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Die Magie der Mandalas
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eBook403 Seiten6 Stunden

Die Magie der Mandalas

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Über dieses E-Book

Leah Johnson ist Ende Zwanzig, geschieden und weit davon entfernt, ihr Leben im Griff zu haben. Ihre einzige Leidenschaft ist das Schreiben. Als freiberufliche Journalstin der London Times träumt sie von einer Festanstellung und wartet auf ihre Chance, um sich zu beweisen. Als sie vor die Aufgabe gestellt wird, eine Reportage über einen aufstrebenden indischen Schauspieler zu schreiben, prallen Welten aufeinander. Durch ein Geflecht aus Missverständnissen und kulturellen Unterschieden versucht die junge Journalstin, ihr so lang ersehntes Ziel zu erreichen. Doch letztendlich muss sie erkennen, dass das was sie sich am meisten wünscht vielleicht nicht das ist, was sie am meisten braucht.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum30. Juni 2013
ISBN9783847642732
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    Buchvorschau

    Die Magie der Mandalas - Alicia Sérieux

    Prolog

    Es heißt, dass ein Mandala das große Ganze in seiner göttlichen Vollkommenheit repräsentiert. In stunden- und tagelanger Kleinstarbeit verweilen die Mönche in ihren Tempeln und lassen diese wundervollen, kreisrunden Bildnisse entstehen. Sie benutzen dazu bunten Sand, aus dem sie schweigend wunderschöne Ornamente erschaffen. Verschiedene Formen und Farben, die miteinander zu verschmelzen scheinen. Mandala heißt soviel wie „Kreis oder auch „Zentrum. Alle farbigen Ornamente umgarnen den Kern des Mandalas. Wenn die Mönche nach langer, hingebungsvoller Arbeit ihr Kunstwerk beendet haben, bewahren sie es nicht etwa auf. Sie wischen es einfach weg. Es soll ein Symbol dafür sein, nicht an weltlichen Dingen festzuhalten. Denn all diese Dinge sind vergänglich. Es soll symbolisieren, dass es um den Weg an sich geht und nicht darum, möglichst schnell sein Ziel zu erreichen. Es soll den Blick schärfen für die Dinge, die wirklich wichtig und erstrebenswert sind. Ein Mandala zu erschaffen soll diesem Menschen helfen, zentriert zu werden. Die Umwelt und ihre vielen Reize nicht mehr wahrzunehmen und besser auf das hören zu können, was das Herz uns zuflüstert wenn der Verstand schon längst nicht mehr weiter weiß. Denn der Verstand hat seine Grenzen. Doch das Herz ist frei, wenn wir es nur schaffen, dann und wann einfach los zu lassen.

    Wie alles begann

    *

    Nervös sah ich auf meine Uhr. Und das zum gefühlten tausendsten Mal. Die Londoner Underground war gerammelt voll und ich wurde von einem Mann im Anzug, der ein überaus penetrantes Rasierwasser trug, gegen die Stange gedrückt an der ich mich festhielt. Ich lag gut in der Zeit, war pünktlich aus dem Haus gegangen und hatte ausnahmsweise auch einmal die frühere Bahn erwischt. Das allein machte mich schon stolz. Für eine hoffnungslose Chaotin wie mich war das wirklich eine beachtliche Leistung. Die Bahn stoppte an der nächsten Haltestelle und eine Frau stieg mit ihrem Baby ein. Ich machte ihr so gut Platz, wie es mir in diesem beengten Raum möglich war und beobachtete, wie ein junger Mann ihr sogar einen Sitzplatz anbot. Ein Akt von ganz und gar nicht alltäglicher Höflichkeit. So etwas sah man in dieser anonymen Großstadt leider selten. Die Frau ließ sich mit dankbarem Blick erschöpft auf den Platz sinken und positionierte ihr Baby so auf ihrem Schoß, dass es für sie beide einigermaßen bequem war. Auf einen Kinderwagen hatte sie verzichtet und stattdessen eines dieser modischen Tragetücher umgebunden, das bei keiner trendbewussten, jungen Mutter dieser Tage fehlen durfte. Ihr Baby lächelte sie fröhlich an, doch sie schien es nicht zu bemerken. Sie gähnte diskret in ihre Hand und strich ihr vom Wind zerzaustes Haar zurück. Ich schätzte sie so ungefähr auf mein Alter, vielleicht etwas jünger. An ihrer Hand glitzerte ein goldener Ehering. Noch vor einem Jahr hätte ich sie sein können. Noch vor einem Jahr war ich verheiratet gewesen, hatte in kleines Haus in der Vorstadt besessen, dazu einen attraktiven Ehemann und einen gut bezahlten Job als Assistentin der Geschäftsleitung. Ich hatte ein ruhiges und angenehmes Leben ohne finanzielle Sorgen geführt und dachte bereits darüber nach, ein Baby zu bekommen. Doch irgendwann begann ich, unzufrieden zu werden. Eine heftige und nagende Unruhe ergriff mich, die ich weder verstehen noch erklären konnte. Nächte lang lag ich wach und versuchte herauszufinden, was mich plötzlich so quälte. Ich zog mich von meinem Ehemann zurück und erkannte mich am Ende selbst nicht wieder. Mit der Zeit wurde ich traurig und missmutig wie eine alte, verbitterte Hexe. Langsam aber sicher schien mein bisheriges Leben auseinander zu fallen. Es hatte keinen bestimmten Auslöser gegeben. Ich hatte nur plötzlich das Gefühl, nicht mehr in mein eigenes Leben zu passen. Wir bekamen dadurch ernste Eheprobleme und machten sogar eine Therapie. Doch auch das konnte uns nicht mehr helfen. Nach fast zwei Jahren Kampf gaben wir uns geschlagen. Unter Tränen zog ich aus unserem idyllischen Häuschen aus und ließ somit mein geborgenes, sicheres Leben hinter mir. Die darauf folgende Scheidung nahm mich psychisch so sehr mit, dass ich immer wieder in meiner Firma fehlte und am Ende gefeuert wurde. Wochenlang saß ich in meiner kleinen Einzimmerwohnung mit der winzigen Küche und heulte mir die Augen aus dem Kopf. Ich wollte mein altes Leben zurück. Wollte wieder in das Leben hineinpassen, in dem ich mich so sicher gefühlt hatte. Doch aus einem unerfindlichen Grund hatte ich alles zerstört. Ich war allein. Meine Schwester Laura machte sich ernsthafte Sorgen um mich und rief mehrmals täglich an. Ich glaube sie wollte nur sichergehen, dass ich mir in einem Anfall von Selbstmitleid nicht die Pulsadern öffnete. Sie versuchte mich wieder aufzubauen. Doch ich war untröstlich. Du bist ein schlechter Mensch dröhnte es wieder und wieder in meinen Gedanken. Du hast alles zerstört. Eines mittags, als meine Schwester die Rumpelkammer, die ich Wohnung nannte, etwas aufzuräumen versuchte, sagte sie: „So geht das nicht weiter, Leah. Willst du dich ewig hier drin verkriechen? Ich saß wie ein Häufchen Elend auf meiner alten Couch, ein Kissen umarmend, und antwortete matt: „Das war der Plan, ja. Sie gab ein komisches Geräusch (eine Mischung aus einem Seufzen und Brummen) von sich und sammelte meine dreckigen Sachen vom Boden auf. „Hast du überhaupt noch etwas Sauberes zum Anziehen? fragte sie genervt und warf die Sachen in einen Wäschekorb, dessen Griff an einer Seite abgebrochen war. Ich wollte ihr eine Antwort geben, doch ich wusste keine. „Sag bloß du musst tatsächlich darüber nachdenken! schimpfte sie entsetzt. Ich sah sie peinlich berührt an und zuckte resignierend mit den Schultern. Was dann folgte war eine eindrucksvolle Schimpftirade, die ich hier nicht im Ganzen wiederholen möchte. Sie reichte von „Wie kann sich eine erwachsene Frau nur so aufführen? bis hin zu „Wenn du dich nicht bald zusammenreißt, ruf ich Mama an und erzähl ihr alles. Meine Schwester war ein Engel. Doch wenn sie mich so zusammenstauchte wirkte sie mit ihren blonden Haaren eher wie ein Racheengel und ich wartete immer darauf, dass sie ihr flammendes Schwert zückte. Die Vorstellung brachte mich zum Schmunzeln. „Was ist denn jetzt schon wieder lustig? fragte sie genervt, als sie meine offensichtliche Belustigung bemerkte. „Nichts. Entschuldige, sagte ich und vergrub mein Gesicht in meinem Kissen. Ich bemerkte, wie sie sich neben mich auf Couch fallen ließ und erneut einen Fluch ausstieß, als sie sich auf meinen Notizblock setzte. „Musst du den Kram überall rumliegen lassen? schimpfte sie. Ich entgegnete nichts sondern wartete einfach darauf, dass sie mit ihren Rügen fortfuhr. Doch nichts dergleichen geschah. Ich lugte seitlich an meinem Kissen vorbei und sah, dass sie in meinem Block las. „Hast du das geschrieben? fragte sie beeindruckt. Ich nahm das Kissen von meinem Gesicht. „Ja. Warum? fragte ich desinteressiert. Sie hob ihren Blick und sagte erstaunt: „Das ist wirklich gut! Ich wusste gar nicht, dass du so gut schreiben kannst. Sie las weiter und warf dann ein: „Naja, es ist ziemlich düster und traurig. Aber darüber sehe ich in Anbetracht deines Allgemeinzustandes hinweg. „Das sind doch bloß Kritzeleien, murrte ich. Ich hatte mir irgendwie den Kummer von der Seele schaffen müssen. Also hatte ich lauter Menschen erfunden, denen es viel schlechter ging als mir. „ Deine Kritzeleien, wie du sie nennst, sind gar nicht mal so schlecht. Hast du mal drüber nachgedacht, das beruflich zu machen? fragte sie und blätterte zur nächsten Seite um. Ich ging kurz in mich, konnte aber nicht einmal den Ansatz dieses Gedankens finden. „Du meinst, jämmerliche Kurzgeschichten über trostlose, vom Schicksal gebeutelte Menschen zu schreiben? fragte ich. „Nein! Einfach ans Schreiben an sich. Bei einer Zeitung oder so, entgegnete sie. Und schon war da wieder dieser Gesichtsausdruck, den ich von Laura kannte. Der Ausdruck der mir verriet, dass sie begann einen Plan zu schmieden. Und ich konnte mir auch schon denken, welchen. „Lass ja Charles damit in Ruhe! Der hat schon genug Sorgen und ich bin froh, dass er nicht schon die Schlösser in eurem Haus ausgetauscht hat, damit ich nicht mehr meine Heulwochenenden bei euch im Dachboden abhalten kann, warnte ich sie. Charles war mein Schwager. Ein herzensguter, attraktiver, groß gewachsener Mann, der dazu noch Chefredakteur der Londoner Times war. Er wählte die interessantesten Artikel für die Unterhaltungsparte aus und war oft mehr als gestresst. Trotzdem beklagte er sich nie, wenn ich mal wieder Freitagabends tränenüberströmt vor der Tür ihres kleinen Cottages stand und um Zuflucht vor meiner Einsamkeit bat. Meine Schwester hatte mir das kleine Dachzimmer eingerichtet und dort verbrachte ich dann meine Wochenenden. Ohne die beiden hätte ich diese Zeit wohl nicht überlebt. Mein kleiner Neffe Ben kannte den Ablauf schon und brachte vorsorglich seine Schokolade in Sicherheit, damit ich sie nicht zur Einsamkeitsbewältigung aufaß. Für seine fünf Jahre war er bemerkenswert clever. „Lass das mal meine Sorge sein! Ich weiß, dass sie zur Zeit freiberufliche Journalisten suchen und wenn ich ihm das hier zeige, wird er bestimmt etwas für dich tun können, meinte sie und steckte meinen Block so schnell in ihre Handtasche, dass ich bei dem Versuch ihn ihr wegzunehmen, ins Leere griff. „Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich habe doch gar keine Erfahrung mit dem Schreiben, protestierte ich. „Blödsinn! Die Erfahrung kommt beim Schreiben. Und wenn wir nach Monaten des Nichtstuns endlich etwas gefunden haben, was du zu können scheinst, werden wir das nicht unversucht lassen. Ich muss jetzt los, Ben vom Kindergarten abholen. Ich ruf dich später an, ja? plapperte sie vergnügt, drückte mir einen Kuss auf die Wange und stürmte aus meiner Wohnung. Ich hätte ihr hinterherlaufen können und sie anflehen, alles so zu lassen, wie es war. Doch ich hatte keine Kraft dazu. Also blieb ich den ganzen Tag in meinem Pyjama auf der Couch sitzen bis am Abend das Telefon klingelte. Ich nahm ab und noch bevor ich mich melden konnte, hörte ich die Stimme meiner Schwester triumphierend sagen: „Du hast morgen um neun Uhr einen Termin in der Redaktion der London Times. Sei pünktlich!

    Der Rest ist Geschichte. Mein Schwager stellte mich tatsächlich als freiberufliche Journalistin ein. Anfangs fiel es mir schwer über bestimmte Events und Ausstellungen zu schreiben. Doch das lag nicht daran, dass ich es nicht konnte. Es lag vielmehr daran, dass ich nicht daran glaubte, dass ich es konnte. Doch mit der Zeit wurde ich besser und besser. Ich bekam viele Termine und fing an, meinen Job zu lieben. All der Schmerz, den meine Scheidung verursacht hatte, schien unter einem großen Berg Anerkennung, den ich für meine Arbeit bekam, verschüttet zu sein. So tief, dass ich glaubte, er wäre fort. Ich richtete mir meine kleine Wohnung gemütlich ein, kaufte mir einen PC und platzierte direkt neben meinem Bett, unter dem kleinen Dachfenster, einen alten Schreibtisch. Die Tage verbrachte ich mit allen möglichen Terminen und die Abende mit dem Schreiben der Artikel. Ich liebte dieses Leben! Es war erfüllt von Arbeit und interessanten Events wie Theater, Vorlesungen oder Konzerten. Ich lebte nur noch für diesen Job. Meine Schwester war sehr stolz auf mich und natürlich auch unsere Eltern, die sich jetzt auch ab und zu trauten, mich anzurufen. Ich hatte ihnen nicht übel genommen, dass sie sich ein wenig von mir zurückgezogen hatten. Ich war unmöglich gewesen und dass meine Schwester trotzdem immer für mich da war, war ein Akt vorbildlicher Schwesternliebe. Ich hätte mich selbst bestimmt nicht mehr besucht. Irgendwann kam mir die Idee, fest für die London Times arbeiten zu wollen. Nicht mehr als Freiberufler, sondern als fest angestellte Journalistin. Das wäre der Schlüssel zu mehr Sicherheit, mehr Geld und somit einer größeren Wohnung gewesen. Und zu noch mehr Arbeit! „Ich kann dich nicht einfach so einstellen, Leah, sagte Charles in unbehaglichem Ton, als ich ihn in der Redaktion mit meinem Wunsch überfiel. „Aber warum denn nicht? Die Times reißen sich um meine Artikel und ich lebe für diesen Job! entgegnete ich mit flehendem Blick. „Das mag ja sein. Aber ich muss das vor meinem Boss verantworten und das geht nicht so mir nichts, dir nichts, erwiderte er und suchte verzweifelt nach seinen Magentabletten. Ich ging um seinen Schreibtisch herum, öffnete die oberste der vielen Schubladen, griff zielsicher hinein und reichte ihm die Packung mit seinen Tabletten. „Danke, sagte er kleinlaut und griff nach ihnen. Ich sah zu, wie er angewidert eine davon zerkaute und mit einem Schluck Wasser herunterspülte. „Es muss doch eine Möglichkeit geben! seufzte ich, ging wieder auf die andere Seite des Schreibtisches und ließ mich mit einer theatralischen Geste auf den Stuhl fallen. Er sah mich aus seinen wachen, hellblauen Augen mitleidig an. Armer Charles. Er hatte es nicht leicht. „Es gibt da vielleicht einen Weg, sagte er plötzlich. Ich sah ihn überrascht an und richtete mich auf. „Welchen? Ich tu alles! sagte ich mit so viel Überzeugungskraft in der Stimme, die ich aufbringen konnte. Er schmunzelte amüsiert und sagte dann: „Wenn du eine Story schreibst, die meinen Boss so richtig umhaut und die niemand sonst schreiben kann, könnte ich dich ins Boot holen. Hoffnung glomm in mir auf. Das würde ich schaffen! Niemand schrieb so wie ich und ich würde auf jeden Fall überzeugen! „Super! Was ist das Thema? fragte ich munter und fischte mit einer geübten Bewegung meinen Notizblock aus der übergroßen, braunen Handtasche, die ich immer mit mir herumschleppte. Diese Bewegung hatte ich perfektioniert. „Nicht so schnell. Momentan habe ich keine Story, die so einschlagen könnte, wie wir es brauchen um dich ins Boot zu holen. Du musst etwas Geduld haben und Augen und Ohren offen halten, bremste er mich. „Achso, sagte ich enttäuscht und ließ meinen Block wieder in meiner Tasche verschwinden. „Keine Bange. Früher oder später finden wir eine Story für dich. Und dann steht deiner Festeinstellung bestimmt nichts mehr im Weg, versuchte er mich aufzumuntern. Ich rang mir ein Lächeln ab und sagte: „Danke Charles. Du bist ein guter Schwager. Ich mach mich dann mal an die Arbeit." Er nickte und ich verließ sein Büro, um meine Termine wahrzunehmen. Meine Enttäuschung wurde nur durch die aufkeimende Hoffnung in mir gelindert, durch die ich auf ein neues und besseres Kapitel in meinem Leben hoffen konnte.

    Die U-Bahn hielt an der nächsten Haltestelle und ich musste mich festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Frau mit dem Baby zwängte sich an mir vorbei und verließ den Fahrraum. Ich sah ihr noch nach bis sie auf den Treppen, die nach oben führten, aus meinem Sichtfeld verschwand. Die Türen schlossen sich wieder und ich sah mein Spiegelbild in den Fenstern der U-Bahn. Eine Frau Ende Zwanzig mit langen, braunen Haaren und grünen Augen sah mir skeptischem Blick entgegen. Sie trug Jeans, ein weißes Hemd und schicke Stiefel, die sie sich extra einen Tag zuvor gekauft hatte. Sehr groß war sie nicht und auch nicht zu dünn oder zu dick. Sie war auch nicht auffallend geschminkt und trug ihr Haar zu einem einfachen Zopf gebunden. Sie war durchschnittlich. Nichts Besonderes. Ich streckte meinem Spiegelbild die Zunge heraus und wandte meinen Blick abermals auf meine Uhr. Ich war noch immer gut in der Zeit. Von meiner Haltestelle aus waren es noch ungefähr zehn Minuten zu Fuß und ich würde nicht einmal rennen müssen, was mir aufgrund meines neuen Schuhwerks sehr gelegen kam. Ja, es war ein guter Tag. Ein Tag, an dem ich die Chance bekam, mein Leben deutlich zu verbessern. Am Tag zuvor hatte mich Charles auf dem Handy angerufen.

    Ich war gerade auf dem Weg zu einem Termin mit einem Buchautor gewesen, als mein Handy geklingelt hatte. „Hey Charles! Was gibt’s? hatte ich gut gelaunt gefragt und mir meine große Tasche über die Schulter geworfen. Unter meinem linken Arm hatte ich meine Unterlagen geklemmt und musste ein ziemlich chaotisches Bild abgeben. „Ich will dich morgen früh um Punkt neun Uhr in der Redaktion in meinem Büro sehen. Keine Verspätungen und keine Widerrede, entgegnete er in ernstem Ton. Erschrocken blieb ich stehen und fragte: „Ach herrje, das hört sich aber ernst an. Die Panik traf mich mit voller Wucht und ich ließ meine Unterlagen fallen. „Charles.. du… du wirst mich doch nicht feuern, oder? fragte ich mit bebender Stimme und hatte das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen. „Quatsch! Im Gegenteil. Deine Chance ist da, Leah. Ich habe DIE Story für dich, mit der du dir vielleicht eine Festeinstellung sichern kannst, erklärte er. „Ehrlich? Oh, das ist ja… fantastisch! Und worum handelt es sich? fragte ich euphorisch. „Das erfährst du morgen vor Ort. Also, wie gesagt. Keine Verspätungen morgen, ja? wiederholte er. Und das aus gutem Grund. Ich war absolut kein Morgenmensch und deshalb meistens spät dran. Doch das würde mir an diesem wichtigen Tag nicht passieren. „Natürlich! Du kannst dich auf mich verlassen! versprach ich und legte mit beseeltem Lächeln auf. Wie in Trance hob ich meine Unterlagen auf. Endlich würde ich die Chance bekommen, auf die ich so lange gewartet hatte. Und egal worüber ich schreiben sollte: Ich würde brillieren! Das schwor ich mir.

    Endlich hielt die U-Bahn an meiner Haltestelle! Beherzt kämpfte ich mich durch die Menschenmengen und über die Treppen der U-Bahn nach oben ins Freie. Die frische Herbstluft wehte mir entgegen und ich zog den Reißverschluss meiner alten, braunen Lederjacke zu. Es war ein goldener Herbsttag und die Sonne hatte sich noch einmal gegen das trübe Londoner Wetter durchgesetzt. Ein perfekter Tag für eine große Chance. Gut gelaunt ging ich über die Straße und in Richtung der Redaktion. Ich war noch immer perfekt in der Zeit und doch beschleunigte ich meine Schritte. Meine Neugier war kaum noch zu im Zaum zu halten! Was war das wohl für eine riesen Story, die mir so eine Stelle sichern konnte? Was würde meine Eintrittskarte als feste Mitarbeiterin der London Times sein? Ein Interview mit einem großen Hollywood Star? Oder mit einer bekannten Opernsängerin? Oder vielleicht mit einem Bestsellerautor? Wurde vielleicht sogar ein Bestseller in London verfilmt und ich würde darüber berichten? Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr freute ich mich darauf, das große Geheimnis zu lüften. Schwungvoll stieß ich kurze Zeit darauf die Tür zu Charles´ Büro auf und rief fröhlich aus: „Einen wunderschönen guten Morgen, mein liebster Schwager! Ist das nicht ein wundervoller Tag? „Es scheint so zu sein, erwiderte er bloß und sah nervös auf seine Uhr. Ich bemerkte dies und sagte stolz: „Wie du siehst, ich bin pünktlich! Wie ich es dir versprochen habe! „Ja, das bist du, entgegnete er kurz angebunden. Erst jetzt bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Er wirkte, als sei ihm nicht wohl in seiner Haut. Dauernd spielte er an seiner Krawatte herum und machte alles in allem einen gehetzten Eindruck. „Was ist los? fragte ich verwundert. Plötzlich klingelte das Telefon und er stürzte sich förmlich darauf. Nachdem er sich gemeldet hatte, lauschte er aufmerksam den Worten der Person am anderen Ende der Leitung. Und diese Person schien eine Menge zu sagen zu haben. Nach einer Weile des Schweigens, beziehungsweise des Zuhörens, sagte er bloß: „In Ordnung. Dann bis morgen. Charles legte auf und die Anspannung schien sichtlich von ihm abzufallen. Auf meinen fragenden Blick hin sagte er lächelnd: „Das war knapp. Aber wir kriegen die Story. „Welche Story jetzt? fragte ich verwirrt. „Na, deine! erklärte er und wischte sich über die Stirn. „Ach, das war noch gar nicht sicher? fragte ich erschrocken. Hatte ich da wieder etwas falsch verstanden? „Doch.. nein… ach, diese Leute sind echt kompliziert. Aber jetzt haben wir die endgültige Zusage bekommen. Das war gerade sein Agent, erklärte er hektisch. „Wessen Agent? fragte ich. „Der Agent deines Termins, sagte er bloß und trank einen Schluck Kaffee aus der übergroßen Tasse, die ihm mein kleiner Neffe Ben zum letzten Vatertag geschenkt hatte. „Könntest du mir jetzt bitte mal in ganzen Sätzen erklären, über was wir hier eigentlich reden? fragte ich ungeduldig und setzte mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Oh, natürlich. Entschuldige bitte, sagte er und klaubte ein paar Unterlagen zusammen. Nachdem er sie kurz überflogen hatte, begann er zu erklären: „Die Story ist folgende: In Kürze wird hier ein Schauspieler eintreffen, der in seinem Heimatland bereits eine Berühmtheit ist. Jetzt will sein Management den europäischen Markt angehen, angefangen bei England. Du sollst eine Reportage über ihn schreiben. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu hyperventilieren! Ein unbekannter Schauspieler aus Hollywood! Das war mehr als ich ertragen konnte. Ich quietschte vor Freude und rief: „Oh mein Gott! Wie aufregend! Hollywood kommt nach England und ich kann exklusiv darüber berichten! Das ist ja der Wahnsinn! Charles sah mich mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen an. „Was ist denn? fragte ich, während ich versuchte, nicht in Euphorie aufzugehen. „Nun ja, Hollywood ist nicht ganz richtig, meinte er zerknirscht. „Ach nein? Dann vielleicht ein kanadischer Schauspieler? riet ich weiter. Er schüttelte bloß den Kopf. Jetzt war ich langsam überfragt. „Na, was bleibt denn dann noch? fragte ich ratlos. Plötzlich griff Charles in eine Schublade und holte einen Stapel DVDs hervor. Dann schob er sie über den Tisch zu mir herüber. Ich sah ihn fragend an und warf dann einen Blick auf die DVDs. Was ich da sah, verwirrte mich. „Was ist das denn? fragte ich verwundert und sah auf das knallbunte Cover der obersten DVD. „Das, meine Liebe, ist Bollywood, erklärte er und sah mich erwartungsvoll an. Mein Gehirn brauchte erst einen Moment um die wenigen Informationen abzurufen, die es zu diesem Thema gespeichert hatte. Bollywood. Bunte Liebesschnulzen in denen lauter Inder die ganze Zeit tanzten und in einer Sprache sangen die sich, für mich jedenfalls, wie Rückwärtssprechen anhörte. „Du nimmst mich auf den Arm! sagte ich und sah ihn unsicher lächelnd an. Doch er verzog keine Miene. „Komm schon, Charles. Welche ist die echte Story? fragte ich energischer und merkte, wie mir das Lächeln in meinem Gesicht festfror. Er klopfte behutsam mit der flachen Hand auf die DVDs und sagte: „Das ist sie, Leah. Ernsthaft. Fassungslos starrte ich ihn an. Mir war, als müsste ich auf der Stelle in Tränen ausbrechen. Meine Vorfreude war purer Verzweiflung gewichen. „Sieh mich nicht so an! Dieser Schauspieler ist DER Hit in Indien und auch hier ist er Insidern und Fans ein Begriff. Das wird eine riesen Story und du wirst sie schreiben, sagte er mit einer Zuversicht in der Stimme, die ich keinesfalls teilte. Sprachlos ließ ich mich in meinem Stuhl zurücksinken und starrte ihn ungläubig an. „Ach Leah, jetzt sei doch nicht gleich so melodramatisch. Wenn jemand diese Story schreiben kann, dann bist das du, versuchte er mich zu motivieren. „Wer hat sich denn noch für diese Story beworben? fragte ich und nahm eine der DVDs in die Hand. Doch ich legte sie gleich wieder weg, ohne sie wirklich betrachtet zu haben, als er sagte: „Naja, um ehrlich zu sein, hab ich die Story erst gar niemand anderem angeboten. Das ist eine riesen Chance und ich will, dass du sie bekommst. Gerührt von so viel Unterstützung wagte ich es nun nicht mehr, etwas Negatives über diesen Job zu sagen. Außerdem wusste ich, dass meine Schwester mich töten würde, wenn ich jetzt ein Theater veranstaltete anstatt diese Gelegenheit zu nutzen. Also atmete ich einmal tief durch und fragte dann: „Wie lange soll diese Reportage gehen? Ein, zwei Tage? „Um genau zu sein… drei Monate, antwortete er schnell und schien wieder die Luft anzuhalten. „Wie bitte? fragte ich laut und sprang von meinem Stuhl auf. „Du wirst ihn zu allen Presseterminen begleiten und zu allen Veranstaltungen, die er in London besuchen wird. Es soll eine hautnahe Reportage werden in der du den Lesern zeigen wirst, wie er wirklich ist, erklärte Charles aufgeregt. „Aber…drei Monate? jammerte ich und setzte mich wieder. „Ja, drei Monate. Du wirst ihm auf den Zahn fühlen. Alles über sein Leben und seine Filme erfahren. Er wird natürlich nicht durchgehend in London sein, aber schon die meiste Zeit. Also, reiß dich zusammen und sei mal offen für Neues! schimpfte er. Ich wollte wieder protestieren, dachte dann aber wieder daran, dass ich allein Charles zu verdanken hatte, wo ich nun war. Er und meine Schwester hatten mich aus meiner Trostlosigkeit und Verzweiflung herausgeholt. Ich durfte jetzt nicht undankbar sein. Also riss ich mich zusammen und fragte: „Na schön. Wie heißt er denn, unser Mister Bollywood?! Mein Schwager lächelte zufrieden und sagte: „Sein Name ist Rahul Advani. Und er wird morgen Abend hier in London eintreffen. Ich nickte und sagte: „Okay. Dann werde ich jetzt mal nach Hause gehen und mich auf den Termin vorbereiten" Was eigentlich so viel heißen sollte wie Ich werde nach Hause gehen und mich erst einmal betrinken.

    Namen und Gesichter

    *

    „Wie schaffst du es bloß, dich immer wieder in solche Situationen zu bringen? fragte ich mein eigenes Spiegelbild, das mich mit glasigen Augen aus meinem kleinen Handspiegel ansah. Energisch legte ihn auf den kleinen Hocker, der neben meiner Badewanne stand und nahm stattdessen mein Weinglas zur Hand. Die Badewanne war der einzige Ort, der mich nach so einem Tag noch retten konnte. Das Wasser war viel zu heiß und so begann der Alkohol noch schneller zu wirken. Im Radio wurden alte Songs von den Beatles gespielt und ich hing meinen Gedanken nach. Charles hatte Recht. Diese Story würde vielleicht mein Durchbruch werden. Würde alle meinen bisherigen Arbeiten in den Schatten stellen. Was hatte ich zu verlieren? Im schlimmsten Fall blieb ich freischaffende Journalistin und würde eben keine größere Wohnung haben. Und auch mehr Geld könnte ich mir abschminken. Es würde alles so bleiben, wie es war. Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. In weiser Voraussicht hatte ich es ebenfalls auf den Hocker neben der Wanne gelegt. Und ich wusste genau, wer dran sein würde. Es gab ja nur einen Menschen, der mich regelmäßig anrief. „Hi Schwesterchen, meldete ich mich ohne zu fragen, wer am anderen Ende der Leitung war. „Woher wusstest du, dass ich es bin? fragte sie verwundert. Sie lernte es wohl nie. „Wer sollte mich sonst anrufen? Du bist meine beste Freundin und vor allem meine einzige, kicherte ich. Ein kurzes Schweigen ihrerseits folgte bevor sie empört fragte: „Du liegst doch nicht etwa wieder mit einer Flasche Wein in der Wanne, oder? „Nein, natürlich nicht! Wer macht denn sowas! Ich benutze natürlich ein Glas! antwortete ich lachte herzhaft über meinen eigenen Scherz. Doch ich war anscheinend die einzige, die das lustig fand. „Du wirst noch zur Alkoholikerin, wenn das so weiter geht! Aber jetzt mal was anderes. Ich habe mit Charles gesprochen und er hat mir von der Story erzählt, die er dir besorgt hat. Das ist doch super, oder? fragte sie erwartungsvoll. „Jaaaa… suuuuper, krächzte ich und sah meinem Wein zu, wie er durch mein vorsichtiges Schwenken im Glas rotierte. „Wie? Freust du dich nicht? fragte meine Schwester verwundert. „Doch. Ich habe zwar keinen blassen Schimmer über dieses Bolly-Dings-Bums und werde mich total blamieren, aber sonst ist das wirklich grandios! brummte ich und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Ich wollte doch nicht mehr meckern. „Hat dir Charles nicht meine DVDs mitgegeben? fragte sie verwundert. „DEINE DVDs? Verarsch mich nicht! rief ich und verschüttete ein wenig Wein in mein Badewasser. „Ja, das sind meine. Ich bekam sie mal geschenkt und hab sie mir angesehen. Ist ganz nett. Solltest du dir anschauen vor deinem Termin morgen früh. Ein bisschen Hintergrundwissen schadet nie, meinte sie. „Ich weiß das! Ist ja nicht meine erste Story! entgegnete ich schnippisch und nahm einen weiteren Schluck aus meinem Glas. „Zick mich nicht an! Ich will dir nur helfen! entgegnete sie im gleichen Ton. „Ist ja gut, ist ja gut! Lass uns nicht streiten. Das ist das letzte, was ich heute Abend gebrauchen kann, brummte ich und stellte mein Glas ab. „Was brauchst du denn, abgesehen von deiner Flasche Wein? fragte sie in süffisantem Unterton. „Ich benutze immer noch ein Glas, ja? Prüf mal deine Quellen! protestierte ich. Jetzt musste auch sie lachen. „Ein bisschen Zuspruch wäre gut. Sowas wie, dass ich morgen überaus professionell sein und alle mit meine Scharfsinnigkeit beeindrucken werde. Und dass ich bestimmt fest eingestellt werde, weil ich den Artikel des Jahrhunderts schreibe, sinnierte ich. „Okay, du wirst das schaffen und alle umhauen. Aber schau dir zumindest einen der Filme an, ja? bat sie mich mit Nachdruck in der Stimme. Ich schnaubte genervt und antwortete: „Ja, mach ich. Ich leg jetzt auf. Meine Flasche ist leer."

    In meinen viel zu großen Bademantel gehüllt setzte ich mich kurze Zeit später auf meine alte, durchgesessene Couch. Auf meinem kleinen Wohnzimmertisch lagen die DVDs mit den viel zu bunten Covern und warteten nur darauf, dass ich mir eine von ihnen aussuchte. Erschöpft lehnte ich mich zurück und spürte, dass der Wein und das heiße Bad viel zu gut wirkten. Ich fühlte mich schläfrig und nicht mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Du solltest dich auf morgen vorbereiten sagte mir die Vernunft. Also setzte ich mich auf und wollte zu den DVDs greifen. Doch dann fiel mein Blick auf etwas, das jeden Abend auf mich wartete. Das schwarze, kleine Kästchen mit den grünen Steinen, das auf dem Regal über meinem Fernseher stand. Ich schluckte und wollte meinen Blick wieder davon abwenden. Aber ich konnte es nicht. Dieses unbedeutend wirkende Kästchen erinnerte mich immer wieder daran, wie ich es geschafft hatte, mein Leben zu ruinieren. Mein eigenes Glück zu torpedieren. Mir alles kaputt zu machen, was ich mir mühsam aufgebaut hatte. Plötzlich fühlte ich mich gar nicht mehr wie eine erfolgreiche Journalistin, die fähig war, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Ich fühlte mich einfach wieder nur wie… ich. Eine Chaotin, die nur unter größter Anstrengung nicht im Trubel dieser Welt unterging und die sich eigentlich schon innerlich auf ihr nächstes Versagen einstellen sollte, um es zu überleben. Langsam zog ich meine Hand von den DVDs zurück und ließ mich nach hinten sinken, jedoch ohne das Kästchen aus den Augen zu lassen. Ich fühlte mich wieder einmal wie gelähmt und hatte das Bedürfnis, meine Augen einfach zu schließen. Nur um dem Unausweichlichen für wenige Momente zu entfliehen. Zögernd schloss ich meine Augen und die Dunkelheit, die mich umfing, fühlte sich erleichternd an. Nur für ein paar Sekunden. Dann legst du los sagte ich mir und atmete tief durch. Nach und nach ließ der Druck hinter meinen Augen nach und ich entspannte mich ein wenig. Ich würde alles geben müssen für diese Story. Und ich würde mir alle Filme ansehen. Egal, wie schlecht ich sie persönlich fand. Es ging nicht um meinen Geschmack. Es ging um die Story. Nur um die Story. Es war nicht meine erste und ich durfte mich nicht verrückt machen. Andererseits hatte ich noch nie so eine große Reportage geschrieben. Das war doch etwas ganz anderes als meine bisherigen Aufträge. Und was, wenn dieser Rahul Advani ein arroganter Kerl war, der nicht einmal unserer Sprache mächtig war? Wie sollte ich unter solchen Umständen eine Story über ihn schreiben? Was, wenn er nicht mit mir kooperierte? Wenn er mich nicht leiden konnte? Ich gähnte und kuschelte mich noch ein wenig tiefer in meinen Bademantel. Was, wenn ich es vermasseln würde? Nein! Ich durfte es einfach nicht vermasseln! Dieses eine Mal würde mir etwas Großes gelingen! Da war ich mir sicher. Ich sagte es mir immer und immer wieder… bis ich in einen tiefen und traumlosen Schlaf fiel.

    Ein lautes Rumpeln ließ mich aufschrecken. Mein Nachbar über mir schien seine Wand einreißen zu wollen. So hörte es sich zumindest an. Verschlafen sah ich mich um. Ich lag noch immer auf der alten Couch, in meinen Bademantel gehüllt, die DVDs auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet. Mein Kopf brummte und mir war übel. Hatte ich wirklich so viel getrunken? Ich kniff die Augen zusammen, da mich das hereinfallende Licht blendete und griff nach meiner Armbanduhr. Es war kurz nach sieben. Kurz nach sieben! Vor Schreck fiel ich fast von der Couch. Um halb acht würde meine Bahn fahren und ich brauchte gut fünfzehn Minuten bis zur Haltestelle. Ich hatte verschlafen! Noch schlimmer! Ich hatte mir keinen einzigen Film angesehen und war komplett unvorbereitet. Ich hatte mir nicht einmal die Homepage von Rahul Advani angesehen und wusste nicht, wie er überhaupt aussah! „Scheiße!" fluchte ich, schnellte von meiner Couch hoch und stürzte in mein Schlafzimmer. Schnell zog ich eine saubere Jeans und eine hellblaue Bluse aus meinem Kleiderschrank. Panisch zog ich mich an und hetzte ins Badezimmer, wo ich hektisch meine Zähne putzte. Ich sah furchtbar aus! Als hätte ich die Nacht zum Tag gemacht. Verzweifelt versuchte ich mich zu schminken, damit ich wenigstens ansatzweise vorzeigbar war. Am liebsten hätte ich losgeheult, aber das hätte mir auch nicht weitergeholfen. Stattdessen atmete ich tief durch und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Nur noch zehn Minuten, dann würde die Bahn ohne mich losfahren. Schnell schnappte ich meine neuen Stiefel, die in meinem kleinen Flur verstreut lagen, packte meine Lederjacke und meine Tasche und stürzte aus meiner Wohnung. Die kühle Herbstluft war wie eine Wand, gegen die ich mit voller Wucht lief. Doch ich ignorierte den Schwindel und rannte los. Meine Lungen brannten als ich den ersten und zweiten Block hinter mir gelassen hatte. Ich wusste nicht wie viele Menschen ich wohl angerempelt hatte, doch ich war noch nie zuvor so oft und wüst beschimpft worden. Als ich endlich das Schild sah, welches auf die Underground hinwies, hätte ich vor Erleichterung beinahe aufgelacht. Ich hatte noch zwei Minuten. Todesmutig rannte ich die Treppen hinab und steuerte das Gleis an, auf dem meine Bahn wartete. Dort angekommen wollten sich die Türen meiner Bahn schon schließen, doch ich konnte gerade noch zwischen

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