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Erkläre mir das Leben
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eBook380 Seiten5 Stunden

Erkläre mir das Leben

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Über dieses E-Book

Nach dem Umzug in ein Kaff an der Nordsee ist der achtzehnjährige Cedric ganz und gar nicht davon überzeugt, dass er eines Tages Frieden mit seinem neuen Zuhause schließen wird. Bis er an seine neue Schule kommt und ihm ein Mädchen vor die Füße fällt. Es scheint sie ein Geheimnis zu umgeben – irgendwie sogar mehrere –, was sein Interesse an ihr weckt. Er möchte sie kennenlernen, aus ihr schlau werden und vergisst dann ziemlich schnell, dass er eigentlich gar nicht hier in der niedersächsischen Kleinstadt sein möchte, sondern in Hamburg bei seiner gewohnten Clique. Auch wenn sie ihm hin und wieder zu viel wird, dazu ein Desaster dem anderen folgt, verliert er nicht den Mut und versucht, bei Kräften zu bleiben, für diejenigen, die ihn am meisten brauchen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum3. März 2020
ISBN9783750289321
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    Buchvorschau

    Erkläre mir das Leben - Katie Volckx

    ebook

    Sigmund Freud

    In dem Augenblick,

    in dem ein Mensch den Sinn

    und den Wert des Lebens bezweifelt,

    ist er krank.

    1

    Meine Eltern und ich waren gerade erst hierhergezogen.

    Wo Hierher war? Eine kleine Ortschaft, dessen Name auf keiner Landkarte verzeichnet war, befürchtete ich, aber Gerüchten zufolge irgendwo im tiefsten Norden Deutschlands lag. Bis zur Nordsee war es nur ein Katzensprung. Das war auch schon alles, was die Gegend für mich attraktiv machte. Ich mochte das Wasser. Aber ein Leben hier war für mich unvorstellbar. Ich war ein Stadtmensch.

    Dafür war das Haus, das meine Eltern sich vor einigen Wochen angeeignet hatten, eine richtige Perle. Es war ein altes Bauernhaus. Aber es war nicht so alt, dass es aufwendig saniert werden musste. Es waren nur einige Handgriffe erforderlich gewesen, um es bezugsfertig zu machen. Und natürlich war ich rundherum eingespannt worden. Zuerst war ich in den Ausstand getreten, schließlich war ich gegen den Kauf des Hauses gewesen, da das bedeutete, Hamburg hinter mir lassen zu müssen. Aber irgendwann musste ich ja nachgeben. Was hatte ich denn schon für eine Wahl?

    Letzten Endes kam mir der Einzug in das Haus ja auch zugute, denn es war gigantisch. Es hatte eine Wohnfläche von zweihundertzehn Quadratmetern und stand auf etwa zweitausend Quadratmetern Land. Allein mein Zimmer maß knapp vierzig Quadratmeter. Es lag im Obergeschoss und war verbunden mit einer Dachterrasse, die man durch ein Panoramafenster erreichte. Sogar ein eigenes Badezimmer besaß ich. Einziges Manko: ich musste alles eigenhändig sauber halten. Da ich jeden Tag einen Handschlag tat, artete es jedoch gar nicht so sehr in Arbeit aus.

    Anfänglich hatte mir die Größe des Anwesens ein echtes Rätsel aufgegeben, denn mir wollte nicht in den Kopf, was meine Eltern mit so viel Platz anfangen wollten. Später erklärten sie, es hätte sich angeboten und wäre gar nicht so viel teurer als andere, wesentlich kleinere Häuser gewesen. Außerdem hätten sie in weiser Voraussicht gehandelt und sich vorgenommen, das Obergeschoss nach meinem Auszug zu einer Ferienwohnung umzufunktionieren. Es wäre rentabel, hätte der Immobilienmakler bei der ersten Besichtigung beteuert. Na ja, das Haus lag in einem Feriengebiet, da könnte er recht haben.

    Am Ende zählte jedoch, dass meine Eltern glücklich waren. Und das waren sie. Vor allem Mama. Sie war stolz wie Oskar, insbesondere auf die große, chic eingerichtete Küche. Hier konnte sie wild und munter wüten und ihrer größten Leidenschaft – das Kochen und Backen – frönen. Endlich hatte sie auch genug Stauraum für ihr ganzes Küchenequipment, das sie über Jahrzehnte angehäuft hatte. Ihr größter Tick waren Tassen. Und besonders stolz war sie auf jene, die sie von unseren Auslandsreisen mitgebracht hatte. Früher einmal, da hatte ich versehentlich eine Tasse aus Schottland kaputt geschmissen. Doch statt mich anzuschreien und dramatisch nach Luft zu ringen, hatte sie sich an die Planung unserer nächsten Schottlandreise gemacht, um sich exakt dieselbe Tasse noch einmal besorgen zu können. Mama war eine verrückte, aber großartige Frau – ein großartiger Mensch. Papa biss sich nur an verrückt fest. Der hatte mir geraten, künftig die Finger ganz von den ihr so heiligen Tassen zu lassen, denn Schottland gehörte nicht gerade zu seinen bevorzugten Reisezielen. Er war mehr der Karibiktyp. Ein drittes Mal überlebe ich das nicht, Junge. Der klägliche Tonfall hing mir noch heute in den Ohren. Darum war ich seinem Rat gefolgt und sehr gut damit gefahren.

    Bei dieser Gelegenheit fiel mir gerade, als ich den letzten Rest des hausgemachten Schokoladenpuddings aus meinem Keramikschälchen kratzte, wieder ein, dass auch Schalen jeder Art zu ihrem Steckenpferd gehörten und jenes in meiner Hand aus Tschechien stammte. Und auch Tschechien war Papa ein Graus. Aber ich wollte mich nicht beirren lassen und legte meine Konzentration noch ein letztes Mal auf den Pudding. Der war immer wieder ein besonderer Genuss und linderte meinen seelischen Schmerz wenigstens für einen kurzen Augenblick.

    Dennoch lag in dem Scharren mit dem Löffel jede Menge Frust, den Mama vernahm und für extrem nervtötend hielt, wie sie mit einem ausgedehnten Stöhnen kundgab.

    »Ich bin ja schon fertig, Mama.« Ich stellte das Schälchen auf dem von Holzwürmern modisch zerfressenen, pinienfarbenen Buffetschrank, an dem ich lehnte, ab und ließ den Löffel geräuschvoll reinfallen.

    »Ich auch gleich, und zwar mit den Nerven.« Sie sah nicht von den Möhren auf, die sie gerade für den Eintopf zum Abendbrot auf einem dicken Holzbrett in Würfel schnitt.

    »Ich bin eben deprimiert.«

    »Dieses eine Jahr noch, Schatz. Dann hast du dein Abi in der Tasche und das gröbste Elend hinter dir. Ich meine, dir stehen danach alle Türen offen. Wirklich alle! Sei dir dessen bewusst.«

    »Bin ich, aber mir fehlt Hamburg und seine Lebendigkeit jetzt

    »Mit dem Zug sind es gerade einmal anderthalb Stunden bis dorthin. Was spricht dagegen, dein Bedarf nach Leben einmal die Woche zu decken?« Sie grübelte allem Anschein nach. »Tante Effi hat sicher keine Einwände, wenn du dich die ein oder andere Nacht bei ihr einquartierst. Und in den Ferien bleibst du einfach länger.«

    »Ja, schon ...«

    Sie unterbrach mich schroff: »Dein Kumpel Niko bringt das ja auch fertig.«

    War ja klar, dass sie mir wieder damit kommen würde. Aber nicht mit mir! »Niko ist Niko und ich bin ich.«

    »Ja, schon gut, es ist nicht korrekt, Menschen aneinander zu messen, insbesondere dann nicht, wenn man Cedric Claußen heißt.«

    Es war nicht ihre Absicht, mich zu beleidigen. Sie spielte lediglich auf meine Eigentümlichkeit an. Ich entsprach nicht dem herkömmlichen Rollenbild eines Jungen. Ich war eher ein Softie. Lächerlich romantisch und immer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Doch entgegen aller Sensibilität war ich ziemlich straight und für mein Alter relativ selbstsicher. Zum Beispiel scheute ich mich nicht davor, die Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn das bedeutete, dass ich gelegentlich aneckte oder es jemandem die Schamesröte ins Gesicht trieb. Auch mein trockener Humor wurde nicht immer positiv aufgenommen. Denn nicht jeder verstand sich darauf. Da wurde aus Spaß schon einmal Ernst.

    »Es ist ja nur, dass alles hier so übersichtlich ist. Alles steht still und löst Langeweile in mir aus.«

    »Morgen geht ja endlich wieder die Schule los.« Es freute vor allem sie, denn das bedeutete eine sturmfreie Bude für sie. Sie kostete die Zeit, die sie für sich allein hatte, in vollen Zügen aus. Weiß der Himmel, was sie trieb.

    Ich verschränkte meine Arme vor der Brust. »Wow, klar, nur darauf und auf nichts anderes habe ich die gesamten Sommerferien gewartet!«

    Sie schob sich ein Stück Möhre genüsslich in den Mund. Sie kaute, während sie sprach: »Sieh es doch einmal positiv: im Dorf nebendran ist noch weniger los.«

    Jetzt warf ich meine Arme in die Luft. »Yeahiii, es zerfetzt mich vor Freude, Mama.«

    »Deinen Sarkasmus kannst du dir in deinen Piep stecken, Freundchen.«

    »Und du hol mal den Stock aus deinem Piep, Mama! Sag doch einfach Arsch. Jeder sagt heutzutage Arsch. Total legitim. Po? Sagt niemand mehr. So, wie niemand mehr Penis sagt, sondern Schwanz. Punkt!«

    Mit schockierter Miene sah sie mich an. »Also bitte, Sohn! Wie redest du?« Es amüsierte mich, dass sie mit dem Schneiden der Möhren nicht aufgehört hatte, was mir wieder eindrucksvoll vor Augen führte, dass sie eine begnadete Köchin war und ihre Arbeit nach Jahrzehnten ihres Hausfrauendaseins blind beherrschte.

    »Ich bin keine sechs mehr, Mama. Ich bin erwachsen.«

    »Na ja ...«

    »Mama! Unterlass das. Laut Gesetz bin ich das.«

    »Das einzige Gesetz, das dich zu interessieren hat, heißt Mama und Papa. Merk dir das.«

    »Ich bin volljährig, Mama, bin sogar schon sexuell aktiv.«

    »Oha, erinnere mich bloß nicht daran.«

    Sie wies zu jeder sich bietenden Gelegenheit kummervoll, aber gern darauf hin, dass sie nur knapp einer Herzschrittmacher-Implantation entkommen war, als die Periode meiner Exfreundin für zwei oder drei Wochen ausgeblieben war. (Nur so nebenbei: es hatte sich um eine banale Zyklusstörung gehandelt – aufgrund einer raschen Gewichtsreduktion. Mit anderen Worten: Sie war auf einer Crash-Diät gewesen, die sie nicht einmal nötig gehabt hatte. Aber was wusste ich Volltrottel denn schon? Du hast keine Ahnung von so was, hatte sie behauptet. Ich weiß zumindest so viel, dass ich nicht auf Hungerhaken stehe, hatte ich daraufhin deutlich gemacht. Meine unerhörte Einstellung zu den Themen Diät und Frauen hatte dann auch das Ende unserer Beziehung eingeläutet.)

    »Mensch Mama, wir haben immer verhütet. Doppelt und dreifach. Oder meinst du, Luisa und ich hätten mit fünfzehn nichts Besseres zu tun gehabt, als Kinder zu hüten? Wir sind doch praktisch selbst noch Kinder gewesen.«

    Luisa. Der Klang ihres Namens war so unfassbar feminin und von Optimismus erfüllt, dass er mir jeden verflixten Tag ein glückliches Gesicht beschert hatte. Ich hatte mir nicht einmal einen Kosenamen für sie ausgedacht, denn ich hatte viel zu viel Gefallen daran, ihren richtigen Namen auszusprechen. 

    »Nun, der Jugend von heute ist einfach nicht zu trauen.«

    »Folglich zweifelst du an deinen eigenen Erziehungsmaßnahmen?«, zog ich sie auf und lachte.

    Sie grinste nur.

    Ich wusste genau, was das hieß. Sie ärgerte sich darüber, dass es inzwischen schwieriger geworden war, gegen mich anzukommen. Ich war redegewandt und alles andere als geistig beschränkt. Aber ich wusste auch, dass sie genau das an mir mochte, hauptsächlich, weil ich ganz nach ihr geraten war.

    Ich ging zu ihr an die moderne Kochinsel, legte meinen Arm locker um ihre Schulter und guckte ihr beim Schneiden der Möhren zu. Ich überragte sie um Kopflänge, so war es ein Leichtes, ihr einen Kuss auf ihr dünnes angegrautes Oberhaar zu drücken. »Du hast deine Sache gut gemacht, so oder so, Mama.«

    Mit hochgezogener Augenbraue sah sie zu mir auf. »Sag mal, könntest du bitte aufhören, ständig Mama zu sagen? Da bekommt man ja Ohrensausen.«

    Ich lachte: »Dein Wille geschehe, Annegret«, zuckte ich mit den Achseln, stibitzte ein Stück Möhre, das ich fix verdrückte, bevor sie es mir aus der Hand schlagen konnte, und verließ die Küche.

    »Du weißt ganz genau, wie ich das gemeint habe«, rief sie mir hinterher.

    So verliefen Unterhaltungen zwischen meinen Eltern und mir in der Regel immer. Ein wenig von allem – Witz, Charme, Spaß, Ernst, Ärger, Strenge. Die gute Mischung sorgte dafür, dass uns nie langweilig wurde und es zu keinen großen Dramen kam, sogar dann nicht, wenn es angebracht wäre. Daher ließ es sich auch hervorragend mit ihnen aushalten. Auch jetzt noch, wo ich eben volljährig war. Aber was nützte mir meine Volljährigkeit, wenn ich noch die Schulbank drückte?

    Natürlich ging der Umzug in das Kuhkaff auch mit einem Schulwechsel einher. Und das für ein einziges Jahr. Leuchtete somit ein, dass meine Stimmung im Keller war. Ich hasste es, aus meinen Gewohnheiten herausgerissen zu werden. Ich hatte nichts gegen Veränderungen. Aber ich wollte dafür bereit sein und nicht so arglistig überrumpelt werden, wie mit dem Umzug. Plötzlich hatte es geheißen: »Junge, wir haben ein Haus gekauft.«

    Schon klar, in einem fortgeschrittenen Alter, in dem sich auch meine Eltern mittlerweile befanden, träumte man von einem Haus im stillen Grünen, fern von allem Rummel. Aber hätten sie mit dem Kauf des Hauses nicht wenigstens warten können, bis ich finanziell auf eigenen Beinen stand und allein überlebensfähig war? Stattdessen bekam ich auf den letzten Metern noch einmal zu spüren, wie viel mich die Abhängigkeit kostete – wie viel ich von mir selbst aufgeben musste.

    Mein einziger Lichtblick war mein langjähriger Kumpel Niko. Er war ebenfalls achtzehn. Allerdings hatte er diese Prozedur schon einige Jahre vor mir über sich ergehen lassen müssen. Seine Eltern und meine Eltern waren best buddies. Es war also nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich meine Eltern von ihnen überzeugen ließen, sich ausgerechnet hier niederzulassen. Aber Niko versicherte mir auf Ehre und Gewissen, dass es sich hier gar nicht so übel lebte. Angeblich gewöhne man sich daran und würde es über kurz oder lang gar nicht mehr anders haben wollen.

    Tja, da konnte ich nichts mehr tun, als mich überraschen zu lassen.

    Am nächsten Morgen kostete mich der Gang zur Schule große Überwindung. Niko an meiner Seite sorgte dafür, dass ich nicht kniff und wieder nach Hause ging, um mich unter meine Bettdecke zu verkriechen. Natürlich musste ich nicht beruhigt werden – ich war ja nicht nervös. Ich war nur frustriert und demotiviert, hatte auf diese Art Veränderung einfach keine Lust.

    Wenigstens war das Wetter auf meiner Seite. Die Morgensonne legte sich über die Bereiche meiner Haut, die nicht von meinen Klamotten bedeckt waren. Immer wieder hob ich mein Gesicht an und hielt es dem wärmenden Schein entgegen. Dabei schloss ich genussvoll die Augen, nur so lange, wie ich meiner Vorausschau auf den vor mir liegenden Weg blind vertrauen konnte, und inhalierte die Luft tief.

    Ich liebte den Duft des Morgens, besonders im Sommer, wenn die Sonnenstrahlen den Boden unseres Planeten berührte und den Asphalt erwärmten. Aber eines fiel mir auf: Hier auf dem Dorf, umgeben von reichlich Natur und in der Nähe von Wasser, war die Luft klarer und gesünder. Nichtsdestotrotz lag etwas darin, was mich in meine Kindheit zurückversetzte. In Mamas Arme. Es erinnerte mich schmerzlich an ein Zuhause, das ich wohl nie wieder so erleben würde, wie ich es als Kind erlebt hatte. Es war nicht deshalb schmerzlich, weil sich an meinem Leben so drastisch viel verändert hatte (bis auf den jetzigen Umzug), sondern weil mir die Fähigkeit, die Welt durch Kinderaugen zu sehen, abhanden gekommen war.

    Ich war nicht wie viele Kinder gewesen, wollte eigentlich nie erwachsen werden – jedenfalls nicht unbedingt –, weil ich eine schöne Kindheit gehabt hatte. Ich habe nicht so sehr an Unabhängigkeit gedacht wie heute, weil es keine Rolle gespielt hatte. Ich war nur ein Kind. Mein Tag bestand in erster Linie aus Spaß und Abenteuern. Lästigen Pflichten wie Hausaufgaben für die Schule oder ein paar Hilfsarbeiten im Haushalt brachte ich einfach schleunigst hinter mich. Erst als mir im Alter von dreizehn oder vierzehn bewusst geworden war, welche Möglichkeiten mir offen standen, sobald ich auf mich selbst gestellt wäre, ließ den Wunsch in mir entstehen, dem Jungendalter endlich zu entwachsen.

    Niko, der mir die zwanzigminütige Strecke zur Schule von seinem zweiwöchigen Ägypten-Urlaub mit seinen Eltern berichtete, riss mich lautstark aus meinen Gedanken: »Na, du bist mir ja ein toller Kollege!«

    »Was, wie, wo?«

    »Ich habe dir eine Frage gestellt. Aber wie ich sehe, bist du völlig geistesabwesend. Hast du überhaupt irgendetwas von dem, was ich gerade erzählt habe, mitgekriegt?«

    »Na, du warst in Ägypten.«

    »Super, dann bist du ja vollumfänglich aufgeklärt!«

    »Ich stehe einfach neben mir.« Das war eine lahme Ausrede, das wusste ich selbst. Niko war einer meiner besten Kumpels, also sollte mich interessieren, was er von sich gab, und wäre es auch der größte Stuss.

    »Alter, komm mal klar«, stauchte er mich zusammen, »es ist ja nicht so, als wärt ihr nach Australien ausgewandert.«

    »Ist ja gut, hast ja recht.« Ich fügte mich meinem Schicksal. Musste ich, denn wir hatten soeben die Schule erreicht.

    »Sieht kleinbürgerlich aus«, kommentierte ich oberschlau. Der Schulhof war gut zu überblicken. Das Schulgebäude bestand hauptsächlich aus roten Ziegelsteinen und war insgesamt gar nicht so klein, wie ich es erwartet hatte.

    »Nun, so, wie der Rest des Dorfes.« Niko hob die Hand zum Gruß, als ihm drei seiner wichtigsten Freunde entgegenkamen. »Das ist Cedric. Ich habe euch ja von ihm erzählt.«

    Jeder von ihnen hieß mich mit einem offenen Lächeln und einem »Na!« willkommen.

    Dominic war ein lustiger Typ. Das sah man ihm schon auf den ersten Blick an. Er war ein abgebrochener Meter, aber das hielt ihn nicht davon ab, selbstsicher aufzutreten. Er sah sportlich aus. Das Fitnessstudio verhalf ihm ganz offenbar zu dieser Selbstsicherheit.

    Steve war auf meiner Höhe und wirkte eher ruhig und ausgeglichen. Er kaute Kaugummi und starrte die meiste Zeit gebannt auf sein Handy. Trotzdem war er aufmerksam. Seine Art erinnerte irgendwie an ein Erdmännchen.

    Yun war ein quirliger Koreaner, der in Deutschland geboren worden war. Es schien, als käme er bei den Mädchen gut an, denn jedes zweite, das an uns vorbeilief, warf ihm einen verlegenen Blick zu. Und sobald sie ihn grüßten, folgte ein scheues Kichern, die Hand dabei auf den Mund gepresst.

    »Ich will Cedric eben herumführen«, erklärte Niko. »Wir sehen uns.«

    »Das wichtigste kennst du schon«, richtete sich Dominic an mich.

    »Den Schulhof«, ging Yun auf Nummer sicher, dass ich Dominics Wortspiel auch schnallte. Er verlieh seiner Botschaft mit dem Zeigefinger Nachdruck, der auf der Höhe seiner Schläfe schnelle Kreise zog.

    Ich lachte, da sie eine derartige Antwort von mir erwarteten. Alles andere hätten sie nicht gelten lassen. Und warum sollte ich mir schon zu Beginn ihre Ungnade zuziehen?

    Mit den Händen stieß Niko mich kräftig in die Richtung des Schulgebäudes, um mich zum Gehen zu bewegen. Er hatte seine Kraft ein wenig unterschätzt, denn die Wucht drohte mich zu Fall zu bringen. Allerdings konnte ich mich ausgezeichnet auf mein Gleichgewichtsorgan verlassen und blieb gerade so auf den Beinen.

    Andererseits hatte ich das Mädchen auf dem Fahrrad hinter mir nicht kommen sehen, das wegen meines plötzlichen Seitenschritts ausweichen musste, den Halt verlor und hell schreiend auf den harten Boden klatschte. Ihr Fahrrad hatte bei dem Aufprall laut gescheppert und das Hinterrad drehte sich noch bemerkenswert lange.

    Eine gefühlte Ewigkeit war es totenstill um uns, bis auf ein paar Vögel, die wild und aufgeregt zwitscherten. Wenn mich nicht alles täuschte, lachten sie sich gerade krumm und schief auf ihren Ästen. In sicherer Entfernung hätte ich das wohl auch getan. Aber momentan war ich nur zur Salzsäule erstarrt.

    Die meisten, die sich nach dem bedauerlichen Unfall noch auf dem Schulhof befanden, drehten sich ab, um ihr Lachen zu verstecken. Auch Niko standen Tränen der Belustigung in den Augen.

    »Ver-fluch-te Scheiße«, kreischte das Mädchen den Boden an, meinte aber mich. Ich hatte nur das vorübergehende Glück, dass ihr Gesicht gewissermaßen auf dem Pflaster klebte. Ihre Frisur war auch hinüber. Zwar hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wie ihre langen Haare davor gelegen hatten, aber zurzeit waren sie vollkommen chaotisch aufgewirbelt und hingen zu einem Teil auf dem verdreckten Boden. Höchstwahrscheinlich war das nicht die Ursprungsfrisur! »Hast du denn keine Augen im Kopf?«

    »Äh, hinten nicht, nein«, machte ich klar. »Und anatomisch gesehen wäre das auch nicht besonders ästhetisch.«

    Mithilfe ihrer Arme stemmte sie sich nur schwerfällig hoch, kam jedoch nicht weit. Denn der untere Teil ihres Körpers war vom Fahrrad begraben worden. Damit nicht genug: ihre Beine hatten sich irgendwie darin verknotet und sie hing somit fest.

    »Kann mir vielleicht mal jemand helfen?« 

    Ich trat einen Schritt an sie heran. »Sehr ungern, wenn du so rumzickst.« Ich beugte mich vor und umfasste einen Griff vom Lenkgrad.

    »Nicht du, du Blödmann«, motzte sie.

    Umgehend ließ ich das Fahrrad wieder los, erhob die Hände und ging zwei Schritte zurück. »Mit Vergnügen.«

    »Niko? Würdest du bitte ...«, ermahnte sie meinen Kumpel mit zitternder Stimme und den Tränen nah.

    Der hatte seine Konzentration so sehr darauf gelegt, nicht in lautes, rücksichtsloses Lachen auszubrechen, dass er seine Manieren komplett vergessen hatte und ihr erst nach ihrer Aufforderung zu Hilfe eilte. Wenn er allerdings das Grinsen nicht aus seinem Gesicht bekäme, bevor das Mädchen wieder den Überblick über die Gesamtlage hatte, müsste er sich wohl warm anziehen.

    Als sie endlich wieder senkrecht stand, atmete ich erleichtert auf. Das bedeutete nämlich, dass sie sich keine größeren Verletzungen zugezogen hatte und ich noch einmal glimpflich davonkommen würde. Obwohl ich ja der festen Überzeugung war, dass mich keine Schuld traf. Jedenfalls nicht direkt.

    Schier endlos richtete sie ihr kupferblondes Haar und klopfte sich einige Schmutzpartikel von der Kleidung. Am linken Knie sickerte Blut durch ihre elastische graue Yoga-Leggings. Das schien sie gar nicht zu jucken. Oder sie registrierte es schlichtweg nicht. Könnte sein, dass der Schock tief saß und ihr erhöhter Adrenalinspiegel die Schmerzwahrnehmung auch jetzt noch, wo sie sich wieder aufgerappelt hatte, einschränkte.

    »Wer bist du Penner überhaupt?«, richtete sie ihr Augenmerk nun auf mich. Ihr strafender Blick bohrte sich tief in meine Augen.

    »Ich bin Cedric Claußen. Und wer bist du, dass du so mit mir redest?« Beschimpfungen kränkten mich nicht. Nie! Es waren nur Worte, dessen Nutzen darin bestand, Personen gezielt zu diskriminieren. Aber zuletzt waren es Worte ohne anspruchsvollen Hintergrund, sagten nichts über mich aus, nur über die Person, die sich an ihnen bediente.

    »Ich bin Winter«, näselte sie und streckte ihr Kinn weit nach oben. Das bedeutete, dass sie nicht nur kackfrech war, sondern noch dazu hochgradig eingebildet.

    »Oh, Eure Majestät, entschuldigt! – Was ist das denn für ein bekloppter Name?«, holte ich sie von ihrem hohen Ross runter, denn ich erkannte sofort, dass sie Gegenwind nicht gewohnt war.

    »Warte nur, wenn du ihren Familiennamen erfährst«, flüsterte mir Niko hinter vorgehaltener Hand ins Ohr. »Du wirst dich bepissen vor Lachen.«

    »Lass hören«, forderte ich.

    »Sommer«, antwortete sie höchstpersönlich, denn sie hatte keinen Grund, sich zu schämen. »Winter Sommer lautet mein vollständiger Name.«

    Ich bepisste mich nicht vor Lachen, dafür verzog ich irritiert das Gesicht. »Wie schräg ist das denn? Was stimmt nicht mit deinen Eltern?«

    Schmollend schürzte sie die Lippen. Es war nicht verwunderlich, denn auf meine Eltern würde ich auch nichts kommen lassen. »Sie sind lediglich originell. Immer noch besser als Cedric Claußen. – Gääähn!«

    »Na ja, ist halt ein Name. Ist nichts Falsches dran.« Gelangweilt von ihrem einfallslosen Gegenschlag hob ich die Schultern.

    »So, wie an meinem Name nichts Falsches dran ist!« Die Art, wie sie das klarstellte, ließ vermuten, dass sie gleich darauf mit einem Bein wütend auf den Boden aufstampfen würde, aber diese Blamage ersparte sie sich dann doch.

    »Hallo?« Auf die Gefahr hin, dass sie mir eine scheuern würde, klopfte ich an ihre Stirn. »Du heißt wie Jahreszeiten.«

    »Na und?«

    »Winter: Lass ich gelten! Sommer: Lass ich auch noch gelten! Aber Winter Sommer? Das ist hirnverbrannt und gehört verboten.«

    »Totaler Quatsch! Aus dir spricht ja bloß der Neid!«, zeterte sie nun, meiner Meinung nach ziemlich fade und unreif.

    »Ja klar, natürlich, ich wollte schon immer wie Jahreszeiten heißen. Herbst Frühling wäre ja noch zu vergeben.«

    Und ich führte mich nicht unreif auf? War ich nicht derjenige gewesen, der diesen irrsinnigen Disput erst angestimmt hatte? Und nun ließ ich mich auch noch weiter und weiter darauf ein und versäumte glatt, rechtzeitig aus dem Club der Vollpfosten auszusteigen. Außerdem hielt ich es nicht gerade für das Schlauste, mir schon am ersten Tag in den ersten Minuten in der neuen Schule Feinde zu machen. Ob ich auf Menschen wie Winter Sommer angewiesen war, wagte ich zu bezweifeln, Fakt war aber, dass ich nicht den Obercoolen heraushängen lassen sollte. Denn ich war nicht obercool. Und ich plante auch nicht, es demnächst zu werden.

    »Übrigens heißt mein Opa August Freitag«, warf Niko ein.

    Unverwandt starrte ich ihn mit tellergroßen Augen an. Ich wusste, dass Nikos Familienname Freitag war, hielt es trotzdem für einen Scherz.

    »Ernsthaft!«, schwor er Stein und Bein.

    »Na gut, dann sind wir mittlerweile bei Monaten und Wochentagen angekommen.« Erschüttert klatschte ich mir an die Stirn. Nicht, weil es absurd war, den Namen eines Monats oder eines Wochentags oder sogar einer Jahreszeit zu tragen, sondern weil die gesamte Unterhaltung unnötig ausgeufert war.

    Ohne weitere Worte flüchtete ich mich ins Schulgebäude, wohin mir Niko folgte. Schließlich hatte er mir ja versprochen, mich noch etwas herumzuführen, bevor der Unterricht beginnen würde. Das war auch erforderlich gewesen, wie sich später herausstellte. Von meinem schlechten Orientierungssinn einmal abgesehen, war es ziemlich groß und verwinkelt. Mir war, als hätte man mich wie einen grenzdebilen Hamster für Versuchszwecke in einem Irrgarten ausgesetzt. Am Ende konnte ich froh sein, dass ich das Jungenklo wiedergefunden hatte.

    2

    Inzwischen fand ich mich in der Schule nicht nur gut zurecht, sondern hatte mich dort (nicht im Kaff) gut eingelebt. Zweites war auch nicht schwierig. Von der Sohle bis zum Scheitel waren alle miteinander Spießbürger. Lehrer, Schüler, ja sogar der Hausmeister trieften vor höfliches, gesittetes Benehmen. Höflichkeit wurde hier nämlich großgeschrieben. Meistens jedenfalls. Da hatte ich grundsätzlich nichts gegen. Aber der Großteil wirkte eher wie abgerichtete Äffchen und überhaupt nicht echt. Gemessen an meiner alten Schule in Hamburg war diese Pipifax. Der Unterschied war wirklich enorm.

    Meine Freizeit verbrachte ich hauptsächlich mit Niko und den anderen Jungs am Strand der Nordsee. Dort faulenzten wir, ließen uns von der Sonne allseitig rösten, suchten Abkühlung im Wasser und flirteten mit den hübschen, knackigen Mädchen. Niko und ich taten Letztes nicht so sehr wie Yun, Steve (wenn er sich dann einmal von seinem Handy loseisen konnte) und Dominic. Niko war in festen Händen. Ihr Name war Jule, und sie hätte auf alle Fälle etwas dagegen. Ihre Eifersucht auf die gut gebauten Mädchen, die oft bewusst mit ihren Reizen nicht geizten und auch spielten, war der Grund, aus dem er in der Sommerzeit stets ohne sie an den Strand ging. Und was mich anging, so hatte ich ganz einfach kein Interesse an oberflächliche Bekanntschaften, erst recht dann nicht, wenn diese sich entblößt vor mir räkelten, schon bevor ich sie überhaupt kennengelernt hatte. Den ein oder anderen verstohlenen Blick riskierte ich natürlich schon einmal. Aber viel mehr stimulierte mich der anhaltende Duft des Meeres in der Nase, der warme Sand unter meinen nackten Füßen und der Blick auf die zahlreichen bunten Strandkörbe. An dieser Stelle geriet mein Heimweh für eine Weile in Vergessenheit, denn an dieser Stelle kam ich mir vor wie im Urlaub. Es war noch nicht hundertprozentig zu mir durchgedrungen, dass ich diesen Ort nun mein Zuhause nennen konnte.

    Außerdem gab es im Zentrum ein nettes Café. Es war ein modernes Cafè, beeindruckte besonders durch seinen Lounge-Charakter. Vermutlich wollten die Betreiber damit gezielt uns, die jüngere Generation des Dorfes, ansprechen. Es gab sogar ein Hinterzimmer, in dem Billardtische standen und die Musikcharts rauf und runter gespielt wurden, was die Teenager auch zu Abenden und Wochenenden herlocken sollte. Mich persönlich führte es jedoch nur nach der Schule regelmäßig dorthin, nicht zuletzt, weil es auf meinem Weg nach Hause lag. Und ich musste gestehen, dass ich mich dort auch sehr wohlfühlte, speziell wegen des Großstadtflairs. Es war nur eine Idee von einem echten Großstadtcafè entfernt.

    Nachdem ich nahezu die gesamten Sommerferien mit Renovieren, Putzen und Einrichten unseres Hauses verbracht hatte und mir keinerlei Zeit für derartige Aktivitäten geblieben war, ich nicht einmal die Gegend hatte genauer erkunden können, war mir das nun neidlos gegönnt, fand ich.

    Nebenbei bemerkt war ich Winter Sommer seit dem Zwischenfall nicht mehr begegnet. Genau genommen war sie wie vom Erdboden verschluckt. Seit dem zweiten Schultag schon. Zwar war sie mir egal, könnte man sagen, aber sie glänzte und fiel schon auf. Eben nicht nur, wenn sie anwesend war, auch wenn sie es nicht war.

    Heute nach Schulschluss war ich mit einer Raumpflegerin namens Ann auf dem Jungenklo ins Gespräch gekommen. Sie war ganz okay. Eigentlich sogar ein Pfundsweib, wie mir zunehmend klar wurde. Ich glaube, sie war nicht sehr viel älter als ich. Sieben Jahre vielleicht. Sie klärte mich ein wenig über die allgemeinen Verhältnisse auf.

    »Niemand ist hier sonderlich furchteinflößend. Keine großen Skandale. Nur vor diesem Harro musst du dich etwas vorsehen. Er ist sehr manipulativ. Droht jeder Nase, die ihm nicht passt, mit seinem Papi. Der ist nämlich Anwalt. Wenn du Harro also nur eine Spur zu nahe trittst, bist du geliefert.« Ann führte mit ihrem Mopp ein paar kampfsportähnliche Bewegungen vor meinem Gesicht aus – etwa wie beim Bo Jutsu –, um auf spöttische Weise einen erbitterten Kampf gegen die Familie Woltering (Harros Familienname) zu illustrieren, und schüttete sich aus vor Lachen.

    »Wie sieht dieser Harro aus?« Ich wollte vorbereitet sein.

    »So ein langer Lulatsch. Blondes mittellanges Haar in so einem modernen Wuschellook. Recht bubenhaftes Gesicht, aber verboten gut aussehend. Hat ein Faible für College-Jacken. Er muss Hunderte davon besitzen.«

    Aus der Ferne hatte ich ihn schon gesehen, umringt von lauter Arschkriechern, die er zu Leibeigenen befördert hatte. Steile Karriere!

    »Ich habe

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