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Die Nebelwölfin
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eBook931 Seiten14 Stunden

Die Nebelwölfin

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Über dieses E-Book

Eine fantastische Reise, eine große Liebe und eine tödliche Bedrohung.
Nie wieder wird ihr irgendjemand wehtun, das hat Lana sich geschworen. Als Großstadtsingle verkriecht sie sich in Anonymität und Gleichgültigkeit. Nur ihre beste Freundin Mara ist ihr noch wichtig. Doch dann gibt es Neuigkeiten, die Lanas Welt abermals zum Einstürzen bringen. Als auf einem einsamen Spaziergang Nebel aufzieht, befindet sie sich plötzlich fern ab von allem, was sie bisher kannte.
In diesem Moment beginnt für sie ein Abenteuer, das sie nicht nur in eine völlig fremde Welt führt, sondern auch auf eine Reise zu sich selbst. Diese wird am Ende nicht nur über ihr eigenes Schicksal entscheiden, sondern auch über das von Salandor, dem Land hinter dem Nebel.
Lana weigert sich zunächst hartnäckig, doch den Kampf um Salandor kann niemand alleine gewinnen…
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum18. Sept. 2015
ISBN9783738041293
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    Buchvorschau

    Die Nebelwölfin - Sabine Bieber

    Prolog

    Sie trat aus dem Schatten der Bäume hervor, ihr Fell glänzte silbrig in der Feuchtigkeit der aufsteigenden Nebelschwaden, die sie, wie ein wogendes, graues Meer, umgaben.

    Leise, fast lautlos, bewegte sie sich durch die Nebelschleier. Dann hob sie den Kopf, fixierte mit ihren goldenen Augen einen Punkt irgendwo weit in der Ferne und legte den Kopf  zurück. Sie ließ Ihren Gesang zwischen den Welten erklingen und er klang schaurig schön nach Trauer, nach Veränderung und nach Sehnsucht.

    Kapitel 1

    Irgendwo sägte jemand. Aber warum sägte jemand in meinem Schlafzimmer, in der dritten Etage eines nagelneuen Wohnhauses mitten in Hamburg? Das Geräusch verstummte kurz, nur um gleich darauf wieder in einer anderen Frequenz einzusetzen. Langsam kam ich zu mir und stellte fest, dass das vermeintliche Sägen nichts anderes war, als die Schnarchgeräusche des Mannes, der auf der anderen Seite des Bettes lag. Verschlafen rieb ich mir die Augen. Wenn bloß das Brummen in meinem Schädel aufhören würde. Ich drehte mich langsam auf den Rücken und betrachtete den Mann neben mir. Er hatte blonde Haare, seine Haut war sonnengebräunt. Sein Name wollte mir einfach nicht einfallen.

    Trotz des fortwährenden Trommelwirbels in meinem Schädel richtete ich mich vorsichtig auf. „Hammerwerfen in der Gedächtnishalle, nannte meine Freundin Mara diesen Zustand und eigentlich traf es das auf den Punkt. Ich presste die Finger gegen meine Schläfen, das Klopfen ließ etwas nach. Der Nebel in meinem Kopf begann sich ein wenig zu lichten. Der schicke neue Club, viele bunte Cocktails und dann dieser Typ mit den stechend blauen Augen. Wie war bloß sein verdammter Name? Ich streckte mich ein wenig und wackelte mit den nackten Zehen. Sein Name war eigentlich egal. Zum Frühstück würde er ohnehin nicht bleiben, von daher bestand keine Notwendigkeit ihn damit anzusprechen. Ziemlich unsanft rüttelte ich an seiner Schulter. „Hey du, aufwachen, hörst du mich? Der Typ schnarchte noch ein bisschen lauter und die Frequenz der Töne veränderte sich wieder leicht, aber ansonsten machte er keine Anstalten wach zu werden. „Hey", sagte ich und rüttelte etwas stärker an ihm. Mühsam öffnete er die Augen und murmelte irgendetwas, dass ich für guten Morgen hielt. Es hätte aber auch eine Verwünschung meiner Person an einen sehr heißen und endgültigen Ort sein können.

    „Los, sagte ich energisch, „steh auf, es ist Zeit für dich zu gehen. Er sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost, dann setzte er sich langsam auf. „Morgen Lana", sagte er und grinste wie ein kleiner Junge, der gerade ein großes Eis geschenkt bekommen hatte.

    Ich starrte an ihm vorbei an die Wand und wiederholte etwas zu laut, dass er endlich gehen sollte. Meine Stimme zitterte leicht und ich ärgerte mich. Eigentlich sollte ich doch mittlerweile etwas mehr Routine haben. „Ist ja schon gut, murmelte er genervt und erhob sich schwerfällig. „Hübscher Hintern, dachte ich und grinste zufrieden, als er vollkommen unbekleidet durch das Zimmer schlurfte, um seine Sachen zusammen zu suchen. Er zog sich an, während ich mir die Bettdecke bis zur Nasenspitze hochzog und ihm dabei zusah. „Wirklich ein sehr hübscher Hintern und die trainierten Oberarme sind auch nicht zu verachten. Du hättest wirklich eine schlechtere Wahl treffen können, Lana", sinnierte ich zufrieden stumm vor mich hin und kuschelte mich tiefer in die Decke.

    „Kann ich vielleicht noch einen Kaffee haben?, fragte er vorsichtig und versuchte es mit einem freundlichen Lächeln. „Die Straße runter an der nächsten Ecke ist ein Coffee-Shop, die machen so viel davon, dass sie ihn verkaufen müssen, sagte ich und war mir deutlich bewusst, wie zickig ich klang. „Ist ja schon gut, sagte er und bedachte mich mit einem prüfenden Blick. „Keine Sorge meine Liebe, ich werde dich nicht fragen, ob wir uns wieder sehen. Ich kenn die Spielregeln, es war nett mit dir.  Er wandte sich um, zog die Schlafzimmertür beim Gehen hinter sich zu, kurz darauf hörte ich die Wohnungstür ins Schloss fallen. „Endlich alleine, seufzte ich erleichtert. Ich wickelte mich in eine Decke ein, schlurfte in die Küche und startete die Kaffeemaschine. Auf dem Tisch lag noch die kleine, mit silbernen Pailletten besetzte Tasche, die ich immer mitnahm, wenn ich ausging. Irgendwo mussten doch hier noch Zigaretten sein. Hektisch kramte ich in der Tasche meiner Jacke, die ich achtlos auf den Boden geworfen hatte. Kaum hatte ich den ersten tiefen Zug inhaliert, klingelte mein Telefon. „Guten Morgen, erklang Maras fröhliche Stimme aus dem Hörer. „Nicht so laut bitte, ich bin gerade erst aufgewacht, murmelte ich und hielt den Telefonhörer etwas weiter von meinem Kopf entfernt. „Warst du feiern?, wollte Mara wissen. Sie klang nervtötend munter und ausgeschlafen. „Mmh, knurrte ich nur, „neuer Club, hier ganz in der Nähe. „Und war´s nett?, hakte sie nach. „Mmh, machte ich wieder. In meinen Ohren dröhnte es und ich hatte einen pelzigen Geschmack im Mund. Ich zog an meiner Zigarette. „Ich sehe schon, du brauchst noch eine halbe Stunde. Nimm eine heiße Dusche, ich bin gleich da. „Da?, fragte ich völlig verständnislos. „Du hast es vergessen, sagte sie etwas weinerlich. „Wir wollten heute einkaufen gehen. Du erinnerst dich? Das Kleid für den Silvesterball mit Tom. Sie seufzte leise. „Ach, das Kleid, ja klar. Ich rollte mit den Augen. „Komm vorbei, ich bin gleich soweit und dann gehen wir einkaufen. Das hab ich natürlich nicht vergessen. Ich konnte einfach nicht lügen. „Prima, bis gleich!" Es klickte in der Leitung. Ich konnte sie förmlich vor mir sehen, sehr klein, etwas rundlich, mit strahlenden braunen Augen, voller Energie und Tatendrang.

    Ich legte das Telefon zur Seite, ließ mich auf den Stuhl plumpsen und stöhnte laut auf. Okay, nun war der Notfallplan gefragt. Eine Aspirin, eine kurze, sehr heiße Dusche und ein starker Kaffee würden schon alles wieder ins Reine bringen. „Verwandlung in ein menschliches Wesen in dreißig Minuten", befahl ich mir selber laut und drückte den Knopf an der Stereoanlage. Mit Musik ging alles besser.

    Eine halbe Stunde später klingelte es an der Tür, ich drückte den Summer und rief durch die Gegensprechanlage: „Komm hoch, die Tür ist offen, ich bin noch im Bad."

    Mara kam schnaufend die Treppen hoch. „Warum ist der Aufzug eigentlich immer noch nicht in Betrieb, die Wohnungen sind doch nun alle bereits seit Monaten verkauft." Sie ächzte und warf dann ein Blick in mein Schlafzimmer, das einem Schlachtfeld glich. Mein dunkelblaues Minikleid lag mitten auf dem Fußboden, von den Pumps war auf den ersten Blick nur einer zu entdecken und die teure, dunkelrote Spitzenunterwäsche lag auf Nachttisch und Kommode verteilt.

    „Schönen Abend gehabt?, fragte sie trocken „Ja, es war ganz nett, sagte ich grinsend und kam aus dem Bad, um sie zu umarmen. „Hallo, meine Süße", sagte ich und drückte sie fest an mich. Sie roch nach Vanille und Orangen, weil sie fortwährend auf irgendwelchen Bonbons herum lutschte, seit sie das Rauchen aufgegeben hatte. Sie trug etwas zu enge Jeans und einen dicken weinroten Rollkragenpullover. Sie hatte lange dunkle Haare und das bezauberndste Lächeln, dass ich je bei einer Frau gesehen hatte. Wenn sie lächelte, hatte sie wunderhübsche Grübchen und ihre Augen leuchteten wie zwei Sterne. Ihr Gesicht schien von innen heraus zu leuchten und strahlte dabei so viel Wärme und Lebensfreude aus, dass man fast neidisch werden konnte.

    Wir hatten uns vor vielen Jahren kennen gelernt, als wir beide einen Kurs für Französisch an der Volkshochschule besucht hatten. Die Sprache hatten wir nie richtig gelernt, dafür schwänzten wir bald regelmäßig den Unterricht und saßen stundenlang mit Milchkaffee, Keksen, Unmengen an Zigaretten und noch mehr Gesprächsstoff in meiner oder ihrer Küche. Eigentlich konnte ich mich kaum noch an ein Leben ohne Mara erinnern. Sie war ein fester Teil meines Lebens geworden, sie wusste mehr von mir, als irgendjemand sonst auf der Welt. Während der letzten Jahre war sie bei jeder großen und kleinen Katastrophe an meiner Seite gewesen. Seit Mara nun aber unsterblich in Tom verliebt war, war alles anders. Sie hatte das Rauchen aufgegeben, ging regelmäßig joggen und ernährte sich biologisch abbaubar, wie ich es ironisch nannte. Tom war Biologe und arbeitete für Greenpeace. Er hatte es geschafft, dass Mara sich innerhalb von drei Monaten total verändert hatte.

    Auch wenn ich es mir selber, und ihr gegenüber schon gar nicht, eingestehen wollte; ich hatte Angst. Angst davor, sie mehr und mehr an Tom zu verlieren, Angst, dass ich in Zukunft wieder viel mehr Zeit mit mir alleine verbringen musste. Am meisten fürchtete ich mich aber insgeheim davor, dass ich vielleicht feststellen musste, dass mein Leben doch gar nicht so lustig, entspannt und unterhaltsam war, wie ich es mir selber immer einredete.

    Ich schob die dunklen Gedanken energisch beiseite. Jetzt war sie hier und wir würden einen netten Samstag miteinander verbringen. Tom war irgendwo zu einem Kongress gefahren und heute würde einfach alles mal wieder so wie früher sein.

    Mara sprühte förmlich vor Aufregung. „Ich muss dir so viel erzählen, platzte es aus ihr heraus. „Was denn?, fragte ich neugierig. „Nicht jetzt, später, wenn wir irgendwo einen Kaffee trinken, okay? „Ach, seufzte sie und strahlte mich an, „du wirst dich so freuen."

    Mit dem Bus fuhren wir in die Innenstadt. Der Tag war grau, aber trocken und für November erstaunlich mild. Unzählige Autos und Menschen drängten sich bereits in den Straßen. Es roch nach Abgasen und Bratwurst. Gemütlich schlenderten wir durch die ersten Geschäfte auf der Suche nach DEM Kleid für den Silvesterball irgendwelcher Öko-Aktivisten in irgendeinem Hinterhof-Club. Ich schämte mich fast für meine bösartigen Gedanken, wusste ich doch, dass sie zum großen Teil daraus resultierten, dass ich ein wenig eifersüchtig war und nicht recht wusste, was ich Silvester ohne Mara machen sollte.

    „Was ist eigentlich mit dir?, fragte Mara plötzlich. „Was soll mit mir sein?, fragte ich verständnislos und ließ die Finger über einen sündhaft teuren, todschicken Kaschmir-Pulli mit großem V-Ausschnitt gleiten. „Was machst du Silvester?, fragte sie und nahm ein braunes Cocktailkleid näher in Augenschein. „Och, sagte ich gedehnt, „vielleicht gehe ich irgendwo tanzen, ich werde mal eine Kollegin fragen. Mara sah mich prüfend an. Ich konnte vor ihr einfach nichts verbergen. „Du hast keine Kollegin, mit der du über mehr sprechen würdest, als über die Quartalszahlen, konterte sie trocken. „Du kommst mit!, sagte sie dann bestimmt. „Ich will nicht, dass du alleine irgendwo hingehen musst, oder zu Hause Trübsal bläst. „Ach, du kennst mich doch, antwortete ich mit etwas gezwungener Fröhlichkeit, „ich hab doch auch alleine jede Menge Spaß.„Ja, alleine mit irgendwelchen Typen, deren Namen du nicht einmal weißt, nachdem du mit ihnen geschlafen hast, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch. „Komm, ich probiere das jetzt an und du kommst Silvester mit. Tom hat wirklich nette Freunde. Wer weiß…. Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Mara, ich will und brauche keinen Mann, schon gar keinen Greenpeace-Aktivisten. Das würde mir gerade noch fehlen", protestierte ich heftig.

    „Keine Widerrede", sagte Mara und quetschte sich mitsamt drei Kleidern an mir vorbei in die Umkleidekabine. Ich hörte das Rascheln von Stoffen, dann ein entrüstetes Schnaufen.

    „Das Licht hier drinnen ist unmöglich, quengelte sie, „ich sehe aus, wie ein Monster, wie ein Speck-Monster mit Dellen. Das geht so nicht. Sie trat aus der Kabine heraus und ich musste lachen, auch wenn es mir im selben Moment leid tat. Das Kleid in dezentem Leberwurst-braun klebte an ihren runden Hüften und ließ wirklich die Assoziation einer Wurst in Eigenhaut zu. Ihre Haare standen elektrisiert in alle Richtungen ab. „Nein, sagte ich trocken und unterdrückte ein hysterisches Kichern, „das geht so wirklich nicht. „Ich bin zu fett, jaulte Mara auf. „Nein, du bist nicht fett, du hast weibliche Formen und dafür brauchst du das passende Kleid, wiedersprach ich ihr energisch. „Du hast gut reden, maulte Mara weiter. „Du bist ja auch groß und schlank, ich hab die Größe einer Parkuhr und die Ausmaße eines Walrosses. Ich lachte. „Du übertreibst maßlos, tröstete ich sie. „Glaubst du wirklich, ich bin froh darüber, dass ich Schuhgröße 42 habe und eigentlich keinen BH tragen müsste, weil der liebe Gott bei mir eindeutig an der Oberweite gespart hat? Mara kicherte laut und drehte sich mit laszivem Hüftschwung in dem Leberwurst-Kleid vor dem Spiegel. Dann legte sie mir den Arm um die Schulter und lachte laut. „Wir sind die Schönsten, rief sie und hakte sich bei mir ein. „Und damit Basta.

    Beladen mit Plastiktüten saßen wir drei Stunden später bei einem kuscheligen Italiener und bestellten Pasta, Pizza und Cola light. „Das Kleid ist wirklich wunderschön. Es ist wie für dich gemacht", schwärmte ich. Wir hatten in einem kleinen Geschäft ein Kleid für Mara entdeckt, das wie maßgeschneidert saß. Die dunkelrote Farbe harmonisierte geradezu perfekt mit ihren braunen Haaren und ihrer hellen Haut.

    Nachdem sie das Kleid gekauft hatte, schienen die Geschäfte plötzlich voller schöner Dinge zu sein, die nur darauf warteten, von uns entdeckt und gekauft zu werden. Mara erstand innerhalb von kurzer Zeit noch einen Pullover, Unterwäsche und dicke, kuschelige Stricksocken und ich entschied mich nach einigem Überlegen doch für den teuren, aber sehr schicken Kaschmir-Pullover aus dem ersten Geschäft. Mit großartiger Laune und um einige hundert Euro ärmer waren wir schließlich beim Italiener eingekehrt.

    „Was wolltest du eigentlich vorhin erzählen?, frage ich nun doch sehr neugierig. „Mmh, machte Mara und schob sich noch ein großes Stück Pizza in den Mund. „Pass auf, sagte sie mit vollem Mund, immer noch kauend. „Also, es ist etwas ganz Tolles. Rate doch mal. Da kommst du nie drauf. Ich sah sie entnervt an: „Warum soll ich dann raten? Nun sag schon. „Du bist ein Spielverderber, maulte sie mit übertrieben beleidigter Miene, „wenn du geraten hättest, wäre es viel spannender geworden. „Jetzt erzähl es halt, knurrte ich und spießte eine Tortellini auf die Gabel. „Ich bin schwanger, platzte sie strahlend heraus. Mir verschlug es die Sprache. Ich verschluckte mich an den Tortellini und gleichzeitig fühlte ich mich, als wenn die Erde gerade ihre Rotationsrichtung gewechselt hätte. Um Fassung zu ringen, machte keinen Sinn. Man hatte mir schon oft gesagt, dass sich sämtliche Gefühle von meinem Gesicht ablesen ließen, wie aus einem offenen Buch. „Du bist was?, stammelte ich völlig überrumpelt und starrte meine Freundin entsetzt an.

    „S c h w a n g e r, buchstabierte Mara geduldig und grinste, „das ist das mit den Bienen und den Blumen und ach ja, den Klapperstorch nicht zu vergessen. „Das kann doch nicht sein, stieß ich gepresst hervor. „Ihr kennt Euch doch erst drei Monate, Mara, wie soll das denn gehen? „Also, dass es so ist, hab ich schwarz auf weiß und nun dazu wie das geht. Hättest du im Biounterricht nicht geschwänzt, müsstest du das eigentlich sehr genau wissen. Im Internet kannst du aber sicher eine Menge darüber nachlesen", sagte sie süffisant grinsend.

    Ich brachte kein Wort heraus, sondern starrte sie immer noch mit großen Augen an.

    „Weißt du, sagte sie plötzlich sehr sanft und sah mich mitfühlend an. „Ich glaube, dass du das, was ich dir jetzt sage, nicht gleich verstehen wirst. Aber ich werde versuchen es dir zu erklären und dann hoffe ich, dass du dich einfach für mich freust. Ich brauche dich. Du bist doch meine beste Freundin. Der letzte Satz klang fast wie eine Frage.

    Ich fummelte fahrig an meinem Strohhalm herum. Verzweifelt versuchte ich, irgendwie das Chaos meiner Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Ich hatte plötzlich irrsinnige Angst um unsere Freundschaft. Dazu kam aufsteigende Panik. Alles würde sich verändern und am Ende würde ich vielleicht einsam und alleine zurück bleiben. Ich unterdrückte den Wunsch, hysterisch loszulachen. Warum musste ich eigentlich immer kichern, wenn mich eine Situation überforderte? Eine schreckliche Angewohnheit. Ich versuchte meine Gesichtszüge zu kontrollieren. Mara betrachtete mich nachdenklich.

    „Als ich es bemerkt habe, stand ich zunächst einfach nur unter Schock, sagte sie leise. „Es war nicht geplant. Sicherlich, ich wollte immer Kinder, aber doch nicht jetzt und nicht so schnell. Aber dann, weißt du Lana, es fühlt sich richtig an. Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich das Gefühl habe, genau auf dem richtigen Weg zu sein. Es wird chaotisch, schwierig, neu, aber irgendwie weiß ich, dass es auch das Schönste sein wird, dass ich je erlebt habe. Mara klang atemlos. „Und Tom?, frage ich trocken, „wie findet der das? Sie lächelte und sagte dann ruhiger: „Das ist ja das Schöne daran. Er sieht es genauso. Er war zunächst auch völlig durcheinander und dann hat er sich gefreut, richtig gefreut und er hat gesagt, dass es niemals den perfekten Zeitpunkt für ein Baby gibt, sondern, dass der perfekte Zeitpunkt immer der ist, wenn es passiert." Sie strahlte.

    „Wir wollen zusammen ziehen, erst mal in seine Wohnung, die ist fürs erste groß genug und liegt eindeutig mehr im Grünen, als meine kleine Bude. Und dann werden wir uns einfach freuen und sehen, was passiert." Sie hielt kurz inne und sah mich unsicher an.

    „Ach Lana, ich bin so glücklich, das erste Mal seit langer Zeit fühle ich mich richtig gut und hab keine Angst mehr, vor dem was kommt."

    Ich sah sie an und wusste einfach nicht was ich sagen sollte. Mir fielen tausend Dinge ein, die vernünftig waren, die Sinn machten, die sie überdenken sollte und doch sagte ich nichts von alle dem. Ein Blick in ihre Augen machte mich fast demütig und still. Was wusste ich von diesen Dingen? Was verstand ich wirklich von dem, was sie da sagte? Was davon konnte ich auch nur im Ansatz nachvollziehen? Nichts, musste ich mir eingestehen, gar nichts.

    Seit der Trennung von Arndt vor gut zwei Jahren hatte ich nur an mich gedacht. Ich hatte viel gearbeitet, mir eine schicke Wohnung gekauft, war ausgegangen und hatte mich amüsiert. Dabei hatte ich immer darauf geachtet, dass mir niemand näher kam, als unbedingt nötig. Es hatte immer Männer gegeben, viele Männer, aber keiner von ihnen war bis zum Frühstück geblieben. Ich hatte mir einen Grundsatz auf die Fahne geschrieben, der Mara oft zum Kopfschütteln gebracht hatte: Wer mir nicht zu nahe kommt, kann mir nicht wehtun. Wer nicht da war, den kann ich nicht vermissen. Mara hatte damals alles mit mir durch-gestanden, die Heulkrämpfe, die Wutanfälle, die Trauer und die Verzweiflung, die mich immer wieder quälte. Sie war immer da gewesen. Sie hatte mich aufgebaut, mir zugehört, wenn ich zum hundertsten Male nach dem Warum fragte, oder einfach nur meinen Rücken gestreichelt, wenn ich wieder einmal hemmungslos geweint hatte. Irgendwann war es leichter geworden. Ich hatte meinen Platz gefunden, aber das Leben hatte mich härter werden lassen.

    „Was wird nun aus mir werden?", fragte ich mich und schämte mich zugleich für meinen Egoismus und den bitteren Gedanken, dass Mara bald bestimmt nicht mehr so viel Zeit für mich haben würde.

    Sie durchschaute mich, das sah ich, als ich nun hoch schaute und ihren Blick auffing.

    „Lana, sagte sie leise, „ich würde so gerne sagen, dass zwischen uns alles bleibt, wie es immer war. Aber das wird es nicht, das Kind wird alles verändern, aber das ist nichts Schlechtes. Ich werde weiterhin immer für dich da sein, so gut ich kann. Ich will weiterhin deine allerbeste Freundin sein. Das Kleine wird eine Bereicherung sein. Vielleicht auch für dich, glaub mir.

    Ich straffte die Schultern und sagte dann etwas, wofür ich mich sofort hätte ohrfeigen können. Aber ich wollte irgendetwas sagen, dass sie verletzte, irgendetwas tun, damit doch noch alles wieder wie immer werden würde. Irgendetwas, das Mara dazu brachte, doch noch einmal alles zu überdenken und sich gegen das Kind zu entscheiden. Auch wenn ich tief in meinem Herzen wusste, dass nichts sie dazu bringen würde und auch nicht sollte. „Was ist, wenn es mit Tom nicht klappt? Ihr kennt euch doch kaum. Du weißt doch, wie Männer sind. Hast du darüber schon einmal nachgedacht? Was ist, wenn er dich in ein paar Monaten mit dem Gör sitzen lässt, was dann…?" Ich beendete den Satz nicht, sondern starrte sie fast herausfordernd an.

    Mara sah mich prüfend an und sagte dann gelassen: „Na und. Es gibt keine Garantien, für nichts auf der Welt bekommst du eine. Ich glaube nicht, dass dein Weg der ist, der uneingeschränkt glücklich macht. Für nichts und niemanden Verantwortung zu übernehmen, sein Herz an nichts mehr zu hängen, nur damit es nicht in Gefahr gerät, gebrochen zu werden. Hinter einer hohen Mauer hocken und nur ganz selten mal einen Blick darüber riskieren und sich dann schnell wieder zurückziehen. Mein Weg ist das nicht und er war es auch nie, Lana. Aber ich habe den deinen auch nie in Frage gestellt, sondern war immer glücklich und zufrieden, wenn du gesagt hast, dass du es bist. Das Gleiche hätte ich mir auch so sehr von dir gewünscht."

    „Lass uns jetzt besser gehen, sagte sie dann hastig, „ich glaube, wir brauchen beide ein bisschen Zeit für uns. Sie winkte nach dem Kellner. Draußen auf der Straße umarmten wir uns schnell und sie sagte dann, mit erzwungener Fröhlichkeit: „Ruf mich morgen an. Dann besprechen wir auch die Silvesterfeier. Tschüss Süße." Dann ging sie schnell davon. Ich hatte sie tief verletzt, das wusste ich.

    Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke nach oben und stapfte durch den einsetzenden Sprühregen. Die Welt war grau und trüb, genau wie meine Stimmung. „Mara hat unrecht mit dem, was sie sagt. Ich verkrieche mich nicht. Ich will so leben. Ich bin frei, Single und genieße meine Freiheit in vollen Zügen. Ich vermisse nichts, redete ich lautlos auf mich ein. Eine Stimme in mir erhob sich, um leise Zweifel anzumelden, aber ich erstickte jeden weiteren Gedanken im Keim. Ich suchte nach einem Feuerzeug, zündete mir eine Zigarette an, inhalierte den Rauch tief in die Lunge und murmelte dann leise vor mich hin: „Du bist nur müde. Morgen fühlst du dich wieder besser. Schluss jetzt, Lana.

    Mit gesenktem Kopf trottete ich Richtung Bushaltestelle und war froh, mich in der Anonymität der Großstadt einfach verstecken zu können. Der feine Regen benetzte mein Gesicht, so dass ich mir selber einreden konnte, dass ich nicht weinte.

    Am nächsten Morgen erwachte ich viel zu früh. Ich hatte den Abend zu Hause vor dem Fernseher verbracht, Unmengen an Schokolade in mich hineingestopft und mich selber bedauert und dabei schrecklich einsam und allein gelassen gefühlt.

    Das Fernsehprogramm ließ zu wünschen übrig. Ich konnte mich nicht auf einen Film konzentrieren. Zu allem Überfluss gab es entweder schmalzige Liebesfilme, oder einen Actionfilm mit einem Helden ohne Hirn, dafür mit sehr vielen Muskeln. Entnervt schaltete ich den Fernseher aus. Zum Ausgehen fühlte ich mich zu müde und nicht in der richtigen Stimmung. Schon der Gedanke an eine überfüllte Bar ließ mich schaudern. Ich erkannte mich selbst kaum wieder an diesem Abend. So war ich, für mich völlig untypisch, schon kurz nach zehn unter die Bettdecke gekrochen und hatte mich in den Schlaf geheult. Irgendwie war alles durcheinander geraten. Ich fühlte mich wie der letzte Mensch auf Erden. Die sonst so angenehme Anonymität und meine schicke, blitzsaubere Wohnung hatten mich nicht getröstet, sondern mich noch mehr verzweifeln lassen. „Winterdepression, sonst gar nichts", hatte ich laut zu mir selber gesagt, aber an diesem Abend störte es mich sogar, dass mir keiner antwortete und widersprach. Ein Zustand, der mich bisher immer zufrieden und glücklich gemacht hatte.

    Ich öffnete mühsam die verquollenen Augen und warf einen Blick auf meinen Wecker. Kurz nach acht. „Herzlichen Glückwunsch Lana, das ist mal eine tolle Zeit, um an einem Sonntagmorgen aufzuwachen",  sage ich laut zu mir selber. Ein ewig langer grauer Tag lag vor mir und ich wusste nicht recht, was ich mit mir und der Zeit anfangen sollte. Vielleicht sollte ich Mara anrufen und ihr einfach sagen, dass es mir leid tat. Dass ich mich sehr für sie freute und dass ich immer für sie da sein würde, egal was die Zukunft bringen würde. Ich verwarf den Gedanken, ich konnte unmöglich an einem Sonntagmorgen um kurz nach acht bei ihr anrufen. Tom würde mich hassen und sie würde sich wundern. Früher, als Mara noch alleine gewesen war, hätte ich nicht eine Sekunde gezögert,  aber seit Mara jedes Wochenende bei Tom wohnte, hatte sich so Einiges verändert.

    Ich versuchte mich bequem hinzulegen, mich in die Decke einzukuscheln und wieder einzuschlafen, aber richtig wollte es mir einfach nicht gelingen. Unruhig warf ich mich hin und her. Ich schlief dann doch noch einmal kurz ein. Ich hatte einen irrsinnigen Traum von einer hochschwangeren Mara, die mir glücklich erzählte, dass sie Vierlinge erwartete und dass ich Taufpatin von allen vier Babys werden sollte. Außerdem bot sie mir strahlend an bei Tom und ihr einzuziehen, um als Babysitter immer zu Stelle zu sein. „Das würde mir gut tun und mein Leben ausfüllen", behauptete sie und bat mich dann, Babysocken zu stricken. Völlig verwirrt erwachte ich kurze Zeit später wieder und schlug entschieden die Bettdecke zur Seite. Ich fühlte mich schrecklich, völlig zerschlagen und gleichzeitig zappelig. Ich stehe jetzt auf, trinke einen starken Kaffee und dann gehe ich irgendwo spazieren, entschied ich und rappelte mich schwerfällig auf.

    Eine Stunde später stand ich dick eingepackt mit Schal und Daunenjacke vor meiner Wohnungstür. Ich brauchte dringend frische Luft, Bewegung und ein bisschen Tageslicht.

    Mein Kopf tat mir weh. Während ich darüber nachdachte, wohin ich an diesem grauen Sonntagvormittag gehen könnte, fiel mir ein, dass ich mit Arndt immer gerne im Wald spazieren gegangen war. „Was mit diesem Mistkerl schön gewesen war, konnte doch alleine sogar noch viel schöner sein, überlegte ich, während ich mich nach meinem Auto umsah. Wieso konnte ich mir eigentlich nie merken, wo ich geparkt hatte? Ich entschied mich dafür, an den südlichen Stadtrand zu fahren und ein bisschen durch den nebeligen November-Wald zu stapfen. „Danach fahre ich zur Sonnenbank und lasse mich durchwärmen. Ich bin ohnehin viel zu blass. Dann mache ich es mir mit einer großen Tasse Kaffee und einer Tüte Kekse auf der Couch bequem, entschied ich und nickte zufrieden. Bis dahin wäre es bestimmt schon früher Nachmittag und ich konnte bei Mara anrufen und mich entschuldigen. Etwas entspannter und zufriedener startete ich meinen grünen Mini Cooper, den ich endlich entdeckt hatte, drehte die Musik auf und sang falsch und viel zu laut mit.

    Ich erreichte den Parkplatz am Rande des Naherholungsgebietes. Er war fast leer, nur zwei Autos standen schon zu dieser frühen Zeit hier. Ein Mann versuchte gerade, seinen furchtbar dicken Hund davon zu überzeugen, in den Kofferraum seines Kleinwagens zu springen. Das gute Tier schaute immer wieder verzweifelt zwischen seinem erwartungsvollen Herrchen und dem geöffneten Kofferraum hin und her. Dann machte er einen beherzten Sprung in die Höhe, wurde aber durch seine Leibesfülle und die Erdanziehungskraft überlistet und landete recht unsanft mit dem Vorderteil im Wagen, während das dicke Gesäß des Hundes zwischen Auto und Waldboden hing. Das Herrchen packte nach dem Hinterteil des Prachtkerls und schob ihn recht unsanft in den Wagen. Der Hund schaute zum Steinerweichen und winselte leise. Ich musste hysterisch lachen. Der Mann sah mich irritiert an, als wäre ich nicht ganz zurechnungsfähig, verstaute den Rest des Tieres im kleinen Kofferraum und warf mit einem lauten Knall die Kofferraumklappe zu. Ein vernichtender Blick traf mich und ich musste noch heftiger kichern.

    Ich warf einen kurzen Blick auf die Umgebungskarte, die an dem Parkplatz für Spaziergänger aufgestellt worden war. Ich entschied mich für eine kleine Runde durch den Wald, die ich früher auch schon öfter gegangen war und von der ich wusste, dass ich sie in einer Stunde gut bewältigen konnte. Ich stapfte los und genoss das Rascheln des Laubes unter meinen Füßen und die wundervolle Stille im Wald. Die Bäume hatten fast alle ihre Blätter verloren und der Wald sah mystisch aus im gedämpften Licht des grauen Winterhimmels.

    Auf einem breiten Sandweg kamen mir zwei Reiter entgegen. Sie zügelten ihre Pferde und grüßten freundlich. Kurz nach dem sie mich passiert hatten, galoppierten sie wieder an und verschwanden gleich darauf hinter der nächsten Wegbiegung. Ich konnte ihre fröhlichen Stimmen hören, als die eine Reiterin der anderen etwas zurief.

    Einen Augenblick sah ich ihnen gedankenverloren nach. Als junges Mädchen war ich auch vom Pferdevirus befallen, wie mein Vater es immer scherzhaft genannt hatte. Jede freie Minute hatte ich im Reitstall verbracht. Aber im Laufe der Zeit hatten andere Dinge immer mehr Zeit in Anspruch genommen und waren wichtiger geworden, so dass ich als Teenager die Reitkappe endgültig an den Nagel gehängt hatte. Seit dem hatte ich kaum noch ein Pferd aus der Nähe gesehen. „Schade eigentlich, dachte ich. „Vielleicht sollte ich es mal wieder versuchen. Aber eigentlich hatte ich dafür sowieso keine Zeit. Ich schlenderte einen schmalen, verwunschenen Pfad durch den Wald abwärts in ein kleines Tal. Brauner Farn wuchs dicht am Weg, in den Spinnenweben dazwischen glitzerten Regentropfen. Obwohl ich krampfhaft versuchte, nicht daran zu denken, fiel mir doch wieder ein, wie es mit Arndt gewesen war. Wir waren häufig hier gewesen, hatten den schweren, erdigen Geruch eingeatmet. Wir hatten die Natur genossen, miteinander geredet oder einfach nur geschwiegen und den Vögel in den Baumwipfeln zugehört. Wir hatten Rehe am Waldrand beobachtet und waren einmal sogar auf Wildschweine getroffen. Diese Begegnung war zum Glück aber glimpflich ausgegangen, da die Rotte uns nicht bemerkt und wir schleunigst die Richtung gewechselt hatten.

    Wir hatten den Wald beide sehr geliebt. Arndt hatte auch immer den Traum gehabt, irgendwann raus aus der Stadt aufs Land zu ziehen. Vielleicht ein eigenes Häuschen zu bauen und nur noch zum Arbeiten in die Stadt zu fahren. Ich wollte davon nichts wissen. Ich war glücklich in der Stadt mit den vielen Geschäften, den Clubs und den schicken Restaurants. Unsere Wohnung in einem Mehrfamilienhaus war modern und geschmackvoll eingerichtet. Mir reichte am Wochenende hin und wieder ein Ausflug aufs Land. In meiner Lebensplanung gab es kein spießiges Einfamilienhaus im Grünen mit einem hübschen Jägerzaun drum herum. Ich wollte nicht irgendwo ankommen, wie viele meiner damaligen Freunde und Bekannten es so nett formulierten.

    Vielleicht war das auch einer der Gründe, warum er irgendwann immer mehr Zeit mit Lisa verbracht hatte. Sie war zum Anfang nur eine Kollegin gewesen. Als ich sie das erste Mal sah, war mir sofort ihre große Zahnlücke zwischen den beiden Schneidezähnen aufgefallen. Sie hatte ihr ein mädchenhaftes, süßes Aussehen verliehen. Ansonsten war an ihr nichts Besonderes, wie ich fand. Klein, schlank mit kurzem dunklem Haar war sie keine Frau, die ich als Konkurrentin für mich und meine Beziehung zu Arndt gesehen hätte. Sie war einfach nicht sein Typ, viel zu burschikos, eine Frau, die lieber mit Jeans und Wollpullis im Garten arbeitete, anstatt auf Partys oder Ausstellungen zu gehen. Sie sprach immer ein bisschen zu laut. Ich fand sie insgesamt etwas derb und nicht besonders attraktiv. Deshalb war ich auch erst ohne Sorgen und Bedenken, als die beiden immer häufiger gemeinsam auf Geschäftsreise gingen. Sie arbeiteten eben beide an demselben Projekt und ich war bestimmt keine Frau, die ihrem Freund eine Szene machte. Als ich hellhöriger und besorgter wurde, war es bereits viel zu spät. „Schluss jetzt, sagte ich laut zu mir. „Darüber werde ich jetzt nicht mehr nachdenken, das Thema ist beendet und vergessen. Und ich bin froh darüber. Es geht mir besser ohne ihn. Er ist ein mieser Arsch! Meine Stimme klang hohl und viel zu laut in dem stillen Wald. Verstohlen sah ich mich um, ob nicht jemand in der Nähe war, der meinen Selbstgesprächen lauschte. „Ich hab mir das richtig angewöhnt, schalt ich mich, „ständig rede ich mit mir selber. Verdammt, Lana hör auf damit. Ich begann beherzt einen Pfad auf einen kleinen Hügel hinaufzusteigen, der mich durch das dichte Unterholz zurück auf den Hauptweg führen würde. Ich schnaufte etwas beim Anstieg und in der kühlen feuchten Luft konnte ich meinen Atem als kleine Wolken vor mir aufsteigen sehen. „Verdammte Qualmerei, kurzatmig wird man davon", murmelte ich finster vor mich hin. Die Bäume standen hier sehr dicht und Farn und Gestrüpp wucherte über den gewundenen, an vielen Stellen matschigen und glitschigen Pfad. Der Nebel hatte sich verdichtet und die Feuchtigkeit kroch mir unter die Jacke. Ich stapfte energisch weiter und kämpfte eine seltsame, aufkommende Panik nieder. Ich kannte den Weg, auch im dichtesten Nebel würde ich sicher zum breiten Hauptweg zurückfinden. Dieser führte dann direkt zum Parkplatz und zu meinem hübschen, kleinen Auto. Ich holte tief Luft. Es wurde immer dunkler und grauer, der Nebel umgab mich wie eine wabernde Masse. Meine Haare kringelten sich in der Feuchtigkeit. Die Bäume konnte ich nur noch als Silhouetten wahrnehmen, die ihre kahlen Äste in den dunstigen Himmel streckten, wie knöchrige Arme. Ich begann unwillkürlich zu zittern. Plötzlich sah ich einen Schatten vor mir, er huschte kaum zwei Meter vor mir über den Pfad. Ich hörte mich selber erschrocken aufschreien. Der Schatten tauchte wieder zwischen dem Farn auf. Er erinnerte mich entfernt an einen großen Hund. Wo war der Besitzer dazu? Verdammt, konnte er das Tier nicht anleinen? Ich wollte etwas rufen, doch ich brachte nur ein Krächzen hervor. Der Schatten huschte abermals an mir vorbei, diesmal direkt vor meinen Füßen. Meine überreizten Nerven schlugen Alarm. Das Tier hatte eindeutig graues Fell. Ein Wolf?

    „Ruhig Lana, es gibt keine Wölfe im Hamburger Umland", murmelte ich. Der Nebel verschluckte meine Worte und ich konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen.

    „Ruhig bleiben Lana. Die Feuchtigkeit hat sich im Tal gesammelt, deshalb ist der Nebel hier so dicht, gleich bist du wieder auf der Anhöhe, versuchte ich mir verzweifelt selber Mut zuzusprechen. Meine Stimme klang dünn und zittrig. Die Nebel senkten sich, wie ein graues Tuch über mich. Ich konnte den Weg mittlerweile nicht mehr erkennen, tappte wie eine Blinde durch das Unterholz, blieb mit dem Fuß an irgendetwas hängen und fiel hin. Ich rappelte mich auf, matschig und nass und mittlerweile völlig panisch. Dann sah ich wieder den Schatten des Tieres, direkt vor mir. Es sah nun verdammt realistisch nach Wolf aus. „Hilfe, hauchte ich nur und dann stolperte ich über eine Baumwurzel. Wieder fiel ich der Länge nach auf den erdig riechenden Waldboden, meine Hände krallten sich in die bunt gefärbten, feuchten Blätter und der Nebel sank auf mich herab wie eine feuchte, kalte Decke. Meine Zähne begannen zu klappern. Alles drehte sich. Das Letzte, was ich hörte, war der klagende Ruf eines Tieres. Es war eindeutig das Heulen eines Wolfes.

    Kapitel 2

    „Der Vogel singt, das Reh es springt, es kommt die Frühlingszeit" sang eine piepsige Kinderstimme.

    Die Melodie kam mir seltsam vertraut vor und doch konnte ich schwören, dass ich das Lied noch nie zuvor gehört hatte.

    „Das Gras es grünt, der Wald..." Der Gesang brach abrupt ab und irgendwas stupste mich an meinem Hinterteil an. Ich schaute auf und starrte in das Gesicht eines vielleicht sieben- jährigen Mädchens mit blonden Zöpfen und auffallend grünen Augen. Sie trug nur ein Kleidchen aus ungefärbter Wolle und war barfuß. Mit ihrem linken Fuß trat sie mir nun recht energisch in die Kehrseite.

    „Wer bist du denn?, fragte sie fröhlich. „Kommst du aus den Hügeln und willst zum Fest? Warum trägst du so einen dicken Mantel, ist dir nicht warm? Völlig unbedarft ließ sie sich vor mir auf dem Boden nieder. „Du bist sehr schmutzig im Gesicht, du solltest dich waschen, plapperte sie ungehemmt weiter. „Faolane wäre sehr böse auf mich, wenn ich so herumlaufen würde. Warum liegst du hier eigentlich? Bist du müde, willst du schlafen? Das Kind wartete keine Antwort von mir ab. Ich hätte ihr ohnehin keine geben können. Ich lag bäuchlings im Gras. Es war ziemlich warm und in meiner dicken Winterjacke begann ich bereits heftig zu schwitzen. Mein Schal hatte sich irgendwie um meinen Hals geknotet, so dass ich das unangenehme Gefühl hatte, gerade langsam stranguliert zu werden. Mühsam setzte ich mich auf. Mein Kopf drohte zu explodieren. Wo zum Teufel war ich? Ich löste den Schal und sog erleichtert Luft in meine Lungen. Dann sah ich mich um.

    Ich saß in meiner dicken Winterjacke, völlig mit feuchter Erde und Matsch beschmiert auf einem kleinen Hügel. Vor mir erstreckte sich ein üppiges grünes Tal. In der Nähe konnte ich eine kleine Ansammlung von Lehmhütten sehen, die mit Stroh gedeckt waren. Das Tal wurde von einem kleinen Fluss geteilt, der sich munter sprudelnd durch die Ebene schlängelte und im Westen in einem kleinen Waldstück verschwand. Hinter mir konnte ich eine sanfte Hügellandschaft ausmachen, in der Ferne erhoben sich graue, schroffe Berge. Die Sonne schien warm vom blauen Himmel und Grillen zirpten im hohen Gras, das sich im lauen Wind sanft hin und her wiegte.

    Ich rieb mir die Augen und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Das muss ein Traum sein, dachte ich mir und kniff mich selbst herzhaft in den linken Unterarm. Ich erwartete eigentlich, dass das idyllische Bild vor meinen Augen verschwand und ich wieder in dem herbstlichen, nass-kalten Wald zu mir kam. „Ich muss gestürzt sein und muss mir irgendwo den Kopf angeschlagen haben", schlussfolgerte ich. Aber zu meinem Erstaunen und Entsetzen verschwand das Bild nicht, sondern das Mädchen, das ich eben noch für ein Trugbild meiner überreizten Nerven gehalten hatte, hockte noch immer vor mir im Gras. Mein Arm schmerzte an der Stelle, an der sich meine manikürten Nägel ins Fleisch gegraben hatten.

    „Wie heißt du?, fragte das Mädchen und sah mich mit ihren grünen Augen treuherzig und neugierig an. „Na prima, dachte ich mir, „das ist mal eine Frage, die ich beantworten kann."

    „Lana, sagte ich und meine Stimme klang schwach und piepsig. „Lana, wiederholte das Kind fast andächtig. „Ich bin Elea, verkündete sie dann fröhlich und begann Blätter aus meinen Haaren zu zupfen. „Willst du mit mir fangen spielen, oder verstecken?, fragte sie dann. Ihr Gesicht strahlte.

    „Elea, ertönte in diesem Augenblick eine Stimme. „Elea, wo steckst du denn schon wieder? Ich rappelte mich auf und stand einer Frau gegenüber, an der mir als allererstes ihre irrsinnig faszinierenden Augen auffielen. Sie waren golden und standen leicht schräg. Die Frau schien vollkommen alterslos zu sein. Ihr Gesicht war leicht von der Sonne gebräunt, ihr langes silbrig schimmerndes Haar wurde von einer Spange aus Horn gehalten. Sie trug ein Kleid aus ungefärbter Wolle, das in der Taille von einem breiten Gürtel aus derbem Leder zusammen gehalten wurde. Sie war ungefähr so groß wie ich, sehr zart und feingliedrig und doch wirkten ihre Bewegungen unglaublich kraftvoll und elegant.

    Sie sah mich durchdringend an, ihre goldenen Augen schienen geradewegs auf den Grund meiner Seele zu schauen. Ich schluckte hart und wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als sie mir sanft die Hand auf den Arm legte und schlicht sagte: „Willkommen. Ich bin Faolane und wie ist dein Name? Ihre Stimme klang wie flüssiges Gold. Sie ließ irgendetwas in mir vibrieren. Ich fühlte mich plötzlich zittrig und noch verwirrter, wenn mein derzeitiger Zustand überhaupt noch steigerungsfähig war. Vor meinen Augen begann sich alles zu drehen. Ich plumpste unsanft auf mein Hinterteil ins Gras und schloss die Augen. Mir war schrecklich schwindlig und mein Mund war furchtbar trocken. Als ich die Augen wieder öffnete, stand die Frau immer noch vor mir und sah freundlich lächelnd auf mich herab. „Mein Name ist Lana, würgte ich hervor. „Ich weiß nicht…", wollte ich fortfahren, aber sie unterbrach mich, indem sie nach meiner Hand griff und mir auf die Füße half. Ihre Berührung fühlte sich unglaublich sanft auf meiner Haut an und wieder hatte ich das Gefühl, dass mit ihren Augen irgendetwas nicht stimmte. Nie hatte mich jemand so intensiv angesehen.

    „Hallo Lana, sagte sie sanft. Mein Name klang aus ihrem Mund sonderbar fremd und doch sehr vertraut. „Willkommen in Salandor. Dir muss schrecklich warm sein. Möchtest du nicht mit hinunter ins Tal zu meiner Hütte gehen und die dicke Jacke ausziehen? Dort könntest du dich auch etwas waschen. Ich blickte sie völlig verwirrt an. „Ich muss mich verlaufen haben, stammelte ich. „Gerade war hier noch der Weg, der mich durch den Wald… Wieder unterbrach sie mich, indem sie mich einfach nur unverwandt ansah und seltsam wissend lächelte. Meine Stimme erstarb. Komischerweise fühlte ich keine Angst und auch die Panik, die zwischendurch in mir aufgestiegen war, ebbte ab. „Erzähl mir später davon, sagte sie dann ruhig. „Zunächst sei mein Gast, du musst schrecklich durstig sein. Es ist ein warmer Tag heute. Komischerweise widersprach ich nicht, sondern begann einfach stumm neben ihr den Hügel hinab zu steigen. Mein Kopf war vollkommen leer und doch war ich unglaublich ruhig. So ruhig, wie ich schon seit Monaten nicht mehr gewesen war. „Du musst sehr stark mit dem Kopf aufgeschlagen sein", dachte ich und wischte mir den Schweiß aus dem Gesicht.

    Elea hüpfte vor uns den Hügel hinunter und hatte wieder zu singen begonnen. Die Frau, die sich als Faolane vorgestellt hatte, bewegte sich mit einer fließenden Eleganz leichtfüßig den schmalen Pfad hinunter, auf die kleine Ansammlung der Hütten zu.

    Ich fuhr mit der Zunge über meine trockenen Lippen. Sie waren salzig. Ich war verwundert. „Ist hier das Meer in der Nähe?, fragte ich völlig zusammenhangslos. Anstatt mich anzustarren, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf, drehte sich die Frau zu mir um, lächelte freundlich und sagte: „Ja, gleich hinter dem Tal fallen steile Klippen zum Meer ab. Man kann das Salz deutlich in der Luft schmecken, nicht wahr?

    Wir erreichten die Hütten und sie führte mich zu einem kleinen Haus am Rande der Siedlung. Es war aus Lehm gebaut, das Dach war mit Stroh gedeckt. Vor der kleinen niedrigen Tür stand eine verwitterte Holzbank.

    „Setz dich hier hin und zieh deine warme Jacke aus, ich hole uns einen Schluck Wasser", sagte Faolane.

    Ich ließ mich auf die Bank plumpsen und legte Jacke und Schal über die Lehne. Auch meinen Wollpullover zog ich aus und atmete tief durch. Die Sonne schien warm auf meine nackten Arme und ich blinzelte, um meine Umgebung genauer zu betrachten. Die Hütte stand etwas außerhalb der Ansammlung der anderen Gebäude. Auf einer kleinen Fläche neben dem Haus war liebevoll ein Garten mit allerlei Gemüse angelegt. Da ich meine Nahrungsmittel eigentlich nur in klimatisierten Supermärkten kaufte, erkannte ich außer Karotten recht wenig von dem, was da wuchs.

    Eine kleine, pummelige Katze kam gemütlich auf mich zu geschlendert, betrachtete mich kurz interessiert und sprang dann mit einem großen Satz auf meinen Schoß. Dort rollte sie sich leise schnurrend zusammen. Ich begann, wie automatisch ihr weißes Fell zu kraulen. „Wo bin ich nur?", fragte ich halblaut. Die Katze gab zum Glück keine Antwort, ansonsten wäre ich wohl vor Schreck gestorben, sondern veränderte nur kurz ihre Position, um dann sofort wieder einzuschlummern. Faolane kam aus der Hütte und reichte mir einen Tonbecher mit Wasser, außerdem stellte sie einen Teller mit getrockneten Apfelringen und dunklem Früchtebrot auf einen abgesägten Baumstamm, der als Tisch diente.

    „Oh, Palja hat dich gleich als sein Opfer auserkoren. Nun wirst du Probleme haben, den kleinen Tiger wieder loszuwerden. Er ist sehr besitzergreifend", sagte sie lächelnd. Ihre Stimme jagte mir einen sanften Schauer über den Rücken. Ihr Klang war unbeschreiblich, melodisch, dunkel und warm.

    Ich trank einen großen Schluck und glaubte nie etwas Besseres getrunken zu haben, als dieses Wasser. Es war kühl und schmeckte leicht erdig. Durstig leerte ich den Becher fast in einem Zug. Sie schenkte mir ungefragt aus einem tönernen Krug nach.

    „Es ist wunderschön hier, sagte ich, „aber doch habe ich keine Ahnung, wo ich bin und wie ich hier hergekommen bin. Faolane sah mich an und sagte dann leise: „Du wirst viele, vielleicht alle Antworten bekommen und noch mehr Fragen werden sich dir stellen. Aber für den Moment sollst du nur wissen, dass du hier bist. Vertrau mir, alles ist gut, jetzt wo du da bist."

    Ich sah sie verwirrt an und wollte eigentlich gerade entnervt und energisch ansetzen, dass ich jetzt wissen wollte, wo ich war und vor allem, wie ich wieder nach Hause kam. Der Blick in ihre goldenen Augen ließ mich abermals meine Stimme verlieren und ich sah sie nur stumm und verwundert an. „Lerne Vertrauen, Sehen und Verstehen, sagte sie dann weich und sanft. „Du sprichst in Rätseln, krächzte ich hilflos.

    „Ja, ich weiß, aber für den Moment, vertraue mir. Ich verspreche dir, dass du jederzeit zurückkehren kannst. Dorthin, wo du hergekommen bist. Schenk mir ein paar Stunden und dann geleite ich dich zurück. Dann werden schon einige deiner Fragen beantwortet sein."

    „Aber ich muss jetzt Antworten haben",  begehrte ich auf und fühlte Panik in mir aufsteigen.

    Sie sah mich unverwandt an und legte mir dann sanft die Hand auf meinen nackten Arm. Obwohl ich nur noch ein dünnes T-Shirt trug, schwitze ich.

    Ihre Berührung ließ mich wieder ruhiger werden und ich entspannte mich. Mein Gehirn und meine hektischen, wirren Gedanken wurden träge. Ich fühlte mich fast wie hypnotisiert.

    „Heute ist ein großes Fest hier im Dorf. Bleib hier und lass dich ein paar Stunden treiben.

    Du wirst rechtzeitig zurück sein."

    Ihre Worte waren freundlich und mild und doch hatte ich das unbestimmte Gefühl nicht widersprechen zu können und zu dürfen. Es war eine eigenartige, fast magische Stimmung hier vor der kleinen Hütte im Sonnenschein.

    In diesem Augenblick bog Elea um die Ecke und zerrte einen großen, gelben Hund an einem Seil hinter sich her. „Du musst Zasko kennenlernen", rief sie und ruckte an der Leine. Der Hund hatte es überhaupt nicht eilig, sondern schlurfte gemütlich hinter der Kleinen her.

    Mit ernsten Augen sah das Mädchen den Hund an und sagte dann würdevoll: „Das ist Lana, sie kommt aus den Hügeln. Sag guten Tag Zasko." Ich wollte mir gerade darüber Gedanken machen, warum das Mädchen so selbstverständlich eine mit Lehm und Dreck beschmierte, völlig fremde Frau akzeptierte, die einfach so im Gras lag. Doch bevor ich dazu kam, sah der Hund kurz hoch, entdeckte den Kater auf meinem Schoss, fixierte ihn mit einem schnellen Blick und schoss los. Palja sprang wie der Blitz auf, machte einen Buckel und fauchte. Aber schon war der Hund nach vorne gesprungen, um sich den Kater zu greifen. Der suchte sein Heil in der Flucht, sprang in einem großen Satz von meinem Schoss, gerade in dem Moment, als der Hund auf selbigem landete. Nun ist ein gut Fünfundreißig Kilogramm schwerer, sehr großer Hund nicht dazu gemacht, um auf dem Schoss zu sitzen. Hund und ich verloren das Gleichgewicht, plumpsten in einem Knäuel von der Bank auf den Boden und rissen dabei den Teller mit den Köstlichkeiten vom Baumstumpf.

    Noch ehe ich wieder Herr meiner Sinne war, hatte der Hund sich darauf besonnen, dass Früchtebrot viel besser schmeckte, als Katze, schnappte sich ein großes Stück und machte sich mit schleifender Leine davon. Elea machte ein böses Gesicht, dann sah sie mich an und wir begannen zeitgleich zu kichern. Faolane stimmte in unser Gelächter ein.

    Es war, als wenn das Eis in diesem Moment gebrochen war. Ich sah die Frau lange an. Wieder war ich fasziniert von ihren Augen und ihrer ruhigen Schönheit. Irgendetwas in mir sagte: „Du kannst ihr tatsächlich vertrauen." Die andere Stimme der Vernunft, die die ganze Zeit immer wieder laut gesagt hatte, dass das hier alles absolut irrsinnig war, wurde leiser und verstummte dann ganz. Faolane lächelte zufrieden.

    Nach dem Stand der Sonne zu urteilen musste es bereits Mittag sein, es war schwül warm und ich hatte das Gefühl, langsam zu zerfließen. Mit Jeans und warmen Socken in den Wanderstiefeln war ich für einen Ausflug in den Herbstwald ausgestattet, aber nicht für ein Sonnenbad im Hochsommer.

    Faolane machte sich daran, die Apfelringe und das restliche Früchtebrot vom Boden aufzusammeln. Elea kam ihr zuvor, steckte sich ein großes Stück Apfel in den Mund und begann, genüsslich darauf herum zu kauen.

    „Es gibt noch Einiges vorzubereiten für heute Abend, sagte Faolane und sah mich auffordernd an. Für sie schien es nicht mehr in Frage zu stehen, dass ich zunächst einmal hier bleiben würde. „Dir muss schrecklich warm sein, liebe Lana, willst du dich nicht waschen und dann gebe ich dir etwas Luftigeres zum Anziehen. Komischerweise dachte ich nur einen ganz kurzen Augenblick darüber nach, noch einmal zu protestieren, dann war ich mich plötzlich sicher, dass ich zumindest einen Teil dieser mysteriösen Welt von Faolane und Elea kennen lernen wollte. Sie hatte gesagt, dass ich ihr vertrauen konnte und merkwürdigerweise glaubte ich ihr das. Ich schüttelte über mich selber den Kopf.

    „Elea, sei so lieb, geh und zeig Lana die Stelle am Fluss, wo sie sich waschen kann", sagte Faolane zu dem Mädchen. Diese war sofort begeistert und sprang auf.

    „Warte einen Moment, ich suche noch schnell etwas Passendes zum Anziehen für dich. Sie verschwand in der Hütte, kehrte kurz darauf mit einem Kleid aus ungefärbter Wolle zurück und reichte mir dazu einen Gürtel, der aus Leder geflochten war. „Hier, sagte sie freundlich und lächelte, „das sollte dir passen." Sie reichte mir noch ein eine flache Holzschale in der ein Stück Seife lag. Es hatte zwar wenig Ähnlichkeit mit dem, was ich aus dem Drogeriemarkt kannte, es handelte sich aber eindeutig um Seife. Geruch von Lavendel und Apfel stieg mir in die Nase. Mir schossen hundert Fragen durch den Kopf und doch stellte ich keine von ihnen, sondern griff nach den Sachen, bedankte mich artig und war froh, einfach ein wenig Zeit für mich zu haben. Diese Frau brachte mich total aus der Fassung und doch fühlte ich mich in ihrer Gegenwart ruhiger und entspannter, als ich es in letzter Zeit je gewesen war.

    Elea stapfte vor mir her und begann wieder zu singen. Ich war froh, dass sie nicht versuchte mit mir zu reden, denn so hatte ich Zeit, mich weiter umzusehen. Wir gingen in Richtung Fluss und kamen schon bald an eine Stelle, an der ein kleiner Holzsteg ins Wasser ragte. Das Ufer war dicht bewachsen und die Äste eines Baumes ragten fast bis in das klare, sprudelnde Wasser. Ich folge dem Flusslauf mit den Augen, bis dahin, wo er im Wald verschwand. „Im Wald gibt es einen Weiher, erklärte mir Elea wichtig und riss mich aus meinen Gedanken. „Aber bis dahin ist es schon noch etwas weiter zu gehen. Wenn du lieber dort baden möchtest? Auffordernd sah sie mich an und ich konnte deutlich in ihren Augen lesen, dass sie zu gerne mit mir einen Abstecher in den Wald gemacht hätte. „Nein, sagte ich matt, „danke dir, aber ich bin froh, wenn ich meine warmen Sachen ausziehen und mich gründlich waschen kann. Ich sah mich um, konnte aber weit und breit niemanden entdecken. Eigentlich war es nicht meine Art, splitterfasernackt in fremde Gewässer zu steigen. „Wo sind denn die anderen Leute, die hier wohnen?, fragte ich die Kleine vorsichtig. „Sie sind alle unterwegs und bereiten das Fest am Meer vor, sagte Elea. Ich war mir nicht sicher, ob das stimmte, aber mittlerweile war mir auch schon fast alles egal. Mir war brütend heiß und der Fluss sah unglaublich einladend aus.

    Ich kletterte etwas ungelenk vom Steg ins Wasser und quietschte. Das Wasser war wirklich sehr kalt. Ich hatte Mühe, Atem zu holen. Der Fluss war hier am Rand nicht tief und ich stand nur bis zur Hüfte im Wasser. Das Wasser fühlte sich wie Seide auf meiner Haut an und ich begann diesen Ausflug zu genießen. Ich machte probeweise ein paar Schwimmzüge und ließ mich dann auf dem Rücken ein wenig treiben. Elea saß auf dem Steg und beobachtete mich kritisch. „Willst du nicht ins Wasser?, fragte ich sie. „Doch, sagte sie, sprang behände auf und begann, sich auszuziehen, „Aber ich musste doch erst einmal sehen, ob du schwimmen kannst. Sonst hätte ich nämlich schnell Hilfe geholt". Sie machte ein wichtiges Gesicht und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

    Wir planschten im kühlen Wasser und lagen hinterher Seite an Seite auf dem Steg in der Sonne und ließen uns trocknen. Ich musste kurz eingedöst sein und als ich aufwachte war ich im ersten Moment völlig verwirrt. Dann sah ich Eleas strahlendes Gesicht vor mir. „Bist du jetzt ausgeschlafen?", fragte sie fast vorwurfsvoll. Es war so langweilig darauf zu warten, dass du wieder aufwachst. Ich rappelte mich auf und begann dass fremdartige Kleid anzuziehen.

    Es passte mir erstaunlich gut. Ich wand den Gürtel um meine Taille und knotete die Bänder an der Seite fest. Der raue Stoff fühlte sich ungewohnt auf der Haut an.

    Elea inspizierte derweil meine Jeans und befühlte fast andächtig den Stoff. „Aus was für Wolle wird das denn hergestellt?, fragte sie neugierig. Ich sah sie verdattert an. Ich hatte mir noch nie ernsthaft darüber Gedanken gemacht, wie und aus welchem Material Kleidung hergestellt wurde. „Ich kann es dir nicht erklären, ich glaube aber, es ist Baumwolle, sagte ich ehrlich. Sie sah mich irritiert an und mir wurde klar, dass sie noch niemals etwas von Baumwolle oder gar von Kleidung, die in Fabriken hergestellt wurde, gehörte haben mochte.

    „Komische Schafe müsst ihr dort haben, wo du herkommst", verkündete sie dann einfach. Damit war die Sache aber bereits für sie wieder erledigt und sie begann ein paar Wiesenblumen zu pflücken.

    Ich begann meine nassen Haare mit den Fingern zu entwirren und flocht mir einen dicken Zopf. Elea steckte mir ein paar ihrer Blüten in die Haare und sagte dann zufrieden: „Hübsch siehst du jetzt aus. So kannst du mit zum Fest gehen."

    Als wir zur Hütte zurückkehrten, entdeckte ich, dass auch das restliche Dorf lebendig geworden war. Männer und Frauen, zumeist in einfacher Wollkleidung, liefen geschäftig hin und her und in der Nähe der Hütten entdeckte ich einen Pferch mit Schweinen, der mir vorher noch gar nicht aufgefallen war. Ich war froh, als ich wieder vor Faolanes Hütte ankam, ohne dass ich mit jemandem zusammengetroffen war. Das fröhliche Mädchen an meiner Seite war eine Sache, aber was sollte ich sagen, wenn mich ein anderer fragte, wer ich war und woher ich kam?

    Faolane saß vor ihrer Hütte und wusch Kartoffeln. Als sie uns kommen sah, wischte sie sich die nassen Hände in ihrer fleckigen Schürze ab und lächelte. „Hübsch siehst du aus, lobte sie mich. Ich wand mich verlegen. Seltsamerweise war ich noch nie besonders gut darin gewesen, Komplimente von anderen entgegen zu nehmen. „Ach, sagte ich etwas matt, „wenigstens bin ich jetzt sauber und schwitze nicht mehr so schrecklich."

    Es war mittlerweile Nachmittag geworden und die größte Hitze hatte etwas nachgelassen. Ich ließ mich neben Faolane nieder und sah ihr zu, wie sie eine große Menge Kartoffeln von Erde und Schlamm befreite und sie in eine Schale legte, die aus Holz geschnitzt war. Ich hatte tausend Fragen und doch war ich so angenehm träge und müde, dass ich zufrieden damit war, nicht zu sprechen, sondern ihr einfach nur zuzusehen und die friedliche Stimmung vor der Hütte auf mich wirken zu lassen. Alles war so intensiv, ich hatte das Gefühl, dass die Farben hier klarer und frischer waren. Seit langer Zeit nahm ich erstmals wieder die verschiedenen Gerüche von Erde, Wiesenblumen und frisch geernteten Kartoffeln wahr. Wann hatte ich das letzte Mal so intensiv gefühlt, geatmet, gerochen? Vielleicht als ich noch ein Kind war und meine Großeltern in den Ferien auf dem Land besucht hatte ? Meine Gedanken wurden immer träger. Alles schien irgendwie gedämpft und gleichzeitig unglaublich echt und nah. Ich saß einfach da, fühlte die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner Haut und betrachtete die Schattenmuster der Bäume.

    „Es wird langsam Zeit", sagte sie irgendwann, legte die letzten Kartoffeln in die Schüssel und riss mich aus meinen Tagträumen.

    „Das Fest findet unten am Strand statt, wir sollten uns auf den Weg machen. „Aber, stammelte ich, „was soll ich sagen, wenn mich jemand fragt, wo ich herkomme? Sie lächelte geheimnisvoll und antwortete: „Ich glaube kaum, dass jemand fragen wird und wenn, dann sage einfach, vom Hügel hinter dem Dorf. Ich schluckte. Das war ja im Grunde genommen nicht einmal gelogen. Damit schien das Thema für Faolane bereits erledigt zu sein.

    Sie erhob sich mit einer fließenden, weichen Bewegung und zum wiederholten Male fragte ich mich, wie alt sie wohl sein mochte.

    Ich folgte ihr auf einem schmalen Pfad am Dorf vorbei durch die Wiesen in Richtung Küste. Ich konnte bereits das Meer rauschen hören. Meine Füße schmerzten vom ungewohnten barfuß gehen und doch fühlte ich mich wunderbar und leicht.

    Faolane schritt schnell und geschmeidig aus. Ich hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten und gleichzeitig weiter die Umgebung zu bestaunen. Hinter dem Dorf wand sich der Pfad weiter durch Wiesen, auf denen unzählige Sommerblumen wuchsen. Bald darauf erreichten wir eine steile Küste. Rote Felsen fielen hier schroff zum Meer ab und gerade, als ich mich ängstlich fragte, ob ich vielleicht an der Felswand hinunter krabbeln müsste, machte der Pfad einen Bogen und wand sich an einer weniger steilen Stelle zum Meer hinab. Auf dem Weg trafen wir auf verschiedene Gruppen von Männern, Frauen und Kindern, die beladen mit Köstlichkeiten auf dem Weg zum Strand waren. Alle trugen fließende Kleider aus ungefärbter Wolle. De Männer hatten zumeist kurze Tuniken und halb lange Hosen aus demselben Material an. Die Frauen trugen ähnliche Kleider wie ich, aber ich sah auch gefärbte Mieder, lange, weite Röcken und Schürzen. Alle schienen fröhlich und gut gelaunt und begrüßten uns freundlich. Keiner starrte mich an. Ich war zutiefst verwundert und irritiert.

    Der Pfad wand sich in großen Serpentinen auf einen langen breiteren Strandabschnitt zu. Das Meer war tief blau und die Brandung wurde von vor der Küste vorgelagerten Felsen und Riffen gebrochen.

    Ich atmete tief den würzig, salzigen Geruch des Meeres ein und sah Möwen in der Luft ihre Kreise ziehen. Sie schrien in der rauschenden Brandung und landeten in den Wellen. Gischt spritzte auf.

    Unten am Strand waren auf großen Tüchern verschiedene einfache Speisen ausgebreitet und von mehreren, kleinen Feuerstellen zog ein Geruch zu mir, der mir das Wasser im Munde zusammen laufen ließ. Es roch nach Gebratenem und an einem Feuer drehte ein kleiner, etwas untersetzter Mann einen Spieß auf dem Fisch und Gemüse steckten. Faolane stellte ihre Kartoffeln in die Nähe einer Feuerstelle und eine Frau legte die Erdäpfel in die Glut.

    Etwas abseits von den Feuern und dem Essen standen ein paar Männer mit Trommeln und anderen Instrumenten, die mir auf den ersten Blick nicht bekannt vorkamen. Einer hatte eine Art Geige in der Hand, die er gerade hingebungsvoll stimmte. „Das ist wohl die Band", dachte ich und grinste in mich hinein.

    Der Strand füllte sich zusehend und alle schwatzen und lachten miteinander. Ich stand etwas unsicher neben Faolane, die sich gerade mit einer jungen Frau unterhielt, die ein strammes Baby auf dem Arm hatte. Das alles war völlig unwirklich und ich kniff mich probehalber in den Arm. Es schmerzte, das Bild vor meinen Augen veränderte sich nicht.

    Ich entdeckte Elea, die mit einem Knaben ihres Alters in der Brandung tobte. Eine Frau mit auffallend schwarzem, lockigem Haar mahnte die beiden mit einem Lächeln, sich nicht komplett nass und dreckig zu machen.

    „Du musst sicher hungrig sein", sagte Faolane dann und gemeinsam schlenderten wir auf eine der Feuerstellen zu. Auf einer Holzplatte reichte man mir gebratenen Fisch, Kartoffeln aus dem Feuer und gegrillte Tomate. Ich saß im Sand und genoss jeden Bissen. Ich hatte das Gefühl, dass ich noch nie etwas Besseres gegessen hatte. Dazu gab es süßen, schweren Wein, der meine Gedanken einlullte, wie Watte.

    Die Sonne stand jetzt tief und berührte beinahe das Meer. Wie ein rotgoldener Ball tauchte sie ins Wasser und am Strand wurden einzelne Fackeln entzündet. Die Musiker hatten begonnen zu spielen. Der Rhythmus der Trommeln war wild und zwischendurch erklang die klagende Melodie eines Dudelsacks. Auch die Geige, oder das, was ich dafür hielt, fiel schluchzend in den Kanon ein. Ich wippte mit den Füßen und bestaunte die Menschen um mich herum. Jeder hatte etwas zu dem Festessen beigetragen, alles wurde geteilt und niemand schien alleine auf diesem Fest zu sein. Überall standen und saßen schwatzende Gruppen zusammen, Kinder und Hunde tobten dazwischen umher. Die Ersten hatten bereits begonnen zu tanzen. Alleine oder zu zweit hüpften oder wiegten sie sich im Takt der Musik. „Was feiert ihr eigentlich heute Abend?, wollte ich von Faolane wissen, die neben mir saß und nur etwas Brot und Tomate aß. „Wir feiern das Leben, das Licht, die Sonne. Wir feiern das Lachen, die Freude. Wir danken IHR für die Nahrung, für das Rad des Lebens und wir feiern uns selbst und unser Glück Teil IHRES Traums zu sein, sagte sie. Ihre Stimme klang weich und obwohl ich die Hälfte von dem, was sie sagte nicht verstand, fühlte ich mich unglaublich wohl, sicher und geborgen in ihrer Gegenwart. Dieses eigenartige Gefühl, dass ich schon in der ersten Minute unseres Treffens gehabt hatte, verstärkte sich noch. Obwohl sie mir völlig fremd war, schien ich sie schon eine Ewigkeit zu kennen.

    Eine junge Frau mit langem blondem Haar, das mit einem Blütenkranz geschmückt

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