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Krötenküssen: eine zauberhafte Geschichte
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Krötenküssen: eine zauberhafte Geschichte
eBook590 Seiten7 Stunden

Krötenküssen: eine zauberhafte Geschichte

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Über dieses E-Book

Mia kann es nicht fassen. Erst haben ihre Eltern sie von Hamburg in die bayrische Provinz verschleppt, um sich dann zu allem Überfluss für ein ganzes Jahr in die Antarktis abzusetzen.
Alleine auf dem Lande, in der Obhut einer alten Tante - was könnte schlimmer sein?
Doch nicht nur das Zusammenleben mit Tante Rosie, die ihrem Erziehungsauftrag nur halbherzig nachkommt, sondern auch die neuen Nachbarn, die den verfallenen Eulenhof in ein Zaubervarieté verwandeln, sorgen dafür, dass ihr vermeintlich langweiliges Landleben turbulenter wird, als sie es sich jemals ausgemalt hätte.

Eine fantastische Geschichte über Liebe, Freundschaft, den Mut zum anders sein und über einen Zauberlehrling mit mittelmäßigem Talent.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum12. Feb. 2017
ISBN9783742796875
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    Buchvorschau

    Krötenküssen - Luise Hennich

    Kapitel 1: Änderungen

    Für Gnomi

    - mein zauberhaftes Wesen

    Es war zu Ostern, als sich mein Leben änderte.

    Mal wieder änderte.

    Die letzte Änderung war noch nicht so besonders lange her gewesen. Aus Hamburg, dieser supergeilen Stadt, war ich von meinen Eltern nach Bayern in die Provinz verschleppt worden. Verschleppt - anders konnte man es beim besten Willen nicht bezeichnen.

    Meine Mutter und mein Vater waren Professoren.

    Beide.

    Für Geologie.

    Ging es noch langweiliger?

    Bis vor kurzem noch in Hamburg und nun an der Uni in München. Und ich – ich ging nun auf dieses Provinzgymnasium in diesem Provinzkaff, weil meine Eltern zwar in der Großstadt arbeiten, aber nicht wohnen wollten.

    Klar, meinen Eltern machte das nichts aus. Die waren total vertieft in ihre Forschung, fuhren täglich zur Universität oder zu Konferenzen und waren nur selten zu Hause.

    Aber zu Ostern hatten sie es tatsächlich mal alle beide geschafft, anwesend zu sein. Auch wenn für Familienleben bei uns wenig Zeit blieb, und ich es ihnen nicht wirklich verzieh, dass ich meine Freunde, meine Schule, meine Stadt, zurücklassen musste, so waren sie doch insgesamt ganz in Ordnung und ich freute mich tatsächlich irgendwie darüber, dass wir nun zusammen ein paar Tage verbringen würden.

    Und so saßen wir am Ostersonntag am Frühstückstisch auf der Terrasse vor unserem Haus in der Sonne und blickten auf Wiesen und Wälder und auf die Berge, die sich in der Ferne als helle Silhouetten abzeichneten. Präziser formuliert: wir blickten ins Nichts, denn unser Haus lag nicht nur in einem winzigen Kaff, es lag, um das Maß voll zu machen, auch noch total einsam am Ortsrand. Wir hatten noch nicht mal Nachbarn, denn selbst der steinalte Bauernhof, der ein paar hundert Meter weiter neben unserem Garten lag, stand schon seit langem leer und war total verfallen. Die Einheimischen nannten ihn den Eulenhof, aber ich hatte noch nie eine zu Gesicht bekommen. Aber auch ohne Eulen war das tote Gemäuer irgendwie total gruselig.

    Obwohl es schon zehn Uhr morgens war, griff meine Mutter noch immer schlaftrunken nach der Kanne und schenkte sich Kaffee ein.

    „Ich glaube, ich hatte etwas zu wenig Schlaf in den vergangenen Tagen", sagte sie mit einer vor Müdigkeit rauen Stimme.

    Das konnte hinkommen, wenn man bedachte, dass sie erst am Abend zuvor von einer Konferenz in Tokio zurückgekehrt war und davor, glaubte ich mich zu erinnern, in Toronto einen Vortrag gehalten hatte.

    Über den Rand ihrer Kaffeetasse blickte sie über den Tisch und nickte meinem Vater und mir anerkennend zu. „Wie schön, dass ihr beide ein paar Ostereier aufgetrieben habt." Sie sah auf die lila-blau gefärbten Eier und lächelte mich an.

    „Ich musste improvisieren, antwortete ich und erklärte: „Leider hatte ich vergessen, Farbe zu kaufen. Zum Glück habe ich noch ein paar Reste vom letzten Jahr gefunden. Die habe ich gemischt. Daher das ausgefallene Design.

    Mein Vater nahm sich ein Ei und begann es abzuschälen.

    „Die sehen doch gut aus", meinte er beiläufig, ohne wirklich auf die Farbe zu achten und schob das ganze Teil in seinen Mund, kaute und schwieg.

    Die beiden waren heute Morgen ja echte Stimmungskanonen!

    Normalerweise quatschten sie mich immer tot mit irgendwelchen Geschichten über irgendwelche Gesteinsschichten, die aus irgendwelchen Gründen total spektakulär waren. Doch an diesem Morgen schienen sie irgendwie an einer Art von Stimmlähmung zu leiden.

    „Ist alles in Ordnung?", fragte ich und griff auch nach einem blöden Ei, nur um etwas zu tun.

    Meine Mutter blickte von ihrem Kaffee auf und sah mich an. „Mia, wir müssen etwas Wichtiges mit dir besprechen." In mir schrillte eine Alarmglocke. So oder so ähnlich hatte auch das Gespräch begonnen, in dem sie mir gesagt hatten, dass wir in die Provinz ziehen würden.

    „Ist etwas passiert?", fragte ich daher misstrauisch.

    Mein Vater stand auf und kam zu meinem Stuhl. Er setzte sich auf meine Lehne und legte seine Hand auf meine Schulter. Oh Gott! Was kam jetzt?

    „Könntest du dir vorstellen, für eine Weile allein zu bleiben?", fragte er.

    Ich war schon öfter allein geblieben, wenn meine Eltern zu einer ihrer wissenschaftlichen Exkursionen aufbrachen. Allerdings nie besonders lange.

    Der Tonfall in seiner Stimme ließ mich aufhorchen.

    „Wie lange würde diese Weile denn sein?", fragte ich misstrauisch. Prinzipiell genoss ich es, mein eigener Herr zu sein und über eine sturmfreie Bude zu verfügen – aber alles hatte seine Grenzen.

    „Diesmal würde es etwas länger sein, als du es bisher gewohnt bist, sagte meine Mutter und beugte sich über den Tisch in meine Richtung. „Wir haben das Angebot bekommen, an Erdbohrungen in der Antarktis teilzunehmen. Das würde bedeuten, dass wir dort ein Jahr verbringen würden.

    „Ihr beide zusammen?", fragte ich schockiert. Das konnte ja wohl nicht ihr Ernst sein, dass ich alleine hier in dieser Einöde sitzen sollte.

    „Seid ihr verrückt? Soll ich etwa alleine in diesem Kaff bleiben?", entfuhr es mir.

    „Du bist ja kein Baby mehr. Wir finden, du bist für dein Alter ungewöhnlich vernünftig und selbstständig", hörte ich meine Mutter sagen.

    „Wir möchten dich nur ungern kurz vor dem Abitur aus der Schule nehmen und in ein Internat schicken. Deshalb haben wir gedacht, du bleibst hier und bekommst Gesellschaft."

    „Gesellschaft?"

    „Wahrscheinlich kannst du dich gar nicht mehr an sie erinnern. Du warst noch sehr klein, als ihr euch das letzte Mal begegnet seid", sagte meine Mutter

    „Wen meinst du?"

    „Ich spreche von meiner Tante, deiner Großtante Rosie. Sie würde für ein Jahr zu uns ziehen, da sie im Augenblick, sagen wir mal, ungebunden ist."

    Das wurde ja immer besser. Nicht nur, dass sich meine Eltern im wahrsten Sinne des Wortes ans andere Ende der Welt verziehen wollten – ich sollte auch noch mit einer mir unbekannten und wahrscheinlich schon am Rande der Senilität befindlichen Verwandten hier am Arsch der Welt sitzen.

    „Das ist ein Scherz", war alles, was ich hervorpressen konnte.

    „Kind, glaub mir, es fällt uns nicht leicht, dich so lange allein zu lassen. Aber diese Gelegenheit ist einmalig und kommt wahrscheinlich nicht wieder. Das ist kein Urlaub und auch keine Abenteuerreise, sondern ein Forschungsaufenthalt, der uns mit großer Wahrscheinlichkeit einige bahnbrechende Erkenntnisse bringen wird."

    Ich fasste es nicht. Die beiden schienen wildentschlossen, mich hier mit einer Fremden sitzen zu lassen und erst in einem Jahr wieder zurückzukommen.

    „Und wann würdet ihr fahren?", fragte ich in der Hoffnung, dass ich noch ausreichend Zeit hatte, um irgendwie aus dieser Nummer wieder rauszukommen.

    „In drei Wochen", antwortete meine Mutter mit einem Zögern in der Stimme.

    „In drei Wochen schon?", brachte ich krächzend hervor.

    „Wieso habt ihr mir nicht schon eher davon erzählt?"

    „Wir haben selber nichts davon gewusst; wir haben das Angebot erst in der letzten Woche erhalten und einige Tage gebraucht, um für uns darüber nachzudenken und zu entscheiden, fügte mein Vater in entschuldigendem Ton hinzu. „Wir müssen so bald aufbrechen, da sonst schon der antarktische Winter beginnt und wir die Forschungsstation nicht mehr erreichen können. – Also entweder wir gehen jetzt oder das ganze Projekt ist für uns gestorben.

    „Aber - was wird mit Wotan?", fragte ich schwach.

    Bei diesen Worten erhob sich ein riesiges, zottiges, graues Tier, das bisher schlafend unter unserem Frühstückstisch gelegen hatte, schüttelte sich und verbreitete einen wenig angenehmen Geruch rings um uns her.

    Wotan war unser Hund – aber eigentlich war die Bezeichnung Hund zu schmeichelhaft für ihn. In Wirklichkeit war Wotan ein Monster in Pelzgestalt, das eines Morgens im Garten unseres Hauses in Blankenese gelegen hatte. Ohne Halsband, ohne Leine, ohne Hundemarke. Ein paar Tage lang hatten wir versucht, seinen Besitzer ausfindig zu machen, dann hatten wir versucht, ihn in einem Tierheim unterzubringen, dann hatte mein Vater ausgesprochen, was wir alle dachten:

    „Wir können ihn nicht ins Tierheim bringen, dort wird er früher oder später eingeschläfert!"

    Und das aus gutem Grund, denn es stellte sich heraus, dass Wotan – wie wir ihn aufgrund seiner Erscheinung getauft hatten – offenbar meinen Vater als seinen persönlichen Retter betrachtete und ihm dies mit treuer Ergebenheit und großer Liebe dankte. Meine Mutter und mich betrachtete er allerdings nur als notwendige Randerscheinungen seines Lebens und alle anderen Kreaturen, die seinen Weg kreuzten, potentiell als Feinde. Eine Vermittlung in fremde Hände schien unmöglich und so blieb er bei uns.

    „Äh, Wotan könnte ja bei dir bleiben", antwortete mein Vater zaghaft auf meine Frage und kraulte das Tier hinter den Ohren.

    „Wie soll das gehen?, fragte ich entsetzt. „Er hört nicht auf mich, schleift mich an seiner Leine hinter sich her, frisst jede Katze, die ihm vor seine Schnauze kommt und ist eine Gefahr für die Allgemeinheit.

    „Na, nun übertreib mal nicht, versuchte mein Vater zu beschwichtigen. „Du wirst sehen, wenn wir weg sind, wird Wotan ein folgsames Hündchen sein. Er wird schnell verstehen, dass er auf dich angewiesen ist. Du musst nur energisch genug auftreten, dann klappt das schon.

    Ich wollte noch etwas einwenden, doch mein Vater kam mir zuvor.

    „Außerdem, fügte er hinzu, „finde ich es gut, wenn du einen Bewacher im Haus hast. Wir wohnen hier ja doch ziemlich einsam.

    Damit hatte er allerdings Recht.

    So war es denn beschlossen. Meine Eltern würden in die eisigste Kälte dieses Planeten reisen und dort im Dunkeln verschwinden.

    Ich würde mit einer mir unbekannten Großtante und einem unberechenbaren Hund zurückbleiben und versuchen, mein Leben so normal wie möglich weiter zu leben.

    Tante Rosie wurde benachrichtigt und versprach, rechtzeitig vor der Abreise meiner Eltern da zu sein, meine Eltern widmeten sich der Beschaffung warmer Unterwäsche und was sonst noch notwendig war, um das kommende Jahr zu überleben und ich beschloss, einen Maulkorb für Wotan zu besorgen.

    Der Tag der Abreise nahte unwiderruflich.

    Mein Vater und insbesondere meine Mutter wurden in dem Maße stiller und bedrückter, in dem sich die Koffer und Kisten in unserem Hausflur stapelten. Ich dagegen hatte mich inzwischen an den Gedanken der fast sturmfreien Bude gewöhnt und sah meinem Schicksal mit einer gewissen Gelassenheit entgegen.

    Eines Abends, zwei Tage vor dem geplanten Abreisetermin, trat meine Mutter in mein Zimmer. Ich saß an meinem Schreibtisch am Fenster und lernte lateinische Vokabeln, als sie mir sanft die Hand auf die Schulter legte.

    „Mia, ich muss noch einmal mit dir reden". Ihre Stimme klang zaghaft.

    Ich blickte über die Schulter und sah sie an.

    „Mir kommt die Idee, dich hier für so lange Zeit allein zu lassen, inzwischen vollkommen verrückt vor."

    Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr sie fort: „Noch könnte ich meine Teilnahme rückgängig machen und hier bei dir bleiben."

    „Du spinnst wohl!, entfuhr es mir. „Ihr habt alles vorbereitet, Tage damit verbracht, unzählige Kisten zu packen, du freust dich auf diese Expedition und wir haben schließlich Telefon und Internet um in Kontakt zu bleiben.

    Sie nahm mein Kinn in ihre Hand und sah mich prüfend an. „Du sagst das jetzt nicht nur, weil du tapfer sein willst?"

    „Nein, weil ich weiß, wie viel euch diese Reise bedeutet und weil ich – wie ihr ja schon selber bemerkt habt – kein Baby mehr bin."

    Sie blickte auf meinen Computer.

    „Versprich mir, dass wir uns regelmäßig schreiben!"

    „Klar, versprochen!" Heimlich kreuzte ich zwei Finger hinter dem Rücken. Das fehlte mir noch – Mutti als Brieffreundin!

    „Und", sie sah mich erwartungsvoll an. Was kam jetzt noch?

    „Lass uns regelmäßig skypen!"

    Skypen?! Ich war schon drauf und dran, ihr zu sagen, dass ich eigentlich keinen Bock darauf hatte, per Kamera überwacht zu werden, als ich bemerkte, dass sie mit den Tränen kämpfte. Scheiße, sie war echt traurig, dass sie mich hier zurücklassen würde. Und wenn ich ehrlich war, war ich es auch. Doch ich schluckte die Emotionen runter und antwortete stattdessen betont munter:

    „Klar. ich freue mich schon darauf, euch zwei mit euren Schneeanzügen und roten Nasen zu sehen, während ich hier im Sommerkleidchen sitze".

    Und dann kam er – der Tag des Abschieds von meinen Eltern.

    Wer nicht kam, war Tante Rosie.

    Die Abreise war für Samstag geplant. Tante Rosie hatte ihr Kommen für Freitagabend versprochen. Ich war sehr gespannt auf die unbekannte Tante. Meine Mutter hatte sich zurückgehalten mit der Beschreibung und nur angedeutet, dass Tante Rosie eine eher ausgefallene Person sei, aber dafür echt nett. Offensichtlich hatte sie verschwiegen oder verdrängt, dass Tante Rosie nicht zu den zuverlässigsten Zeitgenossen zu gehören schien, denn am frühen Nachmittag klingelte unser Telefon und ich hörte meine Mutter „Oh, das ist aber misslich!, „Hoffentlich ist es bis morgen wieder in Schuss, „Ach, Sonntag sagst du?", ins Telefon stammeln. Kurz darauf stand sie hinter mir. Ich drehte mich um und ahnte schon, dass es unangenehme Neuigkeiten gab.

    „Tante Rosie war am Telefon. Sie kann erst am Sonntag kommen, offenbar ist ihr Auto kaputt und die Reparatur wird erst morgen im Laufe des Tages erledigt. Sie bricht dann gleich am Sonntagmorgen auf."

    Meine Mutter machte ein betretenes Gesicht.

    „Wir können unsere Abreise leider nicht aufschieben. Das Flugzeug geht morgen um 14:00 Uhr ab München. Das heißt, du und Wotan wäret dann erstmal alleine hier."

    „Na, dann kann mir ja nichts passieren", erwiderte ich etwas sarkastisch.

    Meine Mutter sah mich besorgt an.

    „Nein, im Ernst, nun mach dir mal keine Gedanken um mich. Ich komm schon klar, das ist kein Problem", beteuerte ich und fand den Gedanken, eine Nacht alleine zu verbringen, nicht weiter der Rede wert. Wahrscheinlich war es sogar besser, wenn Wotan den Trennungsschmerz von meinem Vater erst einmal ohne fremde Gesellschaft verarbeiten konnte.

    Am nächsten Morgen waren wir alle früh auf. Meine Eltern waren sehr aufgeregt und liefen zwischen Frühstückstisch, Koffern und Kleiderschrank hin und her. In der letzten Minute fiel ihnen auf, dass ich auch mit ausreichend Geld versorgt werden musste und sie legten mir noch schnell zwei Kreditkarten auf den Esstisch, flüsterten mir die dazugehörigen Geheimnummern ins Ohr, beteuerten, dass alle laufenden Kosten für unser Haus automatisch monatlich beglichen würden und ich mich um nichts zu kümmern hatte, und schon hörten wir ein Hupen vor dem Gartenzaun.

    Der Fahrer des geologischen Instituts wartete draußen, um meine Mutter und meinen Vater zum Flughafen zu bringen. Gemeinsam schafften wird den unglaublichen Berg von Taschen und Koffern in den Wagen.

    Dann ging alles ganz schnell. Mein Vater nahm mich fest in den Arm und drückte mich.

    „Du schaffst das schon, flüsterte er mir ins Ohr. „Wir melden uns, sobald wir angekommen sind.

    Meine Mutter unterdrückte ein paar Tränen und ich hatte auch einen großen Kloß im Hals, als sie mich umarmte.

    „Du wirst sehen, es wird prima mit Tante Rosie. Nach ein paar Tagen wirst du deine alten Eltern gar nicht mehr vermissen."

    Dann beugten sie sich beide herunter zu Wotan, der neben uns stand und die Szene skeptisch beäugte.

    „Wotan, alter Freund, mach es gut. Sei nett zu Mia. Wenn wir in einem Jahr wieder da sind, wollen wir hier einen braven Hund sehen."

    Wotan wedelte unsicher mit dem Schwanz und blickte zu mir hoch. Ich sah ihn an und in Anbetracht der Tatsache, dass er nun meine Restfamilie darstellte, kam er mir irgendwie nicht mehr so schrecklich vor.

    Nun war es unwiderruflich. Das Auto startete und fuhr den schmalen Weg, der von unserem Haus zur Hauptstraße führte, entlang. Ich sah die winkenden Silhouetten meiner Eltern kleiner und kleiner werden, bis der Wagen abbog und aus meinem Blick verschwand. Für einen Moment fühlte ich mich sehr alleine.

    Kapitel 2: Allein

    „Na, komm mit", sagte ich zu Wotan und ging voraus Richtung Haustür.

    Mit einem Blick zurück vergewisserte ich mich, dass das Gartentor verschlossen war, damit das Fellmonster keine Jagd auf vorbeikommende Radfahrer machen konnte. Wotan folgte mir auf dem Fuß und gemeinsam betraten wir den Hausflur. Es war noch nicht einmal Mittag und ein langer Tag lag vor mir.

    Scheiße, nun saß ich echt alleine in der Provinz.

    Ich beschloss, zunächst einmal meine Hausaufgaben zu erledigen, ging hinauf in mein Zimmer, setzte mich an meinen Schreibtisch und zog mein Mathebuch aus dem Stapel Lehrbücher hervor, der sich vor mir auftürmte. Ich streckte meine Füße unter dem Tisch aus und stieß unvermutet auf einen Widerstand. Was war das? Mit dem rechten Fuß stupste ich gegen etwas Großes, Festes. Ich blickte hinab und sah in ein zottiges Gesicht. Wotan hatte es sich unter meinem Schreibtisch bequem gemacht. Offenbar kam auch er sich einsam vor. Nun gut, wir konnten es uns auch gemeinsam gemütlich machen.

    Nach zwei Stunden hatte ich sämtliche Aufgaben erledigt und war hungrig. Ich stand auf und ging hinunter in die Küche. Ein grauer Schatten folgte mir.

    „Hast du auch Hunger?", fragte ich das Pelzmonster. Eigentlich wurde Wotan nur zweimal am Tag gefüttert – morgens und abends. Aber dem Riesenvieh konnte eine Mahlzeit zu viel auch nicht schaden und ein kleiner Snack würde ihn vielleicht von seinen trüben Gedanken ablenken.

    Während Wotan mit ekligen Schlabbergeräuschen seinen Napf leerte, überlegte ich, was ich mit dem angefangenen Tag machen sollte. Ich konnte Kathi eine Nachricht schicken und fragen, ob sie zu mir in die Einöde kommen wollte. Kathie war so etwas wie eine Freundin. Die einzige, die ich bis jetzt hier gefunden hatte. Wir gingen in die gleiche Klasse.

    Sie war nett und versuchte ständig, mich in ihre Landcommunity zu integrieren. Aber heute hatte ich mehr Lust, den Rest des Tages allein zu verbringen und es bis zu Tante Rosis Ankunft auszukosten, mein eigener Herr zu sein. Es war ein wunderbar warmer Tag, den ich gut mit einem Buch im Liegestuhl auf der Terrasse verbringen konnte.

    Wotan schaute von seinem Fressnapf auf und blickte mich an. Es half nichts; zuerst musste das Fellmonster vor die Tür. Ich beschloss, mit ihm einen kurzen Spaziergang zu wagen und holte Leine, Halsband und Maulkorb. Leine und Halsband kannte er schon, der Maulkorb hatte heute Premiere.

    Wotan blickte misstrauisch, als ich mich ihm mit meiner Ausrüstung näherte. Ich überlegte; war es günstiger, ihm zuerst das Halsband und dann den Maulkorb umzulegen, oder umgekehrt? Ich entschloss mich für das Halsband und streifte es ihm kurz entschlossen über. Wotan hielt still. Nun noch der Maulkorb – ich wollte nicht mit ansehen, wie Wotan auf unserem ersten gemeinsamen Ausflug eine unschuldige Kreatur verspeiste, die ihm versehentlich in den Weg lief.

    „Na, Wotan", redete ich beruhigend auf ihn ein, um auch mir Mut zu machen.

    „Schau mal hier, ein Maulkorb. Der wird dir gut stehen."

    Zu meiner Überraschung hielt Wotan still, als ich ihm den Maulkorb überstreifte. „Entschuldige mein Freund, aber das muss zu deinem und vor allem zum Schutz aller anderen Lebewesen sein", erklärte ich ihm und befestigte die Leine am Halsband.

    Am sichersten war es, wenn wir einfach durch den Wald streiften. Die Chance, dort auf andere Spaziergänger oder Radfahrer zu treffen, war relativ gering. Wenn Wotan neben mir ging, reichten seine Schultern bis zu meiner Hüfte, denn mit 1,60 m war ich nicht besonders groß. Hob er den Kopf, so konnte er mir fast in die Augen sehen. Im Zweifelsfall hätte ich seiner Körperkraft nichts entgegenzusetzen, auch wenn ich mich selber nicht als schwächlich bezeichnen würde. Blieb nur zu hoffen, dass er nicht beschloss, sich selbstständig zu machen. Wir traten hinaus, gingen durch unseren Garten um das Haus herum, verließen ihn durch die Hinterpforte und schlugen den Weg Richtung Wald ein, der unmittelbar hinter unserem Haus begann. Eigentlich war ich noch nie alleine im Wald spazieren gegangen. Wenn ich es recht bedachte, war ich, seit wir hier wohnten, noch nie dort gewesen, obwohl er direkt hinter unserer Tür lag.

    Ein schmaler Pfad führte von unserem Gartenzaun durch eine kleine Wiese direkt auf den Wald zu. Wotan schien es eilig zu haben, den passenden Baum zu finden, denn er zog energisch an der Leine. „Mach mal langsam, Wotan!", rief ich ihm zu, aber erwartungsgemäß hatte mein Appell keinen Erfolg.

    Wir erreichten ein dichtes Laubdach und Wotan hob ohne zu zögern sein Bein am ersten Baum, der seinen Weg kreuzte. Offenbar pressierte es. 

    Während er sein Geschäft verrichtete, blickte ich mich um. Wir standen an einer Weggabelung. Der Weg führte zur Linken am Waldrand entlang Richtung Dorf, zur Rechten führte er in geschwungenen Linien den Hang hinauf. Wotan nahm mir die Entscheidung, in welche Richtung wir gehen sollten, ab. Entschlossen setzte er seinen Weg den Hang hinauf fort und mir blieb nichts anderes übrig, als ihm am anderen Ende der Leine zu folgen. Es wirkte, als ob ihm dieser Weg vertraut war – wahrscheinlich war dies eine der Routen, die sonst mein Vater mit ihm ging. Da das Fellmonster sich hier bestens auszukennen schien, beschloss ich, ihm die Führung zu überlassen und wir trotteten eine ganze Weile den Waldweg entlang.

    Wotan hob in regelmäßigen Abständen das Bein oder schnupperte ausgiebig an den verschiedensten Stellen oder tat beides in umgekehrter Reihenfolge. Ich hing meinen Gedanken nach und fragte mich, ob meine Eltern wohl schon über den Wolken schwebten, als wir plötzlich und unvermittelt eine Lichtung erreichten, die an einen kleinen See grenzte. Mit einem Mal standen wir im glänzenden Sonnenlicht auf einer blühenden Wiese und kristallklares Wasser schimmerte uns entgegen.

    „Oh, Wotan, sagte ich begeistert, „das ist ja traumhaft hier.

    Wotan sah mich kurz an und steuerte dann auf das Ufer zu. Durstig trank er mit langen Zügen aus dem See. Ich ließ die Leine locker und setzte mich neben ihn.

    Der Anblick des Sees vor einem Bergpanorama war atemberaubend und die Mittagshitze erzeugte ein unwirkliches Flirren über den winzigen Wellen, mit denen das Wasser ans Ufer gespült wurde. Nach der schattigen Kühle des Waldes spürte ich die Hitze umso deutlicher. Schweiß begann, in kleinen Bächen meinen Rücken herabzulaufen. Eine kurze Abkühlung konnte nicht schaden. Ich sah mich um. Es war weit und breit niemand zu sehen. Schnell streifte ich meine Schuhe, Jeans und mein T-Shirt ab und stand in Slip und BH am Ufer. Wotan schaute mich verwundert an.

    „Wie wäre es mit einem kleinen Bad?", fragte ich ihn und hatte auch schon einen Fuß eingetaucht.

    „Scheiße, ist das kalt!", entfuhr es mir. Das Wasser war eisig. Was hatte ich erwartet? Schließlich stand ich an einem Bergsee und es war noch nicht einmal richtig Sommer.

    Während ich die Zähne zusammenbiss und einen weiteren Schritt ins Wasser machte, hörte ich Wotan hinter mir leise knurren.

    „Nun spiel dich hier mal nicht als Sittenwächter auf!", wandte ich mich zu ihm und bemerkte, dass er die Ohren spitzte und aufmerksam zum Waldsaum hinüberblickte, während er seine Lefzen hob und unverwandt weiterknurrte.

    Ich folgte seinem Blick und erkannte am Rand der Lichtung zwei Gestalten, die sich auf den See zu bewegten. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich stand halb nackt mit den Füßen im eiskalten Wasser, hatte ein Fellmonster an der Leine und zwei sorglose Spaziergänger näherten sich mir vollkommen unbefangen.

    Inzwischen konnte ich erkennen, dass es sich um Wanderer im mittleren Alter handelte, die offenbar auch Rast am Ufer des Sees machen wollten. Wotan fixierte die beiden mit gesträubtem Nackenhaar.

    „Ist gut, Wotan, redete ich beschwichtigend auf ihn ein. „Das sind nur zwei Wanderer, kein Grund, hier so einen Terror zu machen.

    Die beiden Männer hatten uns auch schon erblickt, denn einer von ihnen hob winkend die Hand. Ich stapfte, so schnell ich konnte, aus dem Wasser und schlang Wotans Leine um einen kleinen Baum. Mit einem doppelten Knoten sicherte ich sie noch einmal sorgfältig, bevor ich mich nach meiner Kleidung umsah. Ich schaffte es gerade noch in meine Jeans zu schlüpfen, als die beiden Männer auch schon wenige Schritte vor mir standen.

    „Hallo, schöne Frau, so alleine unterwegs?"

    Der jüngere der beiden ließ seinen Blick ungeniert von meinem Gesicht zu meinem BH und zurück gleiten. Schnell griff ich nach meinem T-Shirt, das vor mir auf dem Boden lag, und streifte es über.

    „Schade, gerade hast du mir besser gefallen." Der Ältere grinste mich unverschämt an.

    Was für ekelhafte Kotzbrocken.

    Das war genau der Typ Stammtischbruder, der der Schrecken jeder Bedienung auf dem Oktoberfest war. Zu Hause der solide Papa, ohne Muttis Aufsicht ein Ekelpaket. Fieberhaft überlegte ich, ob mir mein Handy, das in meiner hinteren Hosentasche steckte, eine Hilfe sein konnte. Aber wen sollte ich alarmieren? Der polizeiliche Notruf kam mir übertrieben vor. Die Typen waren zwar fies, wirkten aber nicht wie Verbrecher.

    „Warum denn so schüchtern? Wir beißen doch nicht." Betont lässig streifte der Jüngere seinen Rucksack ab und ließ ihn neben sich ins Gras fallen.

    „Ich wollte gerade gehen", brachte ich hervor und schlüpfte in meine Schuhe. Falls die Situation aus dem Ruder laufen sollte, war ich nun für einen schnellen Sprint gewappnet. Die beiden Typen sahen nicht so aus, als könnten sie mit mir Schritt halten.

    „Bleib doch noch ein bisschen bei uns", grinste mich der Jüngere an und streckte seinen Arm nach mir aus.

    Das hätte er besser nicht tun sollen. Wotan, den ich tatsächlich für einen Moment vergessen hatte, gab einen Furcht erregenden Laut von sich und riss mit aller Kraft an seiner Leine. Das dünne Bäumchen, an dem ich ihn festgemacht hatte, knickte wie ein Schilfhalm ein und brach. Mit zwei langen Sätzen war er bei uns und hatte den Mann zu Boden geworfen. Mit gefletschten Zähnen stand er über ihm und durch seinen Maulkorb tropfte warmer Sabber auf sein Gesicht.

    „Ruf das verdammte Vieh zurück!", rief der ältere Mann, während sein jüngerer Kumpel vor Schreck erstarrt unter meinem Fellmonster lag.

    „Wotan, aus!", rief ich und zog gleichzeitig nach Kräften an seinem Halsband. Insgeheim betete ich, dass der Maulkorb nicht reißen würde. Auch wenn die Typen fies waren, den Tod hatten sie dann doch nicht verdient. Zum Glück ließ Wotan widerstrebend von seinem Opfer ab und stellte sich vor mich. Knurrend beobachtete er, wie der Jüngere sich aufrappelte und mit Hilfe seines Begleiters wieder auf die Beine kam.

    „Ich glaube, es ist besser, wenn sie jetzt gehen. Wotan kann es nicht leiden, wenn ich beim Baden belästigt werde " brachte ich mit fester Stimme hervor, obwohl mir insgeheim die Knie zitterten.

    „Für dieses Monster brauchst du einen Waffenschein", schrie der Jüngere und wischte sich mit dem Jackenärmel eine Schleimspur von der Wange. Er hob seinen Rucksack auf und die beiden machten Anstalten zu gehen.

    „Lass das Mistvieh einschläfern, bevor es einen Menschen auf dem Gewissen hat", rief mir noch der Ältere zu, bevor beide mit raschen Schritten die Lichtung durchquerten und im Wald verschwanden.

    „Wotan, du bist wirklich eine Bestie. Selbst mit Maulkorb bist du noch so Furcht erregend, dass du zwei erwachsene Männer in die Flucht schlägst", sagte ich und tätschelte seinen gewaltigen Kopf. Auch wenn es Wotan ganz offensichtlich an Erziehung mangelte, in seiner Gegenwart musste ich mir keine Sorgen um meine Sicherheit machen – höchstens um die Sicherheit der anderen. Wotan sah mich an und wedelte mit dem Schwanz. Tatsächlich wirkte er sehr zufrieden mit sich selbst.

    Kapitel 3: Flügelschlag

    Wir kehrten am frühen Nachmittag von unserem Ausflug zurück und der Rest des Tages verging ohne weitere Aufregung. Ich verbrachte das meiste davon in einem Liegestuhl in der Sonne.

    Als es dunkel wurde, zog ich mich mit einem Glas Milch und einem Teller voller Brote auf mein Zimmer zurück. Ich öffnete die Balkontür und eine Brise lauwarmer Abendluft strömte mir entgegen.

    War mein Zimmer ansonsten eher schlicht ausgestattet, so war der große Balkon, der sich über die gesamte Vorderfront des Hauses erstreckte, doch ein Luxus, den ich – jetzt, da der Frühling begonnen hatte – immer mehr zu schätzen lernte. Ich trat hinaus, rückte einen Stuhl zurecht und ließ mich mit meinem Abendbrot auf den Knien darauf nieder.

    Mein Zimmer befand sich auf der linken Seite des Hauses, so dass ich über den Garten hinweg den verlassenen Eulenhof sehen konnte. In der Dämmerung wirkte er noch größer als am Tage. Bestimmt war er mal ein imposantes Anwesen gewesen. Das zweistöckige Haupthaus wurde von großen Stallungen flankiert. In der Mitte des Hofes lag ein Brunnen, der von einer alten Linde beschattet wurde. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Menschen und Tiere die Häuser und Stallungen bevölkert hatten, die nun dunkel und leblos dalagen. Vielleicht waren in früheren Zeiten elegant gekleidete Damen auf rassigen Pferden im Morgengrauen mit ihren Begleitern zur Jagd aufgebrochen und abends mit reicher Beute zurückgekehrt. Ich stellte mir vor, wie Lachen und Musik durch den Hof klang, wenn die Jagd ihren Ausklang fand und hörte das Schnauben der Pferde, die von gut aussehenden Stallburschen abgesattelt wurden.

    Hörte?

    Da war wohl meine Fantasie mit mir durchgegangen. Außer dem Zwitschern einiger eifriger Amseln war nichts zu hören. Ich lauschte noch einmal angestrengt in das immer dunkler werdende Zwielicht aber ein Pferdeschnauben war nicht auszumachen.

    „Vielleicht hätte ich mich doch mit Kathi verabreden sollen, statt hier alleine rum zu sitzen", murmelte ich. Nun fing ich auch noch an, mit mir selber zu reden, nicht genug, dass ich nicht vorhandene Pferde schnauben hörte.

    Ich stellte meine Brote und meine Milch beiseite und griff nach meinem Handy.

    „Hier ist der Anschluss von Katharina Hempel. Leider bin ich zurzeit nicht erreichbar. Wenn du eine Nachricht für mich hast, dann sprich bitte jetzt! Piiiieep!"

    Frustriert legte ich auf. Was sollte ich für eine Nachricht hinterlassen? „Hallo Kathi, es ist Samstagabend, halb zehn, ich sitze auf meinem Balkon und höre Pferde, die nicht da sind. Da dachte ich, es ist vielleicht besser, irgendwas mit dir in diesem langweiligen Kaff zu unternehmen, als hier blöde rum zu sitzen."

    Mürrisch steckte ich mein Handy in die Hosentasche, als es plötzlich zu vibrieren begann. Ich schaute auf das Display: „Kathi ruft an", stand dort in großen Buchstaben.

    „Hi", sagte ich in den Apparat.

    „Hi Mia, ich habe das Klingeln nicht schnell genug gehört. Hier ist es tierisch laut!", hörte ich Kathis Stimme aus gewaltigem Hintergrundlärm hinaus.

    „Wo bist du denn?"

    „Wir sind im Mister X, hast du Lust, noch zu kommen?"

    Das Mister X war die hiesige Dorfdisco, die ich bisher immer erfolgreich gemieden hatte. In Hamburg hätte ich in so einen Laden keinen Fuß gesetzt. Bier und Drugs und aufgebretzelte Provinztussis. Konnte ich echt nicht brauchen.

    „Wer ist wir?", fragte ich daher misstrauisch.

    „Martin und Frank sind auch hier. Komm doch noch rüber, wenn du magst."

    Martin und Frank gingen in unsere Klasse. Die beiden waren mir noch nie besonders aufgefallen, waren aber auch nicht unsympathisch, wenn man über ihren ausgeprägten bayrischen Dialekt mal hinweg sah. Kathi kannte die beiden seit ihrer gemeinsamen Kindergartenzeit und hing ziemlich oft mit ihnen ab. Seufzend erhob ich mich von meinem Stuhl. Die Alternative, den Abend alleine im Haus zu verbringen, war auch nicht besonders reizvoll und der Weg zur Disco war nicht weit. Ich entschloss mich, mich auf mein Fahrrad zu schwingen und hinüber zu radeln.

    Wotan blickte mich erwartungsvoll an, als ich meine Jacke anzog und meinen Schlüsselbund in die Tasche gleiten ließ.

    „Du musst hier bleiben."

    Er legte den Kopf schief.

    „Nun guck nicht so. Ich kann nicht den ganzen Abend hier rum sitzen, ich muss noch ein bisschen unter Leute. Das ist ja bekanntlich nichts für dich. Mach mal ein Nickerchen, bis ich wieder da bin."

    Ich tätschelte noch kurz seinen Kopf und zog die Haustür hinter mir zu.

    Mein Fahrrad stand angelehnt neben der Gartenpforte. Ich schob es hindurch und schwang mich auf den Sattel. Inzwischen war es völlig dunkel geworden und der schmale Pfad, der von unserem Haus bis zur Hauptstraße führte, war nicht beleuchtet. Ich schaltete das Fahrradlicht ein. Es brannte nicht. Verflixt, ich hatte vergessen, dass ich die Birne in der Vorderlampe wechseln wollte. Vorsichtig und langsam setzte ich mich in Bewegung, um auf dem holperigen Weg nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit Mühe erreichte ich die Hauptstraße und bog rechts auf den Radweg ab. Hier gab es eine anständige Straßenbeleuchtung und ich trat kräftig in die Pedale. Ein bisschen komisch war es schon, so spät abends alleine neben der Landstraße zu fahren.

    In wenigen Minuten erreichte ich das Mister X.

    Es war so voll, wie die Stimmkulisse am Telefon hatte vermuten lassen. Ich schob mich durch das Gedränge zwischen angetrunkenen und schwitzenden Menschen hindurch, bis ich Kathi sah, die sich anmutig auf der Tanzfläche bewegte. Ich beneidete sie um diese Grazie, die mir leider völlig ab ging. Elfengleich wiegte sie sich zum Takt der Musik. Mein Tanzstil war eher der eines Tanzbären; wenn man überhaupt einen Vergleich wagen wollte. Vor ihr gab Frank sein Bestes; wirkte aber mit seinen unbeholfenen Verrenkungen bestenfalls unfreiwillig komisch.

    Ich blickte mich um und suchte nach Martin. Er saß nicht weit von der Tanzfläche entfernt an einem kleinen runden Tisch und hielt ein Glas Bier in der Hand. Er hatte mich bereits gesehen und gestikulierte wild zu mir herüber.

    „Schön, dass du noch gekommen bist", begrüßte er mich brüllend, als ich mich zu ihm durchgedrängelt hatte.

    „Hier ist heute Abend der Teufel los", fügte er noch in der gleichen Lautstärke hinzu und verstummte dann. Ich setzte mich neben ihn und versuchte erst gar nicht, gegen den Lärm anzuschreien. Also saßen wir schweigend nebeneinander und betrachteten die Gestalten auf der Tanzfläche.

    Martin leerte sein Glas und brüllte mir plötzlich unvermittelt mit maximaler Lautstärke ins Ohr: „Magst ein Bier?"

    „Lieber eine Cola", schrie ich ohne Umschweife zurück. Meine Stimme schien mir nicht gewachsen für den Austausch von Höflichkeiten. Martin erhob sich und schritt Richtung Theke. Ich blickte ihm nach, wie er im Getümmel verschwand und ließ meinen Blick wieder Richtung Tanzfläche schweifen.

    Die beiden anderen waren nicht mehr zu sehen. Während ich die Tanzfläche systematisch mit den Augen nach ihnen absuchte, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und blickte erschrocken auf. Kathi stand neben mir und lachte mich an. Ich hatte ihr Kommen nicht bemerkt. Sie bewegte die Lippen und ich versuchte, mein Ohr so nah wie möglich an ihren Mund zu bringen.

    „Hey, Mia, ich hab dich gar nicht kommen sehen. Bist du schon lange da?", konnte ich mit Mühe verstehen.

    „Ich sitze hier schon eine Weile", brüllte ich zurück.

    „Allein?", glaubte ich zu hören und versuchte mit wilden Handzeichen Kathi klar zu machen, dass Martin auf dem Weg zur Bar war und vermutlich gleich zurückkehren würde.

    Kathi und Frank setzten sich zu mir an den Tisch.

    „Wie kommt es, dass du hier heute Abend noch aufschlägst?, schrie Kathi mir zu. „Meine Eltern sind heute Morgen abgereist und mein Kindermädchen ist noch nicht da. War mir zu einsam zuhause, brüllte ich zurück.

    „Wo sind sie denn hin, deine Eltern?", wollte Frank wissen.

    „In die Antarktis", erwiderte ich so laut ich konnte. Frank sah mich an, als ob er mich nicht richtig verstanden hätte. Er schüttelte den Kopf und sagte laut:

    „Was? Wo sind sie hin? Ich habe Antarktis verstanden."

    „Ant-ark-tis brüllte ich noch einmal. Frank sah Kathi ungläubig an, doch diese nickte und schrie: „Verrückt was, die reisen ans Ende der Welt und lassen Mia hier allein zurück.

    Irgendwie kam es mir plötzlich selber unwirklich vor und ich bemerkte, dass ich es den ganzen Tag über vermieden hatte, über die Unwiderruflichkeit dieser Entscheidung nachzudenken.

    Gerade als ich mir ausmalte, dass meine Eltern in diesem Moment wahrscheinlich schlappe zehntausend Kilometer von mir entfernt dabei waren ihre Fellhandschuhe rauszukramen, kam Martin zurück und hielt in der einen Hand ein großes Bier, in der anderen eine Cola. Entschlossen nahm ich das Bier und trank einen großen Schluck. Martin blickte irritiert. „Ich dachte, du wolltest kein Bier!", sagte er, kippte die Cola hinunter und machte sich erneut auf den Weg zum Tresen. Der Typ war wirklich unerschütterlich. Wenig später stand er mit einem frischen Bier vor mir und prostete mir zu.

    Kathi und Frank blickten uns an und machten Zeichen, dass sie sich erneut Richtung Tanzfläche begeben wollten. Martin sah mich erwartungsvoll an und stellte sein Glas ab. Ich schüttelte abwehrend den Kopf. Das fehlte mir noch, mich hier auf der Tanzfläche zum Affen zu machen! Doch Martin ließ nicht locker. „Nun komm schon, brüllte er mir ins Ohr. „Unterhalten kannst dich hier eh’ nicht.

    Unzweifelhaft hatte er Recht. Eine Unterhaltung war nicht möglich und den Abend damit zu verbringen, sich gegenseitig anzuschweigen, war auch keine Alternative. Mit mehr als gemischten Gefühlen erhob ich mich und folgte Martin auf die Tanzfläche. Zum Glück, war es hier so voll, dass meine unrhythmischen Bewegungen sicher nicht weiter auffallen würden. Am Rand der Tanzfläche machte ich ein paar unsichere Schritte zum Takt, den ich zu hören glaubte, und dann ging das Licht aus.

    Schlagartig verstummte die Musik, und es war stockdunkel im Mister X. Spitze Schreie ertönten und die Menschen erstarrten für einen kurzen Augenblick. Reflexartig griff ich nach Martins Hand, und zog ihn mit mir von der Tanzfläche. Ich hörte, wie Bewegung in die dunkle Menschenmasse kam und versuchte, mich zu erinnern, in welcher Richtung der Ausgang lag. Doch ich hatte die Orientierung verloren.

    „Wo geht es raus?, fragte ich Martin. „Hier entlang, antwortete er und begann, uns durchs Dunkle zwischen den anderen Körpern hindurch zu manövrieren. Ich folgte ihm im wahrsten Sinne des Wortes blind und wir tasteten uns langsam an Tischen und Theken vorbei zur Tür. Inzwischen hatte sich eine Art Menschenströmung gebildet, die dieselbe Richtung einschlug, so dass wir nach einer Ewigkeit, die wahrscheinlich nur einige Minuten dauerte, einen frischen Windhauch aus der geöffneten Tür spürten, der uns schließlich ins Freie geleitete.

    Martin ließ meine Hand los und wir atmeten erleichtert auf. Doch irgendetwas war immer noch nicht richtig. Ich blickte mich irritiert um und versuchte herauszufinden, war es war. Ich schaute rüber auf die gegenüberliegende Straßenseite und sah – nichts! Das war es! Das Licht war nicht nur im Mister X ausgefallen, auch draußen war es stockdunkel. Die Straßenbeleuchtung war aus, die umliegenden Häuser lagen im Dunkeln und selbst die Ampeln zeigten kein Signal mehr. Nur der Vollmond beleuchtete die Szene und setzte uns alle in ein fahles, weißes Licht.

    Ich versuchte angestrengt, Kathi und Frank irgendwo zu entdecken. Plötzlich hörte ich eine Stimme, die meinen Namen rief. Es war Kathi.

    „Hey Kathi, wir sind hier!", antwortete ich und zog Martin in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

    „Wenn ich schon mal einen Fuß auf die Tanzfläche setze, geht gleich das Licht aus", versuchte ich einen Scherz, als wir endlich neben Kathi und Frank standen.

    „Aber warum geht das Licht in der ganzen Stadt aus, so schlecht tanzt du nun auch wieder nicht", grinste Frank mich an.

    „Was nun?", fragte Kathi.

    Ich fühlte mich mit einem Mal schrecklich müde. „Ich mache mich auf den Heimweg", erklärte ich. Die drei sahen mich an.

    „Im Dunkeln?, fragten sie mich wie aus einem Munde. „Es war ja auch dunkel, als ich hergekommen bin. Ich schaltete die Taschenlampe meines Smartphones an und suchte in ihrem Lichtkegel nach meinem Fahrrad. Im trüben Licht entdeckte ich es dort, wo ich es abgestellt hatte.

    „Wollt ihr etwa hier warten, bis das Licht wieder angeht? Wer weiß, wie lange das dauert. Ich wandte mich meinem Fahrrad zu und holte es aus dem Ständer. Schiebend näherte ich mich wieder den dreien. „Dein Licht brennt nicht, bemerkte Kathi. Stimmt, daran hatte ich nicht mehr gedacht. Das Mondlicht war zwar ungewöhnlich hell an diesem Abend, aber ich war mir nicht sicher, ob es ausreichen würde, um den Weg nach Hause zu finden.

    „Ohne Licht kannst du nicht alleine fahren. Ich begleite dich", schlug Martin zu meiner Überraschung vor. So ritterlich hatte ich ihn nicht eingeschätzt. Aber unter diesen Umständen nahm ich sein Angebot, mit seinem gut beleuchteten Rad vor mir her zu fahren, gerne an.

    Gemeinsam machten wir uns auf den Weg und hatten schon bald die Ortschaft hinter uns gelassen. Ich heftete mich an Martins Rücklicht und war froh, einen leuchtenden Fixpunkt vor mir zu haben. Zwar war Martin noch nie bei uns zu Hause gewesen, aber ich war nicht überrascht, zu sehen, dass er meinen Heimweg kannte. In so einer kleinen Stadt war es wahrscheinlich schon vor meiner Ankunft bei meinen Mitschülern bekannt gewesen, wo ich wohnen würde.

    Bald erreichten wir die Abzweigung,

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