Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Umba: Roman
Umba: Roman
Umba: Roman
eBook287 Seiten4 Stunden

Umba: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Luca Berend, 30, Informatiker, lebt seit vier Jahren in Minnesota. Das Leid einer eben in die Brüche gegangenen Beziehung machte es ihm leicht ein Jobangebot jenseits des Atlantiks anzunehmen. Einzig seinem Großvater, den er als kleines Kind Umba nannte, fühlt er sich bis jetzt verbunden. Umba war es auch, dem er sein Leid anvertraute. Weil sein Großvater in der Klink lag und nicht mehr laufen konnte, kam er jeden Tag und schrieb Umbas Beziehungsgeschichten in ein Buch.
Jetzt sitzt er im Flieger nach Frankfurt zu seiner Beerdigung. Die Farmerstochter Ava lernte er vor zwei Jahren kennen. Nun ist sie seine Frau und bleibt wegen der Schwangerschaft zu Hause.
Luca Berend hat keine Ahnung, dass ihm bald nach der Landung in seiner früheren Heimat sein damaliges Leben heftig um die Ohren fliegt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Juni 2021
ISBN9783347345126
Umba: Roman

Ähnlich wie Umba

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Umba

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Umba - Jochen Rinner

    ~~ 1 ~~

    Der verdreckte Pick-up stoppt quietschend am Terminal des Saint Paul International Airport. Es war knapp, aber ich, Luca Berend, beuge mich zu Ava hinters Steuer und kralle mich sanft in die Locken ihrer schwarzen Mähne - der Augenblick wird zur Ewigkeit -, löse mich von ihren Lippen und neige mich hinab, wo es sich über dem locker hängenden Gürtel ihrer Jeans schon merklich wölbt. Nun muss ich laufen, wenn der Flieger mit mir abheben soll. Sonst wäre auch der Anschluss in Toronto nach Frankfurt weg.

    Ich wollte Ava bei mir haben, aber sie schüttelte energisch den Kopf: Nein, zwei Tage im Flugzeug, seine Familie kenne sie nicht, die Beerdigung. Jetzt kommt das Baby, es wäre wirklich zu viel. Aber sie wisse, dass er seinen Großvater immer sehr mochte.

    „Bis bald ihr zwei."

    Ich reiße die hintere Tür auf, zerre meinen Koffer und die Tasche heraus und eile davon, halte im Eingang inne und sehe zurück. Sie winkt mir mit ernstem Blick zu. Ist das jetzt wirklich richtig? Ich will schon umkehren, aber das große Auto zieht an und ist im nächsten Moment verschwunden.

    Ich bin der Letzte am Schalter, dann wird der Flug geschlossen. Sicherheitskontrolle, Boarding, und ich war auch der Letzte, der von der Flugbegleitung und dem Copiloten begrüßt wurde. Mein Platz ist Last Minut ganz hinten am Mittelgang neben einer Frau mit grauem Haar und einem halbwüchsigen Mädchen. Es sitzt am Fenster und sieht dem Einfahren des Gates zu. Ich verstaue meine Tasche und sinke aufatmend in meinen Sitz, weil es heute verrückt war. Wir hatten hundertzwanzig Meilen zum Flughafen von der Farm an einem der zahlreichen Seen mitten in Minnesota, die einst irische Einwanderer vor vielen Generationen der Wildnis abgerungen hatten. Und Avas Ur-Urgroßvater war es, der dieses Mädchen von den Philippinen heiratete, eine exotische Schönheit, von der das vergilbte Hochzeitsbild im Salon zwischen den Fotos der Bildergalerie Zeugnis gab. Und Ava sieht ihr ähnlich, das volle schwarze Haar, die dunklen Augen. Nur so klein ist sie nicht, sie ist groß und schlank. - Nein, nicht dürr, das Leben auf der Farm ließ sie kräftig werden.

    Wir nahmen uns heute Morgen Zeit im Bett, wenn ich schon eine Woche wegwollte, hörten nebenbei das Auto ihrer Eltern, die auf dem Weg in die Stadt vom Hof fuhren, und auch Jon tat das mit dem großen Traktor, der in die Werkstatt musste. Wir zogen uns an und wollten gemütlich zum Frühstück. Ava streckte sich vorm offenen Fenster und erschrak: „Luca, die Rinder sind am See!"

    Robin, der neue Stier, den sie bei einem Farmer im Westen tauschten gegen ihren eigenen - wegen frischen Blutes in der Herde - hatte es nicht leicht mit seinen neuen Kühen. Er gebärdete sich wie wild, ist wohl wieder ausgebrochen und seine Kühe sind ihm in die Freiheit gefolgt. Nein, das konnten wir nicht lassen. Ava weckte ihren jüngeren Bruder und sie schwangen sich auf die Pferde, ich auf mein Motorrad, das Geländereifen hatte, seit ich hier wohne. Reiten lernte ich schon, aber für einen Cowboy reichte es noch nicht. Wir trieben die Herde wieder in die Koppel, flickten den Zaun und mein Schwager versprach sich zu kümmern, bis die Eltern zurück sind. Das Frühstück fiel aus, wir sprangen ins Auto und hofften, nicht in den Dunstkreis irgendeines Sheriffs zu geraten.

    Jetzt sitze ich hier, mein Gewissen plagt mich und ich vermisse Ava jetzt schon. Vor zwei Tagen kam per Mail die Nachricht vom Tod meines Großvaters und es fuhr mir durch und durch. Mehr als vier Jahre ist es her, als ich ihn zum letzten Mal sah.

    Meine Eltern besuchten mich ein einziges Mal, aber ihr Sohn wollte nicht in ihre kleine Firma für Sicherungssysteme und Alarmanlagen einsteigen, immer noch nicht. Die Enttäuschung war groß. Und ihre Arbeit nahm sie wohl sehr in Anspruch. Das sie Großeltern werden, Ava meine Frau ist, wissen sie noch nicht.

    Die Maschine steht an der Piste, die Triebwerke fauchen, dann drückt es mich in den Sitz. Das Rollen hört auf und die Erde unter uns verschwindet. Ich mag das nicht, mochte das noch nie, fühle mich eingesperrt, hilflos, ausgeliefert, es war nicht mein Gefühl von Freiheit des Fliegens. Das hatte ich einmal in meinem letzten Schuljahr. Daran war eigentlich auch mein Opa schuld, als er mir erzählte, wie er in den fünfziger Jahren als kleiner Bub seinem Großvater bei der Getreideernte half. Eine Mähmaschine hatten sie schon, die von Muggel, dem alten Wallach, gezogen wurde. Die mähte anderthalb Meter breit die Halme und legte sie sauber gradewegs nach hinten um. Dann folgten die Frauen, rafften einen Armvoll zusammen, so stark, dass sie mit einem Strang zusammengelegter Halme gebunden wurden. Das nannten sie Garbe. Die Kinder halfen je fünf von den Garben aufrecht aneinanderzustellen. Das nannten sie Puppen. Dann stand das Feld voller Puppen. Es beeindruckte mich so, dass ich später davon träumte: Ich flog langsam über dieses Feld voller Puppen, schwebte, konnte steigen nur mit dem Willen die Brust leicht zu strecken. Das Licht war heller, als ich es je mit Augen sah, ohne zu gleißen. Und das Gelb der Stoppeln und der Puppen war stark, tat so wohl und wärmte. - Dann lag ich wach im Bett. Das Gefühl sank in sich zusammen, es blieben ein paar nackte Bilder. Die habe ich immer noch, wenn ich sie nur hervorholen will, aber dieses Gefühl nie wieder. Es bleibt nur eine Art wehmütige Erinnerung.

    Jetzt knurrt mir der Magen. Erschrocken sehe ich zu meiner Nachbarin, die es hätte hören müssen. Aber sie schläft. Das Mädchen neben ihr sieht aus dem Fenster und hat Stöpsel in den Ohren. Wann kommt der Snack, falls es die kaum zwei Stunden bis Toronto überhaupt etwas gibt? In Toronto geht es nicht gleich weiter, bis dahin werde ich wohl nicht verhungern.

    Jetzt bin ich auf dem Weg zu meinem Großvater, und der wurde mit jeder Meile lebendiger. Ich würde ihn gern noch einmal sehen, bevor der Sarg in die Erde sinkt. Ich muss allerdings mit Wehmut zugeben, die letzten vier Jahre in Minnesota nur selten an ihn gedacht zu haben. Eigentlich ging mir erst in letzter Zeit auf: Ihm verdanke ich dieses Leben, wie es jetzt ist: dieses Leben ausfüllen zu können. Ja, auch Ava. Hätte es wieder vermasselt, wenn ich die Zeit mit meinem Großvater nicht gehabt hätte, auch wenn es schon ziemlich lange her ist. Ja, Ava ist das größte Geschenk, sie lässt mich jetzt fliegen, weil sie es wusste.

    Es war die Zeit, als er mir von der Kornernte erzählte. Großvater fragte mich eher scheu, ob ich mich erinnern könne, wie er, Luca, ihn als kleiner Bub, der grad anfing zu sprechen, genannt habe. Ich sah ihn unschlüssig an: „Ja, sicher doch Opa."

    „Du kannst dich nicht erinnern? - Nein, du hast nicht Opa zu mir gesagt, du hast Umba gesagt."

    „Aber ich weiß es nicht!"

    „Ja, einige Zeit sagtest du Umba zu mir. Dann sahen wir uns lange nicht, und dann nanntest du mich Opa. Anscheinend hast du gerade angefangen dich zu erinnern. Ein Kind fängt in diesem Alter an, sich an sein Leben zu erinnern."

    Mehr sagte er nicht. Aber mich ließ es nicht los. Umba -, wie anders das klingt, so weich, so hingegeben - Umba. Was ist als kleiner Junge mit mir geschehen, an das ich mich nicht erinnern kann. Seit mir Großvater das sagte, fühlte ich Umba, sagte aber Opa. Warum eigentlich?

    Die verteilen vorn tatsächlich Essen! Warum fangen die netten Stewardessen heute nicht ausnahmsweise hinten an. Wie langsam das geht! Jetzt hält sie ihm auch noch das Etikett der Flasche vor die Nase. Man, das ist Cola und kein Sechsundachtziger Bordeaux! Und das hier ist auch nicht Businessclass, du kriegst das Zeug in den Pappbecher. Die Dame lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Jedenfalls remple ich in meiner hungrigen Unruhe die Nachbarin an, die erschrocken aufwacht und mich entgeistert ansieht. Ich entschuldige mich und weiß nicht in welcher Sprache sie antwortet. Nach dem ewigen Anblick der nach den Seiten wandernden Essen, dem leisen Plätschern der Säfte, Limos und Colas in die Becher, des Kaffees in die Plastiktassen, irgendwann gurgelt auch bei uns der Saft und wir können die Folie vom Einwegtablett mit den Sandwiches reißen.

    Nachdem all diese Müllberge zusammen mit den Rollwagen und den Stewardessen wieder in der Services Kabine verschwanden, meint der Kapitän aus dem Lautsprecher, bereits den Sinkflug eingeleitet zu haben und wünscht einen angenehmen Aufenthalt. Wenn man durch die Fenster sieht, kommt die sonnige Erde langsam näher, zieht zusehends schneller vorüber, bis sie schließlich in irrsinnigem Tempo vorbeirauscht und das Rumpeln der Fahrwerke langsam erlösend verklingt. Dann klatschen die Leute Beifall - wem auch immer - und ich finde, anständigerweise sollten die Leute den Beifall nie weglassen.

    Im Restaurant schicke ich Ava eine Nachricht. Seit ich so ein Ding hatte, auf dem man auch mit Stift malen konnte, schrieb ich Ava mit der Hand und die Nachricht auf dem Display sieht tatsächlich so aus wie meine Handschrift. Gestern Abend saßen wir noch zusammen am Laptop und suchten nach Flügen. Und dieser über Toronto passte auf die Schnelle.

    Ich habe meine Tasche zwischen den Beinen. In der ist mein Laptop, den brauche ich vor allem, um mit Ava zu telefonieren, denn wir wollten uns sehen. Aber auch das Buch ist in der Tasche, welches ursprünglich weiße Blätter hatte, das ich damals vollschrieb, als ich Umba fast jeden Tag im Krankenhaus besuchte.

    Umba lag fest. Niemand wusste, ob es sich bessern würde. Ja, ich war selbst in einem Loch. Er erzählte mir aus seinem Leben, und gleich kaufte ich dieses Buch und schrieb es damit voll in all den Tagen und Nächten. Es half mir heraus aus diesem Loch. Dieses Buch war in meiner Tasche und einmalig, denn die Erinnerung geriet mit der Zeit ins Schwimmen. Mein Großvater wurde wieder gesund, keiner weiß wodurch. Aber jetzt schloss er seine Lippen und ich will dieses Buch niemals aus der Hand geben.

    Ich sitze in einem Restaurant des Toronto Pearson International Airport, klappe die Tasche auf und ziehe das Buch mit dem unscheinbaren hellgrauen Pappeinband heraus. Als ich es vor vier Jahren schrieb, tat ich das nicht auf dem Laptop, weil, mit dem brachte ich es nie über das Zweifingersuchsystem hinaus. Es war Yvonne, die mich fertig machte, die mich scheibchenweise wieder verlassen hatte, die ich unsterblich liebte. Ich litt, ich war krank, gestürzt in tiefe Melancholie. So flüssig konnte ich die Sätze nicht in den Computer hacken, dass sie von selbst hinglitten. Zu oft trommelte ich mit meinen zwei Zeigefingern daneben, ich kam so nicht in Fluss. Mit der Feder riss der Gefühlsfaden nicht ab. Mit der Feder ging es, ich konnte schreiben und leiden.

    Bei Umba durfte man traurig sein. Das tat ich schon als Kind, wenn ich hingefallen war, oder bei einer Prügelei hart getroffen, dann war ich auf Umbas Schoß, lehnte an seiner Brust mit dem Daumen im Mund. Umba grummelte etwas in mein Haar und dann wurde es besser.

    Dann war ich groß, hatte seit dem Ende des Studiums Arbeit als Informatiker in einer Firma für Mess- und Steuerungstechnik in meiner Heimatstadt und litt wegen Yvonne, die mit mir an der Uni war, mit mir schon bald die Bude teilte und jetzt nicht mehr wollte: Wie kann sie nur, das geht nicht. Und Umba musste im Krankenhaus in seinem Bett bleiben und hatte im Liegen wenig Schmerzen. Ich wünschte mir, wieder klein zu sein, auf seinem Schoß zu sitzen, an seine Brust gelehnt mit dem Daumen im Mund. Aber Umba konnte ich nichts vormachen, saß auf der Kante seines Krankenbettes mit hängenden Schultern und erzählte von Yvonne. Das erzählte ich später auch dem Buch.

    In Minnesota hatte ich es die ersten Monate einige Male in der Hand, und dann erst wieder, als ich es Ava zeigte. Gestern wollte ich es ins Reisegepäck stecken und konnte mich nicht erinnern. War es wieder in den Umzugskarton für die wichtigen Dinge zurückgelegt? Vor zwei Jahren musste die Dienstwohnung des Tochterunternehmens meiner deutschen Firma in Minneapolis nach meiner Kündigung schleunigst für den Nachfolger frei werden. Ava war schon mit dem Viehtransporter unterwegs, durchs offene Fenster hörte ich Edwards Motorrad. Mein bester Freund Edward wollte beim Umzug helfen.

    Ja, und gestern wusste ich nicht mehr, wo das Buch war. Wo stand dieser Karton?

    Jetzt, hier in Toronto auf dem Flughafen im Restaurant, schlage ich es auf. Die ersten Seiten waren Yvonne, aber eben verschoben sich die Anzeigen auf dem Schirm. Mein Flug nach Frankfurt wird aufgerufen. Ich stecke es zurück und die Verschlüsse der Tasche schnappen zu.

    Ich sitze am Fenster einer Maschine der Air Canada, die Sonne steht tief hinter der Stadt und versinkt rotorange hinter Schleiern ferner Wolken. Unter uns dämmert der große See. Der Flieger dreht auf Kurs und taucht in die Nacht über dem Atlantik.

    Was muss das für ein Bild abgegeben haben, als die Krankenschwester in Großvaters Zimmer kam: Der eingesunkene junge Mann auf der Bettkante, vielleicht sah sie die Tränen in den Augen, die erschrocken und beschämt sie anstarrten. Nein ich wollte nicht, niemand sollte mich so sehen. Die erfahrene Schwester merkte wohl nach kurzem aufmerksamen Blick für die Schmerzbehandlung dieses jungen Mannes nicht zuständig zu sein, vergewisserte sich über Großvaters Befinden und sagte, später wiederkommen zu wollen.

    „Luca, du liebst sie?"

    „Ja doch!"

    „Du liebst sie sehr."

    „Ja!"

    „Aber warum weinst du, geht es ihr schlecht? -- Du weißt nicht, wie es ihr geht? Es kann sich für Yvonne also auch gut anfühlen."

    „Aber Opa!"

    „Ging sie weg und redete sie mit dir? Hat sie dich ausgelacht?"

    „Neiin! - Sie hat geredet und mich nicht ausgelacht."

    „Erzähl mir, ich will gar nicht wissen, was sie gesagt hat, sondern wie. Was hast du in ihren Augen gelesen?"

    „Opa, ich liebe sie!"

    „Ja, eben."

    „Ja eben, ja eben!"

    Ich sehe zum Bullauge, in dem fern der stählerne Schimmer letzten Dämmerns langsam in die Nacht versinkt.

    Dieses ja eben hallt mir wieder in den Ohren, als schickt es mir die versunkene Sonne am dunklen Himmel hinterher, schneller, als der Flieger je in die dunkle Nacht entweichen kann.

    Dieses ja eben schleuderte ich ihm doppelt entgegen, und wischte dazu mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht, wurde fast wütend. Ich erinnere mich und brauche dazu nicht das graue Buch aufzuschlagen, in dem das auch alles steht. Umba wartete und sah zu, wie ich mich wand. War er so barbarisch? Was wollte er eigentlich?

    „Luca, du liebst sie und siehst sie nicht? Hat deine Liebe das Sehen verlernt?"

    Mir war wie aufspringen und davonrennen, wie kann er nur. Er legte mir die Hand auf die Ellenbeuge.

    „Luca, sag es mir."

    „Opa, was willst du!?"

    „Was willst du! Ich sank wohl eher noch mehr ein. „Du willst sie wieder, weil du sie so sehr liebst. Ist es so?

    „Machst du dich lustig über mich?"

    „Oh nein, ganz bestimmt nicht. Ich weiß, wie sich das anfühlt, auch wenn ich alter Knochen jetzt hier festliege. Glaub mir, ich weiß es nur zu gut."

    „Ja, aber."

    „Was wünscht du ihr! Versteh‘, nicht dir selbst, sondern ihr."

    „Sie hat mich grad verlassen."

    „Ja eben, trotzdem will ich wissen, was du ihr wünschst, auch wenn sie nicht wieder zurückkommt."

    „Na, nichts Schlechtes."

    „Also kehren wir dieses Wort um: Du wünschst ihr nichts Schlechtes, also wünschst du ihr alles Gute, so wie man jemandem alles Gute zum Geburtstag wünscht. Ich nehme an, von ganzem Herzen. Du liebst sie, also ist es dein Herzenswunsch."

    „Das ist sehr einfach, aber ja, ich muss wohl ja sagen."

    „Ich freu mich für dich, dass du ja dazu sagst, das ist stark, so wie du leidest. Also sind wir schon fertig. Sie hat sich entschlossen, das Leben nicht mit dir teilen zu wollen, also haben wir die Sache auf den Punkt gebracht."

    „Aber ist das gut."

    „Sie hat für sich entschieden, dass es gut für sie ist, also wäre eine Liebe, die meint, sie trotzdem als Frau haben zu wollen, eigentlich der blanke Egoismus."

    „Es tut trotzdem weh."

    „Lass sie laufen und wünsche, ihre Füße mögen dabei nicht erlahmen. Natürlich tut es weh, oh ja, wem sagst du das, aber lass es geschehen, es schmilzt stückchenweise diesen Egoismus um in Wohlwollen, und glaub‘ mir, du wirst nie damit fertig. Je lockerer, je beweglicher du wirst, erdrückt dich dein Leid nicht. Liebe ist größer, als einen Menschen unbedingt bei sich haben zu wollen. Vielleicht fühlte sich Yvonne nur nicht frei genug, eingeklemmt in dein erbarmungsloses Umklammern."

    „Opa, du machst mich rasend."

    „Luca, liebe sie endlich, lass ihr ihren Weg, auch wenn dieser wegführt und dir nur die rechte Hand bleibt, ihr Guten Tag zu wünschen."

    „Thh, das nennst du Liebe!"

    „Lag jetzt eben Spott in deinem Ton, ja? Hab ich Spott gehört? Oder bilde ich mir das nur ein."

    „Opa, ich versteh es nicht."

    „Deine Tränen sind schon fast trocken, ist das so? Ertränk dein Leid nicht im Spott, lass es zu, sieh dir zu. Spott hat nichts mit Humor zu tun. Spott hat bleckende Zähne, wie ein Wolf. Humor hat Flügel, die sich über alles Treiben breiten, Schwingen, die alle Freuden und Leiden ausbrüten zu frischer Lebendigkeit."

    „Jetzt hebst du aber ab, Opa."

    „Es stimmt, du hast vollkommen recht. Das tut manchmal gut, besonders, wenn man tagaus und tagein hier liegen muss."

    Ich sitze in diesem Flieger: Weit über den Wolken und den höchsten Bergen inmitten der Nacht. Das Tempo hat mein Gefühl verlassen und ist eine nackte Zahl. Draußen ist es kälter als in der Gefriertruhe und in so dünner Luft spränge die Seele aus dem Leib. Die Sterne sind näher, aber nur um so viel weniger fern wie zwei Stunden zu Fuß auf den Hügel zu wandern und zu bleiben unter der klaren Nacht, voller Verwunderung und Staunen.

    Ich staune auch über das Fluggerät - ganz ehrlich -, über das Kunstwerk aus so viel geballter Intelligenz, mit dem ich rechtzeitig zur Beerdigung von Großvater komme, mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit. Wobei die Worte: nahezu hundertprozentig zu pessimistisch klingen, viel zu pessimistisch.

    Trotzdem ist das Teil eine Konservenbüchse, in dem dreihundert Leute versuchen, so angenehm wie möglich sich fortzubewegen, beziehungsweise hinzubewegen. Wohin will der Herr neben mir, dessen Leselampe den mittleren Teil seines Bodys beleuchtet, mit dem geöffneten Buch auf seine Beine gesunken, dessen Umblättern ins Stocken geraten ist, weil der Herr schläft. Der Kopf im Schatten der Leselampe ist leicht zur Seite in die Lehne gesunken mit schmal geöffnetem Mund, dem ein leises, sanft röchelndes Schnarchen entströmt. Perfekt sitzender dunkelblauer Anzug mit Nadelstreifen, weißes Hemd mit weinrotem Schlips, der gelockert ihm um den Hals hängt, das Hemd steht offen. Kein Fünkchen Dreck unter den perfekt gefeilten Fingernägeln. Ich sehe beschämt auf meine eigenen Fingernägel: Kühe einfangen, Zäune reparieren und kein Frühstück.

    Überhaupt ist es merkwürdig ruhig. Selbst die Stewardess, die ab und zu nach ihren Gästen schaut, bewegt sich behutsam, um die Passagiere nicht zu stören, die schlafen oder die Ohren verstopft haben und auf ihre kleinen flimmernden Bildschirme starren. Vielleicht sollte ich das auch tun, Stöpsel in die Ohren und durch die Kanäle zappen, bei irgendwas bleib ich hängen, bestimmt. Dann das Nächste, solange, bis die Augen rechteckig werden. Ich kenne das: Der Sog würde mich festhalten, der Schlaf danach zu kurz kommen und Umba wird blass, und Ava. - Nein, das will ich nicht; jetzt nicht. Als ich damals dieses Gespräch mit Umba in mein graues Buch schrieb, kratzte manchmal die Feder ungehalten über das Papier. Wie konnte Umba nur so auf meinem Leid herumtrampeln: Selbstmitleid, Egoismus. Ich sträubte mich dagegen. Dann wieder zu sehen: Vielleicht hat er doch recht. Umbas Finger war in der Wunde. Aber so schnell geht das nicht.

    Ich sagte ihm damals nach seinem Satz über Humor und dessen Flügel, dass er jetzt aber abhebt mit seinen Worten. Und wir saßen eine Weile einfach nur da. Das heißt, ich saß auf der Bettkante, er musste liegen. Dann redete Umba weiter, die Augen geradeaus, also gegen die Decke des Krankenzimmers. Aber die Zimmerdecke schien es nicht zu geben: „Weißt du Luca, das mag jetzt alles rabiat rübergekommen sein, gewissermaßen mit der Brechstange. Du weißt, ich hatte schon ein paar Jahre auf dem Buckel bevor ich deine Oma kennenlernte und meinte schon übrigzubleiben. Die mehr als zwanzig Jahre zuvor geriet ich mindestens zehn Mal in solche Zustände, wie du jetzt. Das ist im Durchschnitt alle zwei Jahre. Und mit jedem Mal mehr nahm ich mir vor, mich nicht mehr so stark einzulassen, weil es ja dann so weh tut. Aber glaube mir, dieser sogenannte Amor hat in seinem Waffenarsenal nicht nur ein paar läppische Pfeile - oh nein - er ist mit dem Schicksal im Bunde und jedes Mal mehr schien die Waffe von größerem Kaliber, bis er mich endlich wieder soweit hatte, obwohl die heftigsten dieser Vorgänge platonisch blieben. Du weißt schon, wie ich das meine."

    „Du nennst das Vorgänge? Opa, bist du ein trockener Stock?"

    „Ach Luca, mit den Worten ist es so eine Sache: Ich sage Vorgang, weil mit jedem Nachdenken darüber, mit jeder Erinnerung, das Rätsel immer größer wird. Oder kannst du sagen: ‚Ich weiß, was dahintersteckt bei dem, was mir jetzt passiert.‘ Du kannst es nicht einfach mit Blöde Kuh abtun. Ich hoffe jedenfalls, deine Suche nach des Rätsels Lösung endet nicht bei Blöde Kuh."

    „Ja, und wenn schon."

    „Bist du schon bei Blöde Kuh? Dann denk mal nach: Du hast eine blöde Kuh unsterblich geliebt. Man kann ja auch eine blöde Kuh unsterblich lieben, aber du willst mir jetzt nicht erzählen, du hättest das schon immer gewusst. Also, wer wäre in diesem Fall der Dumme Ochse?"

    „Wenn du mich schon Dummer Ochse nennst…"

    „Hab ich nicht, war ja nur für den Fall, du würdest doch bei Blöde Kuh landen, sozusagen als Vorschuss. Ja, aber ich fuhr dir wohl eben ins Wort."

    „Ja, ich weiß nicht -, ob das geht."

    „Luca stockt, das verspricht Spannung. Trau dich, sicher darfst du dich trauen, sag mir, was du willst, ich kann mir nach der Rederei heute alles vorstellen. - Was soll nicht gehen?"

    „Ich will wissen von den Frauen vor Oma. Umba wurde still und ernst. „Siehst du, davon willst du mir nichts erzählen.

    „Na ja."

    „Na ja, oder na nein."

    „Wie steht es mit deiner Zeit? Meine ist jedenfalls ungewiss. Noch ist der Kopf klar, und die Schmerzen nehmen mich nicht allzu sehr in Anspruch."

    „Meine leere Bude ist grausig, nach der Arbeit kann ich zu dir."

    „Denk nicht, du kommst mit ein, zwei Tagen davon. Eine Woche reicht auch nicht. Ich werde es in die Länge ziehen, denn es ist reine Selbstsucht. Die Tage sind lang, die Schwestern und Ärzte haben wenig Zeit zum

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1