,
war schon vorher da,
und was geschehen soll,
ist schon geschehen.
¹ Die Bibel, Buch Kohelet, 3,1–15, nach der freien Bibel von 1912.
Prologue II
Ce sont les hommes qui écrivent l’histoire, mais ils ne savent pas l’histoire qu’ils écrivent.
Es sind die Menschen, die die Geschichte schreiben, aber sie kennen die Geschichte nicht, die sie schreiben.
Raymond Aron
Manchmal geschehen Dinge in der Geschichte, Dinge, die solch großes Unrecht sind, dass die Personen, die es betrifft, keine Ruhe finden. Sie kehren zurück, bis die wahre Geschichte erzählt ist und unter das Licht der Sonne gefunden hat.
Eine solche Geschichte ist die vorliegende. Sie ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Eine Wahrheit, die, zugedeckt durch die Jahrhunderte, verfälscht, geschnitten, nun an den hellen Tag tritt, erzählt durch Erinnerungen der beiden, denen eben dieses Unrecht widerfahren ist. Es ist eine Geschichte, in der der Hass von der Liebe besiegt und die Schuld von der Vergebung gereinigt wird. Es ist die Geschichte einer Bestimmung.
Teil 1
1886
Oh, il est nécesaire de se construire de tels paradis, de tels lieux de refuges poétiques où l’on puisse oublier, pendant quelques temps, l’époque épouvantable où nous vivions.
Es ist notwendig, sich Paradiese zu schaffen, poetische Zufluchtsorte, wo man auf einige Zeit die schauderhafte Zeit, in der wir leben, vergessen kann.
Ludwig II. von Bayern
Kapitel 1
Au jeu d’échecs, ce sont toujours les fous qui se trouvent près du Roy.
Beim Schachspiel sind es immer die Läufer, die sich in der Nähe des Königs befinden².
Louise de La Vallière
Starnberger See, 13. Juni 1886
Die beiden Männer gehen am Ufer entlang. Trotz des Junitages ist es zu früher Stunde schon dämmerig. Regen kündigt sich an, ein Sturm.
Der König³ ist blass, eine ungesunde Blässe, fast grau.
»Seid Ihr noch immer überzeugt, dass Ihr das Richtige tut?«, fragt der Mann, der ihn begleitet.
Das Gesicht Ludwigs II. von Bayern wird hart. »Mehr als je zuvor, Herr Doktor.«
Spöttisch speit er sie aus, die letzten Worte. Er weiß, was sie ihm vorwerfen. Er weiß, dass man ihn loswerden will, ihn, den Unbequemen, dessen Gedankengänge so gar nicht in die neue Zeit passen wollen.
Er weiß, dass sie ihn für verrückt halten oder zumindest so tun. Ein verrückter König ist schließlich leichter zu kontrollieren, nicht wahr? Manchmal fragt er sich, ob es nicht seine Umgebung ist, die wahrlich verrückt ist.
Beim Schachspiel sind es die Verrückten, die in der Nähe des Königs sind. Au jeu d’échecs, ce sont toujours les fous qui sont près du Roy. Er lacht auf. Das Wortspiel amüsiert ihn. Les fous, so heißen im Französischen die Läufer beim Schach. Fou bedeutet aber auch: verrückt.
Der Arzt mustert ihn, will verstohlen nach seinem Notizbüchlein greifen, in dem er alles notiert, was der König tut, was ihn wirr erscheinen lässt. Lachen aus heiterem Himmel gehört dazu. Doch Ludwig II. von Bayern ist stark. Er weiß um seine Aufgabe, und er wird für diese kämpfen, bis zu seinem letzten Atemzug.
»Ja. Ich halte daran fest. Unverrückbar.« Fester umklammert er die Kassette unter seinem Arm.
»Das könnt Ihr nicht tun!« Von Gudden⁴ schreit es beinahe. Er fasst den König beim Arm. Dieser zuckt zurück. Dabei wird die unter seinem Mantel verborgene Kassette sichtbar.
»Mein Gott«, sagt der Arzt, »Ihr habt sie mit hierhergebracht?«
»Glaubt Ihr«, spuckt ihm der König entgegen, »ich lasse Dokumente von solchem Wert aus den Augen? Ich weiß doch, was man mit mir vorhat.«
»Majestät«, sagt der Arzt begütigend, »man hat gar nichts mit Euch vor. Das ist nur wieder eine Eurer Vorstellungen.«
»Pah«, macht Ludwig II. von Bayern. »Meine Vorstellungen, wie Ihr es nennt, kommen der Realität sehr nahe, mein Lieber. Daher werde ich tun, was meine Aufgabe ist.«
Der König deutet auf die Kassette. »Ich werde sie veröffentlichen. Alle. Es tut not, dass die Welt weiß.«
»Das könnt Ihr nicht tun!« Dieses Mal schreit der Arzt tatsächlich. »Wisst Ihr denn nicht, wie instabil das Gleichgewicht in Europa geworden ist? Deutschland ist in den Händen der Preußen. Frankreich ist wieder einmal Republik. Die Monarchie in Spanien wankt erneut. Man weiß noch nicht einmal genau, wer der Vater des spanischen Königs Alfonso XII⁵ ist!«
Der bayrische König lacht auf. Schon wieder ein Bourbone, der vermeintlich nicht königlicher Abstammung ist, zumindest nicht vonseiten des Vaters. Die Geschichte hat Sinn für Humor.
»All das wisst Ihr selbst, Majestät!«, fährt der Arzt fort. »Was wollt Ihr erreichen, indem Ihr Eure Funde der Welt präsentiert? Für die Gegner der spanischen Monarchie produziert Ihr Wasser auf deren Mühlen. Es wird keine Monarchie in Frankreich mehr geben. Die spanische gefährdet Ihr mit Eurem Tun! Also, Majestät, was treibt Euch an?«
»Gerechtigkeit«, sagt der König hart. »König Louis und Königin Louise haben lange genug gelitten. Ich will, dass die Welt weiß. Ich will, dass insbesondere die Königin ihren Platz erhält. Ich will, dass Frankreich von seiner vergessenen Königin erfährt. Von der liebenden Ehefrau. Von der Mutter, der man ihre Kinder nahm. Ich will, dass die Welt von einer Liebe hört, die größer ist als alle Beispiele der Literatur. König Louis ist einen steinigen Weg gegangen, um seine Frau an ihren Platz zu stellen. Ich werde einen steinigen Weg gehen, um die Geschehnisse zu bewahren; sie zugänglich zu machen.«
Der Arzt schnaubt. »Was seid Ihr doch für ein Idealist! Majestät, so begreift doch: Die Welt ist kein Märchen! Was kümmert Euch die Geschichte einer Frau, die vor mehr als einhundertfünfzig Jahren verstorben ist? Was kümmert Euch ein französischer König, der so tot ist wie die Monarchie in Frankreich?«
»Schweigt«, unterbricht der König barsch, »ich dulde nicht, dass Ihr so über die beiden sprecht. Solange man ihr Erbe bewahrt, ihrer gedenkt, sind sie nicht tot. Zudem äußert Ihr Euch da über meine Familie, mein Teurer.«
Der Arzt pfeift durch die Zähne. »Weil Euer Großvater⁶ Patenkind des unglücklichen Königs Louis XVI⁷ war? Majestät, das sind alles keine Gründe!«
»Ich denke doch«, erwidert der König entschlossen. »Das sind sehr gute Gründe. Ich bin geboren am Todestag von Saint Louis⁸. Ich bin mit den Bourbonen verwandt. Mir sind sie zugänglich gemacht worden, diese verschollenen Dokumente. Von anderen, die es noch gibt, hat man mir lediglich berichtet, ich habe sie nicht gesehen. Aber ich weiß, dass es sie gibt. Doch, mein Lieber, all das sind sehr gute Gründe. Bessere als das Bewahren eines Europa, das ohnehin in den letzten Zügen liegt.« Der Blick des Königs schweift über den See. »Europa wandelt sich«, sagt er leise, »da habt Ihr recht. Aber nicht zum Guten, mein Lieber, nicht zum Guten.«
»Ihr seid hoffnungslos in einer Zeit gefangen, die längst nicht mehr existiert!«, ereifert sich der Arzt.
Der König richtet den Blick auf sein Gegenüber. »Mein Lieber, wenn Ehre und Ehrenhaftigkeit keine Rolle mehr spielen, dann habt Ihr recht. Wenn Wahrheit nicht mehr zählt, habt Ihr recht. Dann, mein Lieber, bin ich gern aus einer vergangenen Zeit. Es ist meine Aufgabe, diese Dokumente der Welt zugänglich zu machen. Es ist meine Verpflichtung. Ich werde alles tun, ihr gerecht zu werden.«
Das Gesicht des Arztes verrät nichts. »Dann, Majestät«, er tritt auf den König zu, »bleibt mir keine andere Wahl. Ich muss Euch zurückhalten. Mit allen Mitteln.«
² Französisches Wortspiel: le fou ist der Läufer beim Schachspiel, aber auch der Verrückte.
³ Ludwig II. (1845–1886), König von Bayern, siehe Personenverzeichnis.
⁴ Johann Bernhard Aloys Ritter von Gudden (1824–1886), siehe Personenverzeichnis.
⁵ Alfonso XII (1857–1885), spanischer König, siehe Personenverzeichnis.
⁶ Ludwig I. (1786–1868), König von Bayern, siehe Personenverzeichnis.
⁷ Louis Auguste (1754–1793), als Louis XVI ab 1774 Roy de France et de Navarre, König von Frankreich und Navarra, siehe Personenverzeichnis.
⁸ Saint Louis, Ludwig der Heilige (1214–1270), ab 1226 als Louis IX König von Frankreich, Dynastie Capet. Sein Namenstag ist der 25. August, der auch als sein Todestag gilt.
Kapitel 2
Le premier précepte d’un Roy, c’est de savoir supporter la haine.
Die erste Lehre für einen König: wissen, wie man Hass erträgt.
Seneca
Ludwig II. von Bayern, 13. Juni 1886
Was habe ich getan? Das werde ich erklären müssen, wenn ich es noch kann. Ich umklammere die Kassette fester. Nicht mehr weit vom rettenden Ufer entfernt. Ich vermeide den Blick in die Richtung des treibenden Leibes. Flucht. Das Einzige, was mir noch bleibt. Flucht. Doch wie? Und wohin? Ich sehe zum Strand. Er scheint mir weiter entfernt zu sein, nicht näher.
Ich verdoppele meine Anstrengungen. Plötzlich durchzuckt mich ein brennender Schmerz. Ich will mein Herz halten, doch dann müsste ich sie loslassen, die Truhe, diese so kostbare Truhe. Ich darf es nicht.
Dieser Schmerz, noch einmal, er lässt mich nicht aus seinen Fängen. Ein Ring legt sich um meine Brust.
Heinrich, der Wagen bricht. Nein, Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen ...⁹
Auch mein Herz liegt in Schmerzen. Ich gebe der Natur nach, lasse die Kassette los. Sie versinkt in den Fluten des Starnberger Sees. Gott sei Dank ist sie dicht verschlossen.
Das Ufer, ich muss das Ufer erreichen. Meine Brust fühlt sich an wie in einem Schraubstock. Keine Kraft. Ich habe keine Kraft mehr. Plötzlich überkommt mich tiefe Ruhe. Ich drehe mich auf den Rücken, lasse mich treiben im aufgewühlten Wasser. Der Regen klatscht mir ins Gesicht und vermischt sich mit meinen Tränen. Habe ich versagt? Ich weiß es nicht.
Ich denke an das Versteck. Die Dokumente in der Truhe? Kopien. Die Originale? Verborgen unter den Böden von Herrenchiemsee, Hommage an Roy Louis XIV le Grand¹⁰ et son épouse Louise. Sa Reyne Louise¹¹. Seine Königin.
Ich muss vertrauen auf den Lauf der Welt. Eines Tages werden Menschen kommen, welche die Zeichen verstehen. Eines Tages werden Menschen die Botschaft von Herrenchiemsee lesen. Man wird sie finden, die Dokumente, die ich nicht mehr zeigen kann. Dann endlich wird die Welt verstehen und sie kennen, die wahre Geschichte des Sonnenkönigs und seiner Königin.
Ich gebe meinen Geist in Gottes Hand.
⁹ Zitat aus »Der Froschkönig« oder »Der eiserne Heinrich«, ein Märchen, in dem es primär um den Gedanken der Treue geht, aus den »Kinder- und Hausmärchen« der Gebrüder Grimm, Berlin 1825 bzw. 1843 mit angepasster Rechtschreibung
¹⁰ Louis XIV (1638–1715) dit le Grand, seit 1643 Roy de France et de Navarre, König von Frankreich und Navarra, siehe Personenverzeichnis.
¹¹ Louise de La Vallière, fut. de Bourbon (1644–1714), zweite Ehefrau des Königs Louis XIV, siehe Personenverzeichnis.
Kapitel 3
La vérité attend. Seul le mensonge est pressé.
Die Wahrheit kann warten. Nur die Lüge hat es eilig.
Alexandru Vlahuta
München, Juni 1886
Am Pfingstsonntag, dem 13. Juni 1886, findet man den entseelten Leib des Königs Ludwig II. von Bayern im seichten Wasser des Starnberger Sees. Sein Psychiater, Bernhard von Gudden, wird ebenfalls tot geborgen.
Am 15. Juni 1886 erfolgt die pathologische Untersuchung des königlichen Körpers in der Residenz zu München. Der Leibarzt des Königs, Dr. Max Joseph Schleiß von Löwenfeld¹², ist nicht von einer Geisteskrankheit Ludwigs II. überzeugt. Dennoch wird offiziell die Verrücktheit des Königs bestätigt. Die Ergebnisse der Autopsie sind bis heute nicht vollumfänglich der Öffentlichkeit zugänglich.
¹² Dr. Max Joseph Schleiß von Löwenfeld (1809–1897), siehe Personenverzeichnis.
Teil 2
1714 – 1739
Ayez une cassette pour mettre ce que vous aurez de particulier, dont vous aurez seul la clé.
Habet eine Kassette, in der Ihr alles einschließt, was Ihr für bedeutsam erachtet, und zu der Ihr allein den Schlüssel besitzt.
Louis XIV,
Instructions au Duc d’Anjou¹³
¹³ Anmerkungen am Ende in den »Erläuterungen zum Text«.
Kapitel 4
L’Esprit fait durer l’heure pendant les siècles et fait que l’Âge du monde se résume à une heure.
Der Geist erweitert die Stunde zum Jahrhundert und zieht ein Weltalter in eine Stunde zusammen.
Ralph Waldo Emerson
Marie Anne¹⁴, 1739
Alles geht zu Ende. Ich bin die letzte Hinterbliebene; die letzte, von der man weiß, will ich sagen. Ich werde bald sterben, ich spüre es. Ich muss meine Angelegenheiten regeln. In diesem Zusammenhang habe ich sie wieder hervorgeholt – die gemeinsamen Aufzeichnungen, Notizen, Berichte, Briefe meines Vaters und meiner Mutter.
Ich habe wahrhaft illustre Eltern: Mein Vater ist