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Grüße vom Zeitgeist
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eBook362 Seiten5 Stunden

Grüße vom Zeitgeist

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Über dieses E-Book

Haben Sie Zeit? Wissen Sie, was Zeit eigentlich ist?
In diesem Roman versucht ein junger Architekt diese Frage zu lösen, indem er kreuz und quer durch Europa reist und Stätten besucht, an denen er Hinweise auf das Phänomen der Zeit erhofft. Daneben sucht er nach seiner verschwundenen Liebe.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum13. März 2015
ISBN9783738696677
Grüße vom Zeitgeist
Autor

Wolfgang Pröll

Wolfgang Pröll wurde 1955 in Wien geboren und begann erst in reiferem Alter seine schriftstellerische Tätigkeit, 2012 erschien "Alles fließt - Ein Roman über die Vergänglichkeit". Er lebt mit seiner Familie in St. Pölten / Niederösterreich, wo er auch im Gymnasium unterrichtet.

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    Buchvorschau

    Grüße vom Zeitgeist - Wolfgang Pröll

    1 O Tempora o Mores!

    Die spätsommerliche Sonne hatte soeben ihren höchsten Punkt überschritten, als ich völlig gedankenverloren vor einer Geschäftsauslage in der Istiklal Caddesi, der Hauptgeschäftsstraße und Fußgängerzone von Istanbul, stand. Hinter mir schob sich ein unaufhaltsamer Strom von meist jugendlichen Spaziergängern die Straße entlang, von mir etwas abgeschirmt durch einen Imbissstand, dessen köstlicher Duft nach Simitkringel mich aber kaum von meinen Gedanken ablenkte. Gelegentlich ratterte ein überfüllter rot-weißer Straßenbahnwagen hinter mir vorbei, der sich manchmal erst klingelnd einen Weg durch die Menschenmassen bahnen musste, um die Fahrt zwischen Tünel und Taksimplatz fortsetzen zu können. Nur am Rande registrierte ich eine Gruppe von vorbeimarschierenden Burschen, die Sprechchöre für den Fußballklub Galatasaray anstimmten, der am Abend offensichtlich ein wichtiges Europacupspiel vor sich hatte. Was sich vor mir in der Auslage befand, nahm ich ebenfalls kaum wahr, es dürfte sich um ein Modegeschäft gehandelt haben, in dessen Innerem ich gelegentlich die Schemen von Kunden und Verkäuferinnen erahnen konnte. In der Scheibe spiegelte sich alles, was sich hinter mir abspielte, nur blickte ich auch dort nur im Unterbewusstsein hin. Nein, mein Blick war bloß in mein Inneres gerichtet.

    Aber was tat ich eigentlich hier? Wonach suchte ich? Ich hätte es kaum jemandem erklären können, meine Beweggründe wurden mir ja selbst immer rätselhafter. Das Leben schlug doch seltsame Kapriolen! Ich stand jetzt zufällig vor einer Auslagenscheibe, anscheinend ohne Ziel und ohne Weg, oder auch mit zwei Zielen, aber ohne vernünftigen Weg – und die einzige Richtung in meinem Dasein wies steil nach unten. Seit einigen Monaten war ich rastlos unterwegs, und heute war offensichtlich der Moment gekommen, der mir endgültig die Sinnfrage stellte. Sollte ich einfach aufgeben, alles hinwerfen und am besten auf das Sterben warten? Jetzt schon, mit 29, und heute war sogar mein Geburtstag! Aber was war es für eine aussichtslose Suche, die mich ausgerechnet hierher getrieben hatte? Womit hatte diese seltsame Geschichte begonnen, die man fast komisch nennen könnte, wäre sie nicht so unglücklich? Am besten lasse ich sie an jenem lauen Samstagabend vor mehreren Monaten, Anfang Mai, beginnen, als mein bester Freund Mike in einem Wiener Lokal seine Verlobung mit Karin feierte. Es war gleichzeitig der Tag meiner Trennung von Susi.

    „Brauchst du noch lange, Schatz?" fragte ich, an die offene Tür ihrer WG gelehnt, die sie gemeinsam mit ihrer Freundin Birgit bewohnte. Obwohl wir seit etwa eineinhalb Jahren beisammen waren, wohnte Susi unter der Woche nach wie vor hier, da sie so zu Fuß in wenigen Minuten zur Uni gehen konnte, während ich meine Wohnung weit draußen am Stadtrand in Simmering hatte. Nur an den Wochenenden und in den Ferien übernachtete sie bei mir. Die ständige Suche nach ihren Sachen, die sich prinzipiell immer am falschen Ort befanden, war bereits ein Quell unserer Belustigung geworden, vieles hatte sie sich zwischenzeitlich auch doppelt zugelegt.

    „Ich komme gleich, Liebling! rief sie mir mit ihrer bittersüßen Altstimme aus dem hinteren Zimmer zu, das ich von meinem Standpunkt aus nicht einsehen konnte. Sie erschien wirklich kurz darauf und sah entzückend süß aus. Sie trug eine gebauschte, weiße Bluse zu einem dunkelblauen, etwa knielangen Faltenrock und stöckelte mit ihren bloßen Beinen in weißen Riemchensandalen auf mich zu. Eine rot-blaue Seidenblüte hatte sie sich mittels einer Haarspange seitlich ins leicht gewellte blonde Haar gesteckt, das sie dadurch unglaublich toll zur Geltung brachte. Nachdem sie mir mit ihren dezent roten Lippen einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte, warf sie mir ein herausforderndes „Na? entgegen.

    „Großartig, wie immer, antwortete ich und küsste sie ebenfalls, „ich hoffe nur, dass du damit Karin nicht ausstichst. Da sie aber mit ihren langen schwarzen Haaren genauso hübsch war, hielt ich diese Gefahr für vernachlässigbar. Wir kannten uns alle vier schon seit längerer Zeit, und die beiden Mädchen hatten sich gut angefreundet.9

    Inzwischen war auch Birgits rotblonder Schopf im Vorraum erschienen. Sie war die Mitbewohnerin und Freundin von Susi, hatte aber keinen Bezug zu Mike oder Karin und würde uns daher nicht zur Party begleiten, obwohl Mike gemeint hatte, wir sollten sie doch auch mitbringen. „Ich glaube nicht, dass sie sie ausstechen möchte, meinte Birgit, nachdem sie mich kurz begrüßt hatte. „Während sie sich jetzt vor dem Spiegel hergerichtet hatte, sprach sie nämlich kein einziges Mal von Karin, dafür ständig nur von dir, fast als ginge es um eure eigene Verlobung.

    Mit einem verschämten Lächeln reagierte Susi: „Ach, hör auf! Ich sagte gar nichts darauf, da ich dieses Thema nicht schon wieder diskutieren wollte, schon gar nicht vor ihrer Freundin. Wir verabschiedeten uns also von Birgit, die uns noch viel Spaß wünschte, und gingen eng umschlungen aus dem Haus zur Straßenbahnhaltestelle. „Wie geht es denn deinem Vater? wollte sie wissen. Er war nämlich mit Mikes Eltern gut befreundet und ebenfalls zur Feier eingeladen. Ja, eigentlich kannten sich unsere Eltern schon viele Jahre, und erst dadurch hatte sich in der Kindheit die Freundschaft zwischen Mike und mir entwickelt. Doch seit einigen Tagen fühlte er sich nicht wohl, und bevor ich Susi abholte, hatte ich kurz in seiner Wohnung vorbeigesehen, in der ich immer noch ein Zimmer hatte. Gelegentlich übernachtete ich auch dort, damit er sich nicht ständig so einsam fühlte, nachdem meine Mutter vor rund einem Jahr gestorben war. Er war inzwischen ohnedies etwas eigenartig geworden, um nicht zu sagen schrullig. Er beschäftigte sich mit allem Möglichen, unter anderem auch mit Esoterik, was ich ihm früher nie zugetraut hätte. Vor zwei Wochen hatte er sogar eine uralte, riesige Pendeluhr in einem großen hölzernen Uhrkasten gekauft, die jetzt raumfüllend im Wohnzimmer stand. Doch die lauten Glockenschläge waren ihm lästig geworden, vor allem nachts, und so hatte er einfach das komplette Laufwerk abgestellt. Es wirkte, als wäre die Zeit angehalten oder überhaupt zum Stillstand gebracht worden. Aber ich hütete mich, meinen Vater zu kritisieren. Schließlich wusste ich ja auch nicht, wie ich reagierte, wenn Susi plötzlich tot umfiele. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich mir diese Frage manchmal gestellt, aber immer nach kurzer Zeit beschlossen, nicht weiter darüber nachzudenken. Es war einfach unvorstellbar!

    „Es geht ihm nach wie vor nicht besonders gut, antwortete ich. „Es rächt sich jetzt, dass er damals die Grippe nicht ernst genommen und sie übergangen hat. Ich war soeben bei ihm. Er lässt sich entschuldigen und kann leider nicht mitkommen, sondern wird früh schlafen gehen.

    „Schade, hoffentlich erholt er sich bald wieder. Haben die Ärzte noch immer nichts Konkretes herausgefunden?"

    „Nein. Es dürfte sich um nichts Ernstes handeln, vermutlich sind es bloß die Nachwirkungen der übergangenen Grippe. Wenn er nicht schon in Pension wäre, würde ich sagen, er wäre überanstrengt und müsste ausspannen. Aber auch so werden ihm einige Tage Ruhe gut tun."

    Inzwischen war die Straßenbahn gekommen, und wir fuhren den langen Weg zum Lokal am östlichen Stadtrand Wiens, wobei wir auch einmal umsteigen mussten. Für den Rückweg würden wir ein Taxi nehmen und bei mir in meiner Wohnung übernachten.

    Das Gasthaus war mir bis jetzt unbekannt gewesen, und ich war von ihm angenehm überrascht. Wir gingen an einem Parkplatz vorbei, durch einen kleinen Garten in einen großen Gastraum. Mike hatte das ganze Lokal nur für unsere Gesellschaft gemietet. Da es eher formlos hergehen sollte, gab es keine lange Tafel mit einer bestimmten Sitzordnung, sondern etliche Tische zur freien Platzwahl füllten eine Hälfte des Raums, der Rest war freigeräumt, um eine Tanzfläche zu erhalten. In einem kleinen Nebenraum, direkt neben dem Durchgang zur Küche gelegen, befand sich eine Theke, auf der zahlreiche gekühlte Flaschen Wein, Bier, Mineralwasser und Limonade zur freien Entnahme standen. Das Personal ergänzte sie im Lauf des Abends immer wieder. Um hinter die Theke gelangen zu können, hätte man ein Brett in einem schmalen Durchgang öffnen müssen. Doch es war unnötig, in dem großen Glasschrank an der Rückwand befand sich nämlich deutlich sichtbar gar nichts, und das Stück Fußboden dazwischen dürfte genauso leer gewesen sein.

    Die Speisen wurden in Form eines Selbstbedienungsbüfetts angeboten, das an einem langen Tisch gegenüber der Fensterseite aufgebaut war. Es war köstlich anzusehen, es gab belegte Brötchen verschiedenster Art, kalte Häppchen mit Ei und Schinken, Salate und auch warme Speisen wie etwa Wiener Schnitzel. Außerdem lagen Süßspeisen mehrerer Art bereit, die ebenfalls verführerisch dufteten. Mir lief bei dem Geruch das Wasser im Mund zusammen, und ich freute mich schon, wenn Mike und Karin endlich das Büfett freigeben würden.

    Wir gehörten zu den ersten eingetroffenen Gästen, insgesamt sollten etwa vierzig Personen kommen. Da wir niemanden der wenigen anderen kannten, setzten wir uns an einen leeren Tisch in einer Ecke. Mike selbst und Karin waren ebenfalls noch nicht da. „Holst du mir etwas zu trinken? fragte Susi, „ich habe Durst. Rotwein würde mir schmecken. Ich wunderte mich zwar, da sie eher selten Alkohol trank, aber selbstverständlich ging ich zur Theke und holte eine Rotweinflasche. Als ich damit zurückkehrte, sah ich, dass sich inzwischen Günther, Mikes älterer Bruder, zu Susi gesetzt hatte. Ich hatte ihn zuvor gar nicht bemerkt gehabt und konnte mir nicht erklären, wo er plötzlich hergekommen war. Ich mochte ihn nicht, und schon oft hatte ich mich gefragt, wie denn Mike zu so einem Bruder gekommen war. Ich hielt ihn für einen arroganten Widerling, er lebte nur für eigenartige Vergnügungen wie etwa schnelle Autos, die er auch schon gelegentlich zu Schrott gefahren hatte, und seine Weibergeschichten waren stadtbekannt. Wieso immer noch Frauen auf ihn hereinfielen? Dabei sah er nicht einmal besonders toll aus, aber einen gewissen Charme den jungen Damen gegenüber konnte man ihm nicht absprechen. Da ich jedoch keinen Ärger an Mikes Verlobungsparty beginnen wollte, setzte ich mich still murrend neben Susi und schenkte den Wein in die bereitstehenden Gläser ein. Er hielt mir seines wie selbstverständlich entgegen, und schließlich stießen wir alle drei an. Während ich nur nippte, stürzte Günther das halbe Glas mit einem einzigen Schluck hinunter. Aber auch Susi stand ihm in nichts nach, sie schien wirklich Durst zu haben. Ich wollte schon eine Bemerkung machen, dass sie nicht zu viel Alkohol trinken solle, doch ich unterließ es, um nicht eine diesbezügliche Diskussion mit ihr vor Günther führen zu müssen. Wie ich ihn einschätzte, würde er mir sicher in den Rücken fallen, und sie erst recht zum Trinken animieren wollen. Zum Glück unterhielten sich die beiden nur kurz über Belanglosigkeiten, während ich stumm daneben saß. Dann trank er aus, sagte zu Susi mit einem Augenzwinkern „bis später!" und ging, mich dabei völlig ignorierend, zu einem anderen Tisch, um die drei dortigen Gäste zu begrüßen, die ausnahmslos weiblich, jung und hübsch waren.

    „Was soll das heißen, bis später? Habt ihr euch irgendetwas ausgemacht, als ich an der Theke war?" fragte ich misstrauisch.

    Doch sie lächelte mich besänftigend an: „Keine Ahnung, was er damit meint. Vor deiner Rückkehr hat er lediglich meine Blüte im Haar bewundert, sonst war gar nichts. Bist du etwa eifersüchtig?" fragte sie fast etwas belustigt.

    Natürlich war ich es, aber ich wollte es keinesfalls zugeben und stritt es daher ab. Danach stießen wir zu zweit noch einmal mit den Gläsern an, und Susi trank den Rest mit einem Schluck aus. „Trink nicht so viel, meinte ich jetzt unter uns, „du bist doch kaum an Alkohol gewöhnt.

    „Ach was, erwiderte sie ungehorsam. „Ein bisschen Rotwein soll ja sogar gesund sein, und er schmeckt mir heute wirklich gut. Schenkst du mir nach? Ich befolgte ihren Wunsch widerwillig, füllte ihr Glas aber nur zur Hälfte.

    Inzwischen erschienen zahlreiche weitere Gäste. Ein junges Paar, dem wir einmal bei einem Besuch bei Mike und Karin für wenige Minuten begegnet waren, fragte uns, ob es sich zu uns an den Tisch setzen dürfe. Nichts war mir lieber als das, denn damit hatte Günther keinen Platz mehr, und freudig bejahte ich. Leider konnte ich mich nicht an die Namen der beiden erinnern, und ich fragte daher: „Wie heißt ihr noch bloß?"

    „Ich bin Peter, und das ist meine Freundin Claudia," stellte sich der junge Mann vor. Wir unterhielten uns nett miteinander, wobei sich herausstellte, dass Claudia eine frühere Schulfreundin von Karin war. Jetzt arbeitete sie als Verkäuferin in einer Boutique, während Peter in einer Softwarefirma angestellt war. Die beiden tranken ebenfalls Rotwein mit uns, wobei ich bemerkte, dass vor allem Susi tüchtig zulangte. Was hatte sie heute bloß?

    Schließlich, als es draußen bereits dunkel geworden war, erschienen endlich Mike und Karin, gemeinsam mit ihren jeweiligen Eltern. „Was, so viele sind schon da? fragte Mike in die Runde, bevor sie sich alle an den einzigen langen Tisch setzten, zu dem sich bald einige ältere Verwandte der beiden gesellten. Insgesamt waren aber wesentlich mehr junge Leute anwesend, wozu leider ja beitrug, dass mein Vater absagen hatte müssen. Gleich darauf stand Mike auf und eröffnete gerade noch rechtzeitig das Büfett, bevor sich die Gäste auch ohne seine Erlaubnis darüber stürzen konnten. Sofort begann die übliche Drängelei, ja fast Balgerei. Ich wollte das vermeiden und etwas zuwarten, und als wir daher vorläufig sitzen blieben, trat Mike an unseren Tisch: „Hallo! warf er uns zu, und zu Susi gewandt: „Ich weiß jetzt gar nicht, wer hübscher ist, du oder doch Karin. Nun, sie war inzwischen auch zu uns gekommen und begrüßte uns, vor allem ihre alte Freundin Claudia. Sie trug ein asymmetrisch geschnittenes rotes Kleid, das ihr linkes Bein bis weit nach oben zeigte. Zusammengehalten war es durch einen goldfarbenen Gürtel aus großen runden Kettengliedern. Die Farben kontrastierten perfekt mit ihren tiefschwarzen langen Haaren, und ich hätte die Frage auch nicht beantworten können, wer denn hübscher sei. „Sind nicht alle Mädchen und Frauen hübsch? stellte ich daher die Gegenfrage und bezog dabei mit den Augen auch Claudia mit ein, die sich ja sonst stiefmütterlich behandelt fühlen musste. Jetzt lachten wir alle.

    „Was ist mit deinem Vater?" fragte mich Mike weiter.

    „Er lässt sich entschuldigen, er fühlt sich nach wie vor nicht wohl."

    „Schade, meine Eltern hätten sich sehr gefreut, ihn wieder einmal zu sehen."

    „Ja, schade, sagte ich, und: „Ich werde später zu deinen Eltern hinüber gehen und es ihnen selbst sagen.

    Da inzwischen fast alle Gäste gekommen waren, schlug Mike mit einer Gabel an ein Glas, woraufhin sich das Stimmengemurmel beruhigte. „Meine Freunde! rief er in den Saal. „Karin und ich, wir freuen uns, dass ihr so zahlreich unserer Einladung gefolgt seid. Bevor wir uns die Ringe anstecken, möchte ich, dass ein bisschen Stimmung aufkommt. Die Musik soll beginnen, und ich wünsche mir, dass ihr jetzt alle tanzt. Auf geht’s!

    Daraufhin stellte Günther die Soundanlage an, die sich neben der Tür zum Garten befand, und ließ eine Reihe von modernen Hits ertönen, zu denen man leidlich tanzen konnte. Obwohl viele Gäste nach wie vor mit dem Büfett beschäftigt waren, füllte sich die etwas zu gering bemessene Tanzfläche ziemlich schnell. Ich selbst tanzte weder gern noch gut, aber natürlich machte ich Susi die Freude und ging mit ihr nach vorne, damit wir uns dort ein bisschen austoben konnten. Dabei bemerkte ich, dass sie nicht mehr ganz sicher auf den Beinen stand, aber zum Glück nur so leicht schwankte, dass es bloß mir auffiel. Nach zwei Tänzen nahm ich daher die Chance wahr, sie zum Tisch zurückzuführen. Ich selbst hatte ohnedies genug, und für Susi war es auch besser, sich auszuruhen. Doch sie protestierte heftig und laut: „Du gönnst mir überhaupt keinen Spaß!" Aus den Augenwinkeln heraus registrierte ich, wie Günther, der immer noch neben der Soundanlage hockte, unser Gespräch neugierig und amüsiert verfolgte. Auch das noch!

    „Du kannst ja kaum mehr geradestehen. Vorher wärst du einmal fast umgefallen, es ist ja direkt peinlich," schalt ich sie leise.

    Anstelle einer Antwort nahm sie ihr halb volles Glas und trank es mit einem Schluck aus, wobei ich bemerkte, dass sie dabei ihr Gesicht seltsam verzog. „Was ist denn los mit dir? fragte ich sie. „Trink nicht so viel, du verträgst es nicht und hast doch jetzt schon genug! Es scheint dir nicht einmal mehr zu schmecken.

    „Jetzt sind wir endlich auf einer Verlobungsparty, wenn auch nicht auf der eigenen, und du lässt mich kein bisschen Spaß haben," jammerte sie vorwurfsvoll.

    Ich konnte das alles nicht verstehen, suchte sie etwa Streit? Bisher hatten wir uns nie gestritten, wir harmonierten einfach in jeder Beziehung perfekt. „Hör zu! meinte ich daher. „Du trinkst ab jetzt keinen Alkohol mehr. Und sobald du wieder halbwegs nüchtern bist, verspreche ich, den ganzen Abend mit dir zu tanzen.

    Sie musste wissen, wie sehr ich ihr damit entgegenkam, da ich eigentlich gar nicht tanzen mochte. Doch sie stand einfach auf, murmelte „Ich muss dringend aufs WC" und verschwand in dem langen Gang, der zur Toilette führte. Fast war ich geneigt, einen nicht ganz feinen Kommentar über den Zusammenhang zwischen ihrer Trinkmenge und dem WC-Besuch abzugeben, doch ich ließ es bleiben. Nachdenklich blieb ich kurz sitzen und sah ihr nach. Ich kann mich jetzt noch erinnern, wie ihr blondes Haar, in dem die Blüte befestigt war, sanft hin und her schwang und ihr dunkelblauer Rock bei jedem Schritt nach links und rechts wippte. Im Nu waren meine düsteren Gedanken verschwunden, und durch diesen von einem gewissen Besitzerstolz geprägten Anblick hatte ich ihr die kleine Unstimmigkeit bereits verziehen, obwohl es mir gar nicht gefiel, dass sie leicht betrunken war. Zum Glück bemerkte außer mir niemand etwas davon. Sie wusste offensichtlich noch, was sie tat, aber ich sollte darauf achten, dass sie nicht mehr trank. Ich ahnte natürlich nicht, dass ich sie in diesem Augenblick zum allerletzten Mal so unbefangen betrachtet und zum vorletzten Mal überhaupt gesehen hatte.

    Während ihrer Abwesenheit nutzte ich die Chance, um für einen Moment zu Mikes Eltern zu gehen und ihnen persönlich die Entschuldigung meines Vaters zu überbringen. Da sie sich in einem angeregten Gespräch mit Karin und ihren Eltern befanden, blieb ich nur kurz und mochte nicht weiter stören. Alsdann blickte ich in die Runde. Susi war noch nicht zurückgekehrt, und die meisten Gäste tanzten, auch Peter und Claudia, sodass mein Tisch völlig leer war, ich wollte mich also nicht wieder hinsetzen. Als ich kurz aus dem Fenster sah, bemerkte ich Mike, der einsam im Garten unter einer großen Eiche stand und eine Zigarette rauchte. Hoffentlich war alles in Ordnung mit ihm! Vielleicht wollte er aber nur einmal durchschnaufen in all dem Trubel, und vor der eigentlichen Verlobung.

    Wie üblich spannte sein Sakko etwas über dem Oberkörper, doch ich wusste, dass er nicht etwa einen kleinen Bierbauch hatte, sondern ganz im Gegenteil mit beachtlicher Muskelmasse aufwarten konnte. Mit seinen leicht wuscheligen, dunklen Haaren stellte er ein Bild von einem Mann dar, der in der Vergangenheit immer wieder Mädchen zum Schmachten gebracht hatte. Er hatte dies jedoch nie ausgenutzt, und seitdem er Karin kennengelernt hatte, gab es für ihn ohnedies nur sie. Und welches Bild zeigte ich? Ich war so ziemlich das Gegenstück von ihm: höchstens mittelgroß, brünett, eher unsportlich schlank, und Brillenträger. Was fand Susi eigentlich an mir? Zum Glück zählten für sie offensichtlich nicht die Äußerlichkeiten. Und auch Mike war es egal, er war mir in der Vergangenheit jedenfalls immer ein guter Freund gewesen, sogar mein bester.

    Damit stand mein nächstes Ziel fest. Mit einer gewissen Befriedigung registrierte ich, dass auch Günther irgendwohin verschwunden war und nicht mehr neben der Musikanlage saß, die auch ohne sein Zutun irgendeinen grässlichen Hit spielte und direkt neben der Tür aufgebaut war, an der ich vorbeigehen musste. Ich holte noch mein Sakko, das ich über die Sessellehne gehängt hatte, um für die Kühle draußen gewappnet zu sein, ging hinaus und gesellte mich zu Mike.

    „Wie geht es dir so als Verlobter?" fragte ich ihn nach einem kurzen Moment gemeinsamer Stille.

    „Noch bin ich nicht verlobt, sagte er. „In etwa einer Stunde werden wir uns die Ringe anstecken. Aber ich fühle mich großartig und glücklich. Ich bin nur in den Garten herausgegangen, damit ich nicht drinnen alles verrauche. Ich hoffe, die übrigen Gäste sind auch so rücksichtsvoll. Nun, als notorischen Nichtraucher konnte er mich damit natürlich nicht meinen.

    „Du hast riesiges Glück mit Karin, meinte ich, „Sie ist fantastisch.

    „Du kannst dich aber auch nicht beschweren, lächelte er, „mit Susi hast du genauso das große Los gezogen.

    Da ich ihn nicht über die aktuelle Unstimmigkeit zwischen uns informieren wollte, stimmte ich ihm zu, sagte einfach „Ja," und dachte es auch. Diese lächerliche Auseinandersetzung von vorhin sollte sich sicher im Nu in Nichts auflösen.

    „Wollt ihr euch denn gar nicht verloben? fragte er mich weiter, „ich würde mich auf eine entsprechende Feier freuen.

    „Wir betrachten uns als quasi verlobt, sind es aber nicht offiziell. Vielleicht holen wir es eines Tages nach, antwortete ich und wunderte mich, dass auch Mike damit anfing. Vermutlich würde mir ohnedies nichts anderes übrig bleiben, als zuzustimmen. Ja, wenn ich früher daran gedacht hätte, dann hätten wir heute eine doppelte Verlobungsparty geben können. „Aber wir denken nicht an eine so große Feier, eher an etwas in kleinerem Rahmen, vielleicht lassen wir die Verlobung auch überhaupt aus.

    „Diese Feier heute war auch nicht meine oder gar Karins Idee. Aber du kennst ja meine Eltern. Wenn sie die Chance wittern, so etwas auszurichten, dann sind sie nicht mehr zu bremsen."

    Mit einem Seitenblick versuchte ich, ins Innere des Lokals zu blicken, doch ich sah nur einen kleinen Teil des Saals. Susi konnte ich nirgends erkennen, aber das hatte nichts zu bedeuten, sicher war sie schon von der Toilette zurück. Wahrscheinlich unterhielt sie sich soeben mit Karin, deren Tisch ich von hier aus nicht einsehen konnte. Als ich gerade Anstalten machte, wieder hinein zu Susi zu gehen, hielt mich Mike mit der belanglosen Bemerkung zurück: „Was für ein wunderschöner Abend!"

    „Ja, so lau und friedlich, antwortete ich, ohne genau zu wissen, ob er die Schönheit des Abends auf das Wetter oder auf seine Verlobung bezogen hatte – vermutlich beides. „Er erinnert mich an den Tag, an dem ich Susi kennengelernt habe, damals war es genauso schön, obwohl eine ganz andere Jahreszeit war, merkte ich an.

    „Es würde mich endlich genau interessieren, wie ihr zwei euch begegnet seid. Du hast es mir bis jetzt nur in den Grundzügen erzählt."

    Da ich ihn nicht enttäuschen wollte, blieb ich bei ihm unter dem großen Baum stehen, erinnerte mich freudig an unser erstes Zusammentreffen und begann zu erzählen:

    Es war vor rund eineinhalb Jahren, genau am 15. November. An diesem Tag entfielen an der Uni zwar die Vorlesungen, da es sich um einen Landesfeiertag in Wien handelte. Doch die Büros waren geöffnet, und auch Prüfungen konnten stattfinden. Ich hatte am Vormittag meine allerletzte Prüfung bestanden und damit mein Architekturstudium mit nur geringer Verspätung abgeschlossen. Nachdem ich das Universitätsgebäude verlassen hatte, ging ich einfach wahllos spazieren, um meine Anspannung abzubauen. Es war ein wunderbarer Spätherbsttag, nicht so kalt und nebelig wie die Tage zuvor, nein, die Sonne schien warm und ließ die verfärbten Blätter in den Parkanlagen in fantastischen Farben leuchten. Ich schlenderte glücklich, aufgewühlt und gleichzeitig innerlich leer durch den Volksgarten und gelangte schließlich zurück zum Heldenplatz. Vor dem großen Reiterdenkmal für Erzherzog Karl, den Sieger über Napoleon in der Schlacht bei Aspern, setzte ich mich auf die einzige noch freie Sitzbank und ließ mir die möglicherweise letzten warmen Sonnenstrahlen dieses Herbstes ins Gesicht scheinen. Nach wenigen Minuten kamen zwei mir damals unbekannte Mädchen vorbei, Susi und ihre Freundin Birgit, und fragten mich, ob noch Platz für sie sei. Ich bejahte und rutschte etwas zur Seite, damit sie sich ebenfalls niedersetzen konnten, Susi saß dabei neben mir. Sie hatte mittellange, blonde Haare und war fast um einen Kopf kleiner als ich. Sie trug einen türkis-weiß gestreiften Ringelpullover und etwas ausgeblichene stone-washed Jeans, wodurch ihre schwarzen Stiefel außerordentlich gut zur Geltung kamen. Sie schlug die Beine übereinander und stellte ihre grau-blaue Umhängetasche zwischen ihr und mir auf der Bank ab. Ihrem Gespräch lauschte ich nicht bewusst, da ich in Gedanken noch immer bei meiner Prüfung war. Ich erkannte aber wie aus weiter Ferne, dass es sich ebenfalls um zwei Studentinnen handelte, sie unterhielten sich über irgendeine Exkursion, zu der nur eine der beiden sich anmelden hatte können. Nach etwa einer Viertelstunde verabschiedete sich Birgit, während Susi neben mir sitzen blieb und mich kurz darauf höflich nach der Uhrzeit fragte. Im selben Moment, als ich auf meine Armbanduhr blickte und „Punkt zwölf Uhr mittags" sagte, begannen in der Ferne die Mittagsglocken irgendeiner Kirche zu läuten, worauf wir gleichzeitig loslachten.

    „Da hätte ich ja gar nicht zu fragen gebraucht," entschuldigte sie sich freundlich.

    „Es stört mich überhaupt nicht, und schließlich ist heute ohnedies ein Glückstag für mich," antwortete ich und erweckte damit ihre Neugierde.

    „Wie das?"

    „Ich habe soeben mein Studium abgeschlossen, vor zwei Stunden habe ich meine letzte Prüfung bestanden."

    „Gratuliere! Ich studiere auch, bin aber erst im fünften Semester. Und wie wirst du jetzt feiern?"

    „Momentan ist mir gar nicht nach einer großartigen Feier zumute, ich will einfach den schönen Tag genießen. Nur eines habe ich gleich vor, und zwar möchte ich etwas essen. Ich bin inzwischen sehr hungrig, weil ich morgens kein Frühstück hinuntergebracht habe."

    „Du Armer!" bedauerte sie mich.

    Da zuckte plötzlich wie ein Blitz eine Idee durch meinen Kopf. Schließlich hätte ich alleine essen gehen müssen, da alle meine Freunde zu Mittag keine Zeit für mich hatten. Am liebsten hätte ich ja Mike angerufen, doch ich wusste, dass er mir absagen würde. Er hatte nämlich vor Kurzem Karin kennengelernt und nur mehr für sie Zeit. Aber nun eröffnete sich eine unverhoffte Chance: „Weißt du was? fragte ich sie einfach, ohne lange ein Für und Wider zu bedenken. „Zur Feier des Tages lade ich dich jetzt zu einem anständigen Mittagessen ein. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du mich begleitest. Schließlich ist es alleine ja sehr langweilig, spielte ich die Mitleidskarte aus.

    „Und deine Freundin? Wenn sie davon erfährt, wird sie doch sicher eifersüchtig!"

    „Zu einer dauerhaften Freundin hat es noch nicht gelangt, gestand ich ihr aufrichtig. Ich wollte noch die Anmerkung „bis jetzt hinzufügen, unterließ es aber zum Glück, um sie nicht zu verschrecken. „Machst du mir die Freude und sagst zu?"

    „Ich kann leider nicht. Ich muss kurz vor ein Uhr wieder auf der Uni sein und mich für eine Exkursion anmelden, das ist die letzte Chance dazu."

    „Kannst du das nicht online erledigen?" fragte ich leicht erstaunt.

    „Leider nein, der Professor ist noch vom alten Schlag und besteht auf einer persönlichen Anmeldung."

    „Ist diese Exkursion denn so wichtig?" fragte ich mit wachsender Verzweiflung, da sie meinen Plan zu durchkreuzen schien.

    Jetzt lachte sie mich an: „Überhaupt nicht, sie ist nicht verpflichtend. Ich will auch gar nicht teilnehmen, außerdem mag ich den Professor nicht, aber Birgit steht auf ihn. Sie ist bereits angemeldet und möchte nicht ohne mich mitfahren."

    „Dann sag ihr einfach, die Exkursion war bedauerlicherweise schon ausgebucht."

    „Wenn sie dahinterkommt, dann ist sie furchtbar eingeschnappt, und

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