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Der afrikanische Freund: Roman
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eBook168 Seiten2 Stunden

Der afrikanische Freund: Roman

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Über dieses E-Book

Eher unfreiwillig ist der namenlose Ich-Erzähler in seine Geburtsstadt gekommen: Er muss sich um die Beerdigung seines Vaters kümmern. Große Gefühle stellen sich nicht ein; er ist ein Fremder in dieser Stadt. Da trifft er zufällig Max, einen alten Schulkameraden, der ihn auf seine Burg einlädt, wo er mit Freunden das alljährliche "Weekend" vor Beginn der Festspiele veranstaltet. Es gibt keinen Grund, das abzulehnen. Und so nimmt das unheimliche Treiben im Kellergewölbe der Burg seinen Lauf: Alkohol fließt in Strömen, Prostituierte werden bestellt, Hugo, ein Starkoch aus Reykjavik, serviert obszöne mittelalterliche Speisen, ein großes Fressen hebt an. Plötzlich läutet ein Mann an der Tür, den die Gruppe wegen seiner Hautfarbe sofort für einen Drogendealer hält und den man übermütig zum Essen einlädt. Als sich der Fremde als Bibelverkäufer entpuppt, eskaliert die Situation und der betrunkene Burgherr wird hemmungslos aggressiv. Niemand hilft, auch nicht, als längst unabweisbar klar ist, dass das zwingend notwendig wäre. Nach und nach verwandelt sich die Burg in ein grauenhaftes Gefängnis, aus dem es für alle Beteiligten kein Entrinnen zu geben scheint. Johannes Gelich hat ein morbides Kammerspiel inszeniert, das mit bohrender Intensität unser Selbstverständnis in Frage stellt.
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum14. Aug. 2013
ISBN9783835325104
Der afrikanische Freund: Roman

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    Buchvorschau

    Der afrikanische Freund - Johannes Gelich

    Cure

    I

    Heute Nacht ist Papa gestorben. Ich war bereits auf dem Weg zum Fahrstuhl, als ich im Stiegenhaus das Telefon aus meiner Wohnung hörte. Ich wusste sofort, was geschehen war. Die Direktorin vom Pflegeheim war am Apparat und erklärte mir, man habe ihn gefunden, nachdem er nicht zum Frühstück erschienen sei. Sie sagte, Papa sei sanft eingeschlafen, und ich antwortete gedankenlos: Gut. Ihr sentimentaler Tonfall berührte mich unangenehm, und ich bedankte mich hastig für die Benachrichtigung. Ich versprach ihr, den schnellen EC-Zug am Nachmittag zu nehmen und vom Bahnhof direkt ins Heim zu fahren. Zum Abschied wollte die Direktorin wissen, ob ich einen Seelsorger brauche, was ich verneinte. Anschließend telefonierte ich mit meiner Chefin und sagte ihr, was passiert war. Sie rief entrüstet aus: Gerade jetzt! Mitten in der Woche! Ich entschuldigte mich, dass sich Papa keinen Tag am Wochenende ausgesucht hatte und meinte: Ich kann nichts dafür. Es kam mir wie ein Geständnis vor, und ich musste ein Lachen unterdrücken. Die Chefin murrte, meinetwegen müsse man jetzt in das Wochenende hinein arbeiten. Ich nahm mir für die nächste Woche frei, worauf die Chefin auflegte, ohne sich zu verabschieden. Ich weiß nicht mehr, ob sie mir kondolierte. Ich glaube nicht; es wäre mir ohnehin egal gewesen. Nach dem Telefonat warf ich mich erleichtert mit den Schuhen auf die Wohnzimmercouch und genoss das Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben. Ob ich an Papa dachte, weiß ich nicht mehr. Die Sonne schien durch die Baumkrone der Linde vor dem Wohnzimmerfenster herein, und die vom Wind bewegten Blätter und Zweige schillerten als Schatten auf dem Parkettboden. Es sah so aus, als spiele das Sonnenlicht mit den Blättern oder umgekehrt. Durch die unerwartete Unterbrechung des Alltags kamen mir der blaue Himmel und die Lindenblätter wie in einem neuen Licht vor, als wären die Fenster über Nacht geputzt worden. Ich fiel ganz arglos in einen erholsamen Vormittagsschlaf.

    Nachdem ich aufgewacht war, wusch ich mir im Badezimmer mein Gesicht mit kaltem Wasser. Einige Tropfen liefen mir über die Wangen, und ich setzte vor dem Spiegel eine ergreifende Trauermiene auf. Danach packte ich meine Reisetasche und rief Marie an. Ich teilte ihr mit, dass Papa nicht mehr ist, worauf ich kurz auflachen musste. Sie wollte wissen, warum ich gelacht hätte. Es sei so eine dumme Redensart, antwortete ich gereizt. Ich entschuldigte mich und meinte, mein Zug gehe in einer Stunde. Sie fragte, ob sie mich begleiten solle. Ich gab keine Antwort. Nach einer Pause meinte sie, sie finde die Redensart gar nicht so dumm. Ich entgegnete, sie brauche mich nicht zu begleiten, da ich ohnehin bald zurück sei und es für uns keine Rolle spiele. Sie fragte, wie es mir nach der Todesnachricht gehe, und ich entgegnete, ich würde mich bleiern fühlen, weil ich den ganzen Vormittag verschlafen hätte. Sie bot mir noch einmal an, mich zu begleiten, aber ich lehnte ab und versprach ihr, im Speisewagen ein Glas auf sie zu trinken, worauf sie laut auflachte. Ihre Heiterkeit steckte mich an, und ich versicherte ihr, dass ich ihr Lachen vermissen würde.

    Die Stadtbahn glitt überirdisch an den Fassaden der Gründerzeithäuser entlang, machte eine Schleife und bog vom Wiental nach Nordosten ab. In der Kurve füllte sich der Waggon mit hellem, gelbem Licht, das sich in den Mienen der Fahrgäste widerspiegelte. Im Augenblick der Abreise aus der Stadt schienen mir die Geräusche und Gerüche näher gerückt und berührender als sonst.

    Der Zug der Westbahn war überfüllt, und ich ergatterte mit Glück einen Platz im Speisewagen. Ich bestellte einen Rotwein und nahm den ersten Schluck zum Spaß so wichtigtuerisch wie ein Priester, da ich sonst nie Rotwein trank. Die hügelige Wienerwald-Landschaft zog sanft an mir vorbei, und einzelne Sonnenstrahlen blitzten durch die Bäume in das Abteil. Ich versuchte an Papa zu denken, aber ich wurde von den Leuten, die auf der Suche nach einem Sitzplatz in den Speisewagen drängten, abgelenkt. Die meisten zogen unverrichteter Dinge wieder ab, manche blieben im Gang zwischen den Waggons stehen. Nachdem sich das Treiben etwas beruhigt hatte, überlegte ich, wann ich Papa das letzte Mal gesehen hatte, als mir der weiße Spitz einer aufgeputzten, etwa fünfzigjährigen blonden Frau auffiel. Sie beschwerte sich lautstark, dass sie keinen Sitzplatz bekommen hatte. Ich sah sie direkt hinter der automatischen Glastür zum Speisewagen stehen. Die Tür ging mit einem pneumatischen Zischen ständig auf und zu, während die Leute so beengt im Gang standen, dass der Hund kaum Platz hatte und seine Schnauze einige Zentimeter über die Schwelle der Glastür ragte. Mit jedem Schließen der Tür wurde die feuchte Schnauze des Hundes eingezwickt. Ich fragte mich, ob er so blöd oder so gutmütig war, oder ob er das Einklemmen der Schnauze nur als Spiel auffasste, denn er beklagte sich überhaupt nicht. Dieser Vorgang wiederholte sich immer wieder, als endlich Bewegung in die wartenden Leute kam und der Hund Gelegenheit hatte, sich umzudrehen. Jetzt wurde sein Schwanz von der Glastür eingeklemmt, aber das schien ihm noch weniger auszumachen. Es gelang mir nicht, an Papa zu denken.

    Am späten Nachmittag kamen die ersten Ausläufer der Alpen in Sicht. Ich fühlte mich beim Anblick der in den Himmel beißenden Gipfel immer schon bedrückt und unruhig, und es ging mir auch diesmal so, als der Zug in die Stadt einfuhr, obwohl ich das mulmige Gefühl mit keinerlei Erinnerungen in Verbindung brachte. Ich nahm am Bahnhof ein Taxi und fuhr zum Pflegeheim, das am Stadtrand meiner Geburtsstadt liegt. Eine unwirsche Schwester erklärte mir den Weg zur Direktion, wo mich die Sekretärin begrüßte. Ich klopfte sinnloserweise an die gepolsterte Tür und betrat das Zimmer der Direktorin, die hinter ihrem Schreibtisch saß. Sie stand sogleich auf, ging um den Tisch herum und streckte mir ihre Hand entgegen. Sie sagte lebhaft: Mein Beileid, ohne mich zu begrüßen, und ich antwortete: Guten Tag. Die Direktorin musterte mich und meinte: Sie müssen sehr müde sein, der Körper reagiert auf so einen Schicksalsschlag meist mit ungewohnter Müdigkeit. Und die lange Reise noch dazu! Ich antwortete, ich sei nicht müde, ich hätte nach unserem Telefonat den ganzen Vormittag über geschlafen. Ich musste ja nicht in die Arbeit, sagte ich fröhlich. Sie nickte und beteuerte: Ihr Herr Papa ist im Schlaf gestorben – so einen Tod kann man sich nur wünschen. Nach einer Pause setzte sie hinzu: Er hat auch sonst wenig Umstände gemacht. Als ich nichts erwiderte, erklärte sie feierlich: Man hat nur eine Familie und nur einen Vater. Ich antwortete, ich hätte keine Familie mehr und ich empfände es als angenehm, keine Familie zu haben, worauf sie sich betreten hinter ihren Schreibtisch verkroch. Sie wühlte verwirrt in ihren Papieren und sagte sachlich: Ihr Herr Papa hat sich ein kirchliches Begräbnis gewünscht. Ich fragte, woher sie das wisse, meiner Erinnerung zufolge sei Papa überhaupt nicht religiös und schon gar kein Kirchgänger gewesen. Die Direktorin betrachtete mich streng, sie bezweifle, dass ich in diesen Dingen mitreden könne, da ich ihn doch sehr selten besucht habe. Ihr Herr Papa, sagte sie förmlich, hat sich manchmal bei den Schwestern beklagt, dass er so selten Besuch bekommen habe. In diesem Zusammenhang fiel auch öfter Ihr Name! Sie wissen, erwiderte ich nickend, dass ich für eine große Wohnung und eine Betreuung zuhause nicht die finanziellen Mittel hatte. Die Direktorin machte ein abgestumpftes Gesicht, als hätte sie aufgegeben, über diese Dinge zu diskutieren. Es stimmte, dass ich in letzter Zeit höchstens einmal im Jahr in meine Geburtsstadt gefahren war. Ich fand es nicht der Mühe wert, außerdem hätte es mich ein ganzes Wochenende gekostet. Nach einer angenehmen Gesprächspause sagte die Direktorin zuvorkommend: Er ist gut aufgehoben da oben! Sie rollte ihre Augen kurz gegen den Plafond und setzte mit einem ironischen Lächeln hinzu: Noch besser als bei uns!

    Ich starrte sie an, dann schüttelte ich gleichmütig den Kopf und sagte, Papa sei nirgendwo aufgehoben, und es gehe ihm weder schlecht noch gut, weil er einfach aufgehört habe, zu existieren. Die Direktorin schaute mich verbittert an und rief: Auch wenn Sie sich vom Glauben abgewendet haben sollten, verweilt der Glaube in Ihnen! Ich fragte sie, wie sie auf diese Idee komme, und sie antwortete, dass kein Leben sinnlos gewesen sei. Ich stand auf und entschuldigte mich, dass ich jetzt gehen müsse. Die Direktorin erhob sich und erklärte, sie habe das Bestattungsunternehmen und den Pfarrer verständigt. Ich bedankte mich und verließ ihr Zimmer, nachdem sie mir den Weg zur Totenkapelle im Parterre des Pflegeheims beschrieben hatte.

    Am nächsten Morgen duschte ich eine Stunde lang, dann fuhr ich zum Bestattungsunternehmen und gab eine Verabschiedung in aller Stille in Auftrag. Danach ging ich zu Fuß in die Innenstadt und frühstückte in einem Nobelcafé. Am Eingang wies eine Kupfertafel darauf hin, dass es sich um einen originalgetreuen Nachbau von Mozarts Geburtshaus handele, den eine japanische Firma gesponsert habe. Obwohl ein Berg Arbeit auf mich wartete, gab ich mir für diesen Tag frei und beschloss, einen Ausflug an den Stadtrand zu machen, wo Papa vor seiner Übersiedlung ins Seniorenheim gewohnt hatte. Auf der Suche nach der Busstation erschienen mir die Straßen und Gassen bekannt und fremd zugleich. Ich wartete rauchend am Fluss und beobachtete die Möwen, die über das Wasser flogen und ein lautes Gekreische machten, weil eine Pensionistin Futter aus einem Papiersack streute. Ich lauschte dem asthmatischen Summen des Obusses und versuchte mich an meinen Schulweg zu erinnern, aber was mir gerade noch vertraut schien, verwandelte sich sofort wieder in Unbekanntes. Ich fuhr bis zur Endstation, stieg aus und schlug automatisch den Weg in Richtung meines ehemaligen Elternhauses ein. Ich erreichte das in Hellbrunner Gelb gestrichene Haus mit den grünen Fensterbalken, während ein Airbus über meinen Kopf hinwegflog und die Schnauze in Richtung Flughafen senkte. Die neuen Bewohner mussten die Fassade frisch renoviert haben. Ich überlegte, hinter welchem Fenster mein Kinderzimmer gelegen haben mochte, aber ich konnte mich nicht mehr erinnern. Ich machte kehrt, ging meinen alten Schulweg zur Station und fuhr in die Stadt zurück. Auf dem Weg durch das Zentrum empfand ich die Häuser und Straßen als fremd und bekannt im selben Augenblick, als hätte ich sie schon oft und zugleich noch nie gesehen. Das Bekannte löste aber keine Bilder oder Geschichten aus, die mich mit den Orten verbunden hätten. Ich fühlte lediglich, in dieser Stadt einmal gegen meinen Willen heimisch gewesen zu sein und dazugehört zu haben wie in einem anderen ungelebten Leben.

    Nach einem Spaziergang durch die Innenstadt legte ich mich in meinem Hotelzimmer aufs Bett, aber es gelang mir nicht, einzuschlafen. Ich wälzte mich eine Stunde ruhelos von einer Seite auf die andere, bis ich aufstand und beschloss, schwimmen zu gehen. Ein Bus fuhr mich ans andere Ende der Stadt, und ich verbrachte den ganzen Tag im Waldbad in der Sonne und schwamm in dem eiskalten Waldsee von einem Ufer zum anderen. Als ich am frühen Abend ins Zentrum zurückfuhr, war der Bus voller Leben. Einige sonnengebräunte Mädchen, deren Haare noch nass waren, schwatzten lachend miteinander. Es roch nach Sonne und Sommer und Sonnencreme und Unbeschwertheit. Im lauen Sommerwind flanierte ich vom Schwimmen entspannt durch die Altstadt und versuchte ein Lokal aus meiner Schulzeit zu finden. Die meisten Clubs waren noch geschlossen, schließlich betrat ich eine Bierstube namens Fideler Affe, vor dem sich junge, gut aussehende Leute auf Aluminiumstühlen in der Abendsonne ausstreckten. An der leeren Bar trank ich ein Bier und genoss es, allein und unbehelligt zu bleiben. Ich bestellte noch ein Bier und wollte schon zahlen, als mir eine Hand auf die Schulter griff und eine Stimme meinen Namen rief. Ich wurde umgedreht und blickte in das Gesicht eines gleichaltrigen Mannes, das mir entgegengrinste. Er stellte sich als ehemaliger Mitschüler vor. Er hieß Max, und ich glaubte ihm erst, nachdem er meinen Namen genannt hatte. Wir hatten Mitte der achtziger Jahre gemeinsam im Akademischen Gymnasium maturiert. Ich hätte ihn nicht wiedererkannt. Die zwanzig Jahre, die wir uns nicht gesehen hatten, hatten sein Gesicht aufgeschwemmt, er war dick geworden und machte einen gequälten Eindruck. Die Begegnung mit Max war mir unangenehm. Wir wechselten ein paar Floskeln, und ich erzählte ihm, dass Papa gestorben sei. Er sprach mir mit tonloser Stimme sein Beileid aus. Ich bedankte mich und entgegnete, dass ich nicht leiden würde. Er presste seine Lippen aus Verlegenheit zusammen, dann erkundigte er sich, wie lange ich in der Stadt bleiben werde. Ich antwortete, ich wisse es nicht, ich hätte nächste Woche einige Dinge zu erledigen. Er fragte mich, ob ich am Wochenende schon etwas vorhabe, und lud mich auf seine Burg ein. Marcel und Hugo würden zu ihrem alljährlichen Weekend vor der Festspieleröffnung extra aus London bzw. Reykjavík anreisen. Ich erschrak bei den Namen, die ein unbestimmbares Gefühl auslösten. Max erklärte, sie würden am Wochenende trinken, essen und ein paar Mädchen einladen. Ich dachte noch immer an die Namen Marcel und Hugo, die mir zwar bekannt erschienen, die ich

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