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LIEBE KANN
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eBook287 Seiten4 Stunden

LIEBE KANN

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Über dieses E-Book

Der alte Siegmund Moers ruft seinen Bekannten Dr. Paul Jaber an und berichtet, mit der ›dreimal nein, dreimal ja-Formel‹ besitze er den Schlüssel, wie wir Menschen uns das Leben fundamental erleichtern könnten. Paul hört Siegmund interessiert zu, ist aber vor allem mit der Bemerkung des Alten beschäftigt, er habe eine nette Tochter zu vergeben. - So einfach nimmt Liebe ihren Lauf, bis die schöne Welt ins Schlingern gerät ...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. März 2016
ISBN9783734515309
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    Buchvorschau

    LIEBE KANN - Peter J. Klein

    ALLES AM ANFANG

    1

    Verdammt lang ist’s her. In Pauls Erinnerung aber könnte es gestern gewesen sein. Als junger Mann wollte er Weltmeister wie Fritz Walter werden. Jahre später träumte er davon, wie Juan Manuel Fangio durch die Kurven zu rasen. Nachts lag er wach und stellte sich vor, wie ein Adler durch die Lüfte zu fliegen, oder er erlebte sich als Nettmensch, von jedem bejubelt und geliebt.

    Wann das genau war, dass er als Maurer oder Lokomotivführer sein Leben verdingen wollte oder sich vorstellte, als Casanova sein Glück zu finden, konnte er nicht mehr sagen. Nur eins war klar: Er ist von Klischee zu Klischee gejagt, wollte mit Macht der Größte sein oder die Verkörperung des Guten. Und er musste immer aufs Neue feststellen, wie riesig die Erwachsenen waren im Verhältnis zu ihm, dem »Spinnchen«, wie ihn die Eltern früher nannten.

    Ohne Zweifel hatte er niemals seinen Erwartungen genügt. Nie wurden die Dinge so, wie er sie wollte. Immer öfter erlebte er sich einerseits als Clown, der die Welt zu Freudentränen rührte, dann wieder nur als lächerlich. Irgendwie hatte er es nie wirklich gebracht. Im Laufe der Jahre wurden seine Fantasien weniger, und doch blieb er dabei: Etwas Großes musste noch kommen. Weil der Alltag zu durchschnittlich war?

    Oder hatte er schon als Kind etwas verstanden? War er etwa dazu berufen, der Welt den Spiegel vorzuhalten? Auch wenn er sich nur bruchstückhaft an seine frühe Lebenszeit erinnerte, eins wusste er noch genau: Er hatte immer gelitten, war in Not geraten, wenn er Menschen leiden sah. Selbst bei Filmen im Fernsehen spürte er so etwas wie Panik und guckte unauffällig weg oder ging aus dem Zimmer, weil er nicht zusehen konnte, wenn Leute zum Dummerjan degradiert wurden oder ein Mensch den anderen planmäßig hinterging. War das sein ureigenes Problem? Hatte er immer Angst, Lachnummer zu werden, Witzfigur?

    Mit Anfang zwanzig fragte er in seinem ersten Gedicht: »Wirst du mich lieben, wenn ich weine, wirst du mich lieben, wenn ich versage?« Nein, das war klar, dies vermaledeite ›du‹ im Gedicht würde ihm nicht die Tränen trocken und ihn nicht liebevoll in die Arme nehmen. Also musste er was leisten, musste schuften, damit er bekäme, wonach er sich verzehrte. Die Schlusszeile des Gedichts lautete: »Durch Kämpfen zum Glück? Einsamer war ich niemals zuvor.« Auch wenn er offenbar einsamer war als gedacht, nach außen schien er glücklich. Seine Freunde sagten: »Dir geht es gut, Paul! Das sieht man dir an«, als ob sie ahnten, dass er das dringend hören wollte. Er hat diese Sicht gerne übernommen. Ja, ihr habt recht, da gibt es keinen Zweifel! Ich bin Strahlemann persönlich, mit Leib und Seele glücklich.

    Zweifel ließen sich nicht mehr vermeiden, als er, der tolle Hecht, mit fünfzig Jahren zusammenbrach. Mit schwerer Lungenentzündung und einem seltsamen Fleck auf der Lunge im Krankenhaus gelandet, schwanden all seine Sicherheiten. Immer wieder war er entsetzt: Hatte er alles falsch gemacht, war er ein Versager, ein Nichts?

    Schlingernd zwischen Sich-gesund-Reden und Panikgefühlen, war er wild entschlossen: Das darf dir nicht wieder passieren, dass du schlappmachst. In Zukunft wirst du, das ist klar, dein Leben in jeder Hinsicht besser gestalten! Gut gesagt, aber die Frage war: Wie? Und: Wer ist er überhaupt, wo will er hin?

    Nach dem Zusammenbruch war er voll guter Absichten gewesen, aber bald begann er zu kapieren: Mit jeder Stunde, in der es mit ihm gesundheitlich aufwärtsging, geriet sein großes Ziel aus den Augen, dass er sich in Zukunft besser fühlen wollte in seiner Haut. Es ging ihm doch schon wieder besser! Dass man mal umkippt, kann jedem passieren.

    Nein, so nicht, rief er sich zur Ordnung. Sich immer gesund reden, darf nicht mehr sein. Er wollte sich nicht weiter belügen! Er atmete tief durch und trottete zum Kiosk im Krankenhaus, besorgte sich Block und Schreibmaterial, entschlossen, alles zu notieren, was ihm in den Sinn kam, was ihn bedrückte. Ja, er musste Antworten finden auf die Frage, was bei ihm falsch gelaufen war und wo und wie er etwas ändern konnte. War etwa seine Partnerin schuld oder sein Job? War es von außen gekommen oder von innen, dass er jetzt auf der Schnauze lag? Oder stand er sich in Wirklichkeit schon sein ganzes Leben lang im Weg?

    Dauernd neue Fragen! Dazu das tiefe Gefühl, wie müde er war, nein, regelrecht erschöpft. Sobald er sich anstrengte, musste er sich hinlegen. Er verstand: Genau dieses Gefühl kannte er gut! Er hatte es schon oft gehabt, wenn er sich unbeobachtet wähnte. Das hieß also … Was hieß das nur? Wollte er vor den Fragen flüchten oder war er einfach zu müde? Weil er zu jeder Hochzeit gerannt war, zu selten aber zu Beerdigungen? Ihm stockte der Atem.

    Warum Beerdigungen? Was sollte das mit den Hochzeiten? Wer konnte etwas dagegen haben, dass er es mochte, fröhlich einen draufzumachen? Andererseits durfte er natürlich nicht verleugnen, dass er sich manchmal übernahm, nein, öfters, eigentlich dauernd. War das der Punkt, den er sich genauer angucken sollte? War das der berühmte Sargnagel für ihn? Gab es auch noch andere Aspekte? Waren da noch weitere Abgründe, die er im Moment beim besten Willen nicht sah?

    Einen Moment lang durchströmte Freude seinen Körper, er atmete erleichtert durch: Wenn er an seiner Situation nichts ändern kann, hat der Teufel sein Recht verloren. Er konnte also nichts machen. Er lächelte, spielte an den Händen, bis er sich klar machte: Auch die beste Ausrede bringt ihn nicht weiter. Er muss etwas bei sich ändern, wenn er nicht krepieren will.

    »Wenn ich nicht krepieren will«, wiederholte er laut und kratzte sich am Stoppelbart. Schmerzliche Worte, wo er doch noch so schwach war mit dieser Lungenentzündung und einem Fleck auf der Lunge, der alles bedeuten konnte oder auch nichts. In seinem Inneren vermengten sich Angst und Hoffen zu einem Knäuel.

    ***

    Paul stoppt bei der Lektüre und fragt sich unruhig: Könnte das der Anfang sein von einem Buch, das Tausende in seinen Bann zieht, damit die Welt etwas anders wird?

    Er fliegt über die Seiten und spürt den dringenden Wunsch, den Roman neu zu schreiben, noch mal bei null zu beginnen. Aber er bremst sich, sagt laut: »Das passt zu dir! Nie ist etwas okay. Niemals bist du zufrieden. Du würdest am liebsten immer neue Anfänge schreiben und so niemals fertig werden. Damit man dich nicht in der Luft zerreißt oder, fast noch schlimmer, dass man dich gar nicht erst zur Kenntnis nimmt …« Paul flucht, fährt laut und entschieden fort: »Also keine Veränderungen! Wenn, dann später!« Er nimmt den nächsten Stapel Blätter aus dem Romanordner und setzt seine Lektüre fort.

    ***

    Nach elf Wochen wurde er aus dem Krankenhaus entlassen – zum Glück ohne Lungenkrebs, aber weiter irgendwie grundlos erschöpft. Grundlos? Paul war Monate und Jahre durch die Gegend geirrt, hatte sich in Sackgassen verlaufen, hatte sich im Wirrwarr der Wege verloren. Er glaubte, Schritte nach vorne zu tun, dann wieder zurück, bis es ihn urplötzlich überkam: Doch, er hat Schritte geschafft! Gerade eben hörte er so etwas wie eine freundliche innere Stimme, die sagte: »Junge, eigentlich bist du okay, wie du bist!« Irre war das, unglaublich! »Du bist okay«, hat die Stimme gesagt. Ein paar Tränen stiegen ihm in die Augen. Weinen gehört sich nicht für Männer. Höchstens Freudentränen. Er fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht und fühlte sich benommen. Konnte das wahr sein, was er gerade erlebt hat? Er und okay? Wahnsinn der Gedanke!

    Das war schon in seiner Kindheit so. Soweit er sich erinnerte, gab es damals immer nur Stimmen, die nicht zufrieden mit ihm waren, um ihn im nächsten Moment dann wieder anzufeuern: »Nun streng dich mehr an, Paul. Warum kannst du nicht so gut sein wie der Bruder?«

    So gut wie sein Zwillingsbruder Rudolf. Mit dem wurde er Tag und Nacht verglichen, und das seit dem Tag, als sie das Licht der Welt erblickt hatten. Es war ein alltäglicher Sport der Nachbarn und Bekannten: Die Zwillinge anstarren und nebenbei mit Kennerblick ein Urteil abgeben, nach dem Motto: »Der eine im Kinderwagen, der mit dem runden Gesicht, ist aber netter als der andere! Ist es nicht schön, wie lieb der guckt?« Solche Worte schmerzten, obwohl Paul natürlich nicht sagen kann, wieweit er sie schon im Kinderwagen verstanden hatte. Später jedenfalls haben die Kommentare verdammt wehgetan, als er besessen hampelte und strampelte für ein bisschen Jubel und dabei durchaus erfolgreich war. Aber der Bruder war besser. Paul brachte einfach niemals genug.

    Und dann, nun plötzlich, wie aus dem Nichts, diese freundliche innere Stimme, die in die andere Richtung zielte und ihm verkündete, er sei okay! Ungefragt gab die Stimme auch noch Einzelheiten preis: »Das ist ein deutlicher Unterschied zu früher. Du redest und argumentierst anders, lächelst entspannter, hast auch nicht mehr diesen unruhigen Blick. Du findest langsam in eine gute Spur.«

    Mein Gott, wie gut es Paul tat, dass er sich nicht weiter schlecht machte, sondern sich immer häufiger gut fühlte in seiner Haut. Gerade betrachtete er in Ruhe im Badezimmerspiegel dieses Gesicht, das ihm gehörte und murmelte: »Ja, ich bin okay, wirklich okay!« Und fügte dann entschlossen hinzu: »Das darf ich nie mehr vergessen!«

    Paul wusste, wem er Entscheidendes verdankte. Das war sein Kumpel im Krankenhaus gewesen, der ihm damals wiederholt gesagt hatte, er dürfe sich nicht so negativ sehen. »Sie müssen lernen, ›ja‹ zu sich zu sagen in den Grenzen und Möglichkeiten, die zu Ihnen passen.« Na klar, das war typisch für den alten Moers, mit dem er ein Zimmer geteilt hatte. Der hatte ihm unglaublich gutgetan!

    Dabei war er zunächst in seinem vom Fieber benommenen Kopf entsetzt gewesen über den Menschen im anderen Bett. Musste das sein? Warum ein alter Mann, in seinem Zimmer, direkt neben ihm? Nach und nach kapierte er aber: Auch wenn er nicht an Gott glaubte, dieser Mann war sein Schutzengel, weil – er half ihm tatsächlich, langsam die eigene Spur zu finden, öfter ›ja‹ zu sich zu sagen. Paul grinste und nickte: Die innere Einstellung ist entscheidend, das hatte ihm der alte Moers immer wieder gesagt. Eine verrückte Geschichte, wie dieser Mann – immer mit Fliege in knalligem Jackett, dazu bei Sonne und Regen mit einem Strohhut auf dem Kopf – friedlich, freundlich, aber irgendwie zwingend, auf ihn einredete, bis Paul begann, sich in einem anderen Licht zu sehen. Damit er nicht allzu früh unter der Erde liegt, hatte Herr Moers ihm in den Krankenhaustagen erklärt, müsse er sein Leben von Grund auf ändern, oder besser gesagt, nicht das Leben: »Paul, Ihre Einstellung ist das Problem!« – Es gab viele solcher Gespräche mit Moers. Der Alte wurde in diesen Tagen zu seinem wichtigsten Gesprächspartner.

    Und dann verschwand Moers plötzlich von der Bildfläche. Von einem Moment zum nächsten war er nicht mehr da. Stunden später tauchte eine Krankenschwester auf, bezog sein Bett neu und erklärte mit ernstem Blick, Herr Moers sei auf der Intensiv, er liege im Sterben.

    ***

    Paul unterbricht die Lektüre. Versonnen schaut er vor sich hin und verzieht das Gesicht. Immerhin, bei ihm hat sich wirklich was getan. Bis dahin waren das kleine Schritte, aber gute – und dann gehen unerwartet neue Türen auf – verändert sich das Leben – und wie!

    Paul nimmt die nächsten Blätter, liest weiter.

    2

    Dienstag, 12. November 2013

    Einige Jahre nach dem Tod seines großen Vorbildes läutete Dienstagnachmittag gegen 15 Uhr bei Paul das Telefon. Als er den Hörer abnahm, hörte er lautes Lachen, dann ein »Hallo, hallo!« und »Ja, ich bin’s. Ich bin noch nicht tot! Stellen Sie sich vor: Ich bin bei unserem damaligen Aufenthalt im Krankenhaus nicht gestorben, obwohl man mir seinerzeit angedeutet hat, mein letztes Stündchen habe geschlagen. Es sei höchstens eine Frage von Tagen …«

    Paul war außer sich vor Freude. »Hallo, Herr Moers, lieber Herr Moers«, jubelte er.

    »Sind Sie es wirklich? Was freue ich mich, dass Sie noch leben! Waren Sie die ganze Zeit im Krankenhaus?«

    »Sehr oft im Krankenhaus oder bei meiner Tochter. Das mit der eigenen Wohnung war irgendwann nicht mehr drin. Ich war lange Zeit gesundheitlich böse dran, schlimmer als schlimm, könnte man sagen. Und dann die Chemos und Bestrahlungen. Ich habe mich oft gefragt, ob das noch Sinn macht. Und doch, wenn ich im Moment ein bisschen Ruhe habe, jedenfalls keine Chemo bekomme, ist das Schreckliche schnell verdrängt, fast vergessen.« Nach einem Moment Schweigen setzte Moers neu an: »Aber, wie geht es Ihnen und wie geht es Eva, Ihrer schönen Partnerin? Sind Sie noch zusammen, vielleicht gar verheiratet? Eine sehr kluge Frau war sie!«

    Paul zögerte eine Sekunde und erklärte: »Wir sind getrennt, seit Längerem schon. Eva lebt seit zwei Jahren in Südafrika – neue Herausforderung, neuer Mann und sie arbeitet wieder mit Kindern. Ich kann nicht leugnen: Seitdem wir nicht länger Besitzansprüche beim anderen anmelden, verstehen wir uns gut, wenn wir uns sehen oder miteinander telefonieren …«

    »Dann sind Sie noch gar nicht endgültig getrennt«, lachte Moers und wiederholte: »Eine sehr schöne Frau, Ihre Eva, kann ich nicht anders sagen.«

    »Schönheit verstellt den Blick aufs Wesentliche«, erwiderte Paul und fragte, um das Thema zu wechseln: »Wir haben uns lange nicht gesehen. Ist bestimmt schon fünf Jahre her!«

    »Deutlich länger, ich würde sagen neun Jahre. Ich hatte übrigens vorige Woche Geburtstag, bin jetzt achtundachtzig, das jedenfalls habe ich geschafft! Ja also, es muss länger her sein, dass wir im Krankenhaus zusammen waren. Mit meiner Gesundheit ging es immer weiter bergab. Aber ich habe nicht aufgegeben. Manchmal sah ich aus wie der Tod.«

    »Und tragen Sie weiter Ihre Fliege?«, fragte Paul nach.

    »Immer und überall mit Fliege und knalligem Jackett! Sah wahrscheinlich ziemlich lächerlich aus, wie ich in den Jahren durch die Gegend kroch. Ich bin im Laufe der Zeit immer dürrer geworden! Aber warum mit achtundachtzig noch sein Outfit ändern? Meine Kleidung hängt an mir. Vielleicht wollte ich mir einen Rest Würde bewahren – alles mithilfe der Fliege!« Moers lachte. »Erinnern Sie sich, damals im Krankenhaus habe ich Ihnen erklärt, dass es kein Zufall ist, dass wir uns gefunden haben.«

    »Es gibt keine Zufälle, haben Sie immer wieder gesagt«, bestätigte Paul. »Mir ist bewusst, wie wichtig Sie mir in den Krankenhaustagen waren. Ich habe danach wieder und wieder innerlich mit Ihnen geredet, wobei ich dachte … ich hatte keine Hoffnung, dass wir uns wiedersehen. Komisch war das. Wie soll ich’s beschreiben? Sie waren im Himmel, und ich war Ihnen sehr nah.«

    Nach einem Moment Stille, als nur das schwere Atmen von Moers zu hören war, sagte Paul leise: »Mein Gott, Sie leben, ist das schön! Ich erinnere so viele Gespräche mit Ihnen. Wissen Sie noch, was Sie alles gesagt haben? Wir Erwachsenen sind nur Karikaturen unserer Möglichkeiten, haben Sie immer wieder betont und außerdem – was mir besonders haften geblieben ist – Sie haben gerne von unserem Leben als Gefängnis gesprochen, bei dem die Tür weit offen steht.«

    »Die Tür steht offen, doch wir nutzen das nicht, nutzen unsere Chancen nicht! Genau so habe ich es gesagt. Toll, dass Sie das behalten haben!«

    »Darf ich Sie noch weiter zitieren? Warten Sie, ja, Sie haben immer wieder kritisiert, dass wir all unsere Energien vor allem in Äußerlichkeiten stecken, statt dafür zu sorgen, dass wir mehr Einklang mit uns und unserem Denken und Fühlen finden. In einem Satz: Sie waren unglaublich wichtig für mich. Das werde ich nie vergessen!«

    »Wenn das damals gut war mit mir … freut mich zu hören! Dann kann ich ja weiter einreden auf Sie. Tut einem alten Mann natürlich gut, wenn ihm Jünglinge zuhören wollen.« Herr Moers lachte. »Aber jetzt im Ernst: Das war ein starker Impuls in den letzten Jahren, das war wie ein Muss, dass ich noch mal mit Ihnen rede. Ich wollte natürlich erfahren, wie es Ihnen geht und dann, darüber hinaus … da war auch diese Hoffnung, dass Sie für mich ein Sprachrohr sein könnten, wenn Sie verstehen.«

    »Nein, ich verstehe Sie nicht. Was meinen Sie mit ›Sprachrohr‹?«, fragte Paul ein wenig irritiert.

    »Es ist so«, sagte Siegmund Moers, »wie andere ihren Sinn erfüllen, indem sie einen Baum pflanzen, Kinder in die Welt setzen oder ein Häuschen bauen, wäre es für mich wichtig, wenn Sie mir helfen, einige meiner Gedanken in die Welt hinaus zu tragen. Ja, bitte, bitte, helfen Sie mir! Ich denke, ich habe den Schlüssel gefunden, damit unsere Welt ein bisschen friedlicher, ja glücklicher wird und das ohne Religion oder Esoterik, ohne Drogen und all den anderen Firlefanz, von dem die Menschen schwärmen, weil sie es nicht besser wissen.«

    »Aber wie wird die Welt glücklicher? Was ist für Sie ›Firlefanz‹?«, fragte Paul nach und hörte den Alten schimpfen, es sei Wahnsinn zu hoffen, das Glück käme mir nichts, dir nichts zur Tür hinein geschritten über mehr Macht, mehr Geld oder mehr Größenwahn.

    »Fehlgeleitete Träume sind das«, schimpfte Moers und erläuterte, mit dieserart Träumen lande man eher in einer Depression als in einem wie auch immer gearteten Glück.

    »Aber Sie besitzen den Schlüssel zu einer besseren Welt?«, hakte Paul mit einiger Skepsis nach und lauschte seinem alten Freund, der erklärte, das Geheimnis unseres Wohlergehens liege in unserer Einstellung verborgen. »Wie stellen wir uns zu der Welt und vor allem zu uns selber, ist die Frage aller Fragen«, sagte er und wurde heftig: »Stellen Sie das Navigationsgerät in Ihrem Inneren nicht länger auf ›schneller, besser, immer der Erste‹, sondern geben Sie als Ziel des Lebens ein, dass Sie ›Ja‹ sagen zu sich als Mensch – und das mit Ihren Schwächen, aber auch großartigen Möglichkeiten! Verstehen Sie, es geht um Ihre Anlagen und die Möglichkeiten, die zu Ihnen passen. Die sollten Sie, sollten wir alle entwickeln!«

    »Mann, oh Mann«, sagte Paul ins Telefon hinein, schwieg eine Sekunde und wiederholte versonnen: »Seine Möglichkeiten entwickeln« als Moers aufgeregt weiter sprach.

    »Das ist natürlich extrem wichtig, dass wir genau hingucken, wer wir sind und wann wir uns wirklich gut fühlen in unserer Haut«, denn, daran gäbe es für ihn als alten Mann keinen Zweifel mehr, »Menschen, die im Einklang mit sich sind, brauchen nicht länger um sich zu schlagen.«

    Da Moers schwer atmend innehielt, fragte Paul: »Verstehe ich Sie richtig? Geht es Ihnen darum, dass wir weniger auf die Heilsversprechungen von außen achten, sondern mehr für unser Inneres tun, also für uns selber sorgen?,« als Moers laut jubelte: »Sie haben verstanden! Das ist der Punkt! Viel mehr hineinhorchen in das, was Bauch und Verstand uns sagen! Was sind unsere tieferen Gefühle? Was genau macht mich zu dem, der ich bin?«

    »Wow, harter Tobak ist das, wie Sie das kapitalistische Denken verdammen. Das muss ich noch ein wenig verdauen, was Sie da verkünden«, murmelte Paul – war aber in Gedanken woanders: Ging es bei dem Telefonat nicht nur um das Wohl der Welt, sondern etwa auch um sein persönliches Glück? Paul war auf geregt, nein elektrisiert von einer Bemerkung, die der Alte vor einigen Momenten wie nebenbei vor sich hin gesagt hatte. »Ich habe eine nette Tochter zu vergeben«, hatte er verkündet, woraufhin eine zornige, nein, eher lachende Frauenstimme den Alten heftig beschimpfte, er sei unmöglich, ein richtiges Ekelpaket.

    Noch einmal: War das zufällig, was Vater Moers da gesagt hatte? Oder hatte der Alte mit Bedacht gesprochen, da er sich an Pauls zwei Scheidungen erinnerte. Und dann hatte Moers noch diese ›zufällige‹ Frage gestellt, ob er und Eva noch zusammen seien. Paul atmete tief durch: Will der Alte seine Tochter und ihn verkuppeln, so etwas wie Matchmaker oder Glücksbote sein? Ist das der Anfang einer Liebe? Beginnen die Hochzeitsglocken zu läuten?

    Mit einiger Mühe konzentrierte sich Paul wieder auf das Telefonat, in dem Moers gerade seine Bitte an ›Freund Paul‹ wiederholte, er möge bitte, bitte sein Sprachrohr sein, um im gleichen Atemzug zu verkünden, er habe noch Manches zu erledigen, bevor er weggehen könne von dieser Erde.

    Da Paul nicht wusste, was er erwidern sollte und daher einfach schwieg, bat der Alte unverblümt. »Bitte, bitte ehrlich sein: Haben meine Ratschläge aus unserer gemeinsamen Zeit im Krankenhaus bei Ihnen Früchte getragen? Ich brauche Ihre Komplimente, auf der Stelle – das war mir eben nicht Lob genug!«

    »Ganz wie Sie wollen«, lachte Paul. »Also ehrlich – durch Sie hat sich mein Leben stark verändert. Damals war ich irgendwie überzeugt, dass die meisten Menschen ihr Leben sehr gut im Griff haben – nur ich brachte es nicht, ich war halt ein Versager! Durch Sie habe ich anders sehen gelernt. Darf ich das so formulieren? Durch Sie bin ich endlich Mensch geworden! Sie waren mein Vorbild, eine Art Ziehvater.«

    »Was haben Sie gesagt? Das müssen Sie mir noch

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