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Der Elefantenbäcker
Der Elefantenbäcker
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eBook258 Seiten4 Stunden

Der Elefantenbäcker

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Über dieses E-Book

Als Vater blickt Johnny auf seine eigene Kindheit zurück, die im Sommer 1985 ein abruptes Ende nimmt. In diesem Sommer verlässt sein alkoholabhängiger und zunehmend gewalttätiger Vater die Familie, worauf sich er und sein älterer Bruder Johan immer fremder werden. Während Johnny noch versucht, die auseinanderbrechende Familie zusammenzuhalten und den Schein der heilen Welt zu wahren, steigen diffuse Ängste in ihm auf, die er niemandem anvertrauen kann und die fortan sein Leben bestimmen.

Mehr als 20 Jahre später hat Johnny selbst mit Alkoholsucht und Beziehungsproblemen zu kämpfen. Widerwillig reist er auf die Bitte seines Bruders, der in die Vorstadtsiedlung ihrer Kindheit zurückgezogen ist, nach Dänemark. Mit einer entscheidenden Handlung versuchen die beiden Brüder, sich der Vergangenheit zu stellen, die ihr Leben bis in die Gegenwart prägt.

Arne Nielsen gelingt mit "Der Elefantenbäcker" ein subtiles Romandebüt, das durch eine präzise Sprache, greifbare Charaktere und eine starke Sogwirkung lange nachhallt.
SpracheDeutsch
HerausgeberSalis Verlag
Erscheinungsdatum30. Aug. 2013
ISBN9783905801934
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    Buchvorschau

    Der Elefantenbäcker - Arne Nielsen

    Impressum

    Ein Tag im Sommer 1985, um die Mittagszeit

    Vielleicht wünsche ich mir auch nur, dass es so und nicht anders gewesen sein könnte. Ich sehe mich am Fenster stehen. Am Ende der Wiese eine kleine Baumgruppe und darüber ein blassblauer Sommerhimmel. Meine Sehnsucht, so stark wie nie zuvor, nach der Gleichgültigkeit dieser Materie. Noch keine Ordnung in mir, aber ein tröstlicher Gedanke: nur noch ein simples Tier sein, eng an den weichen Boden gepresst, allein auf dem Weg ins Dunkel des Wassers. Keine Auffassung mehr von Raum und Zeit. Keine Angst mehr.

    April 2000

    Trotz des großen Ereignisses, die Geburt war bestens verlaufen, hatte ich es zu meiner Enttäuschung nicht geschafft, die leichte Euphorie des Frühlingsbeginns in mir aufkommen zu lassen.

    Ich war dabei, die Wohnung sauber zu machen, als es passierte. Da bin ich mir sicher. Ich hatte geplant, dass für ihre Ankunft alles blitzblank sein sollte. Die Kraft eines plötzlichen Aufbegehrens und die Empfindung, außer mir zu sein, waren nach vielen Jahren wieder da. Sofort verlangsamte ich meine Arbeit, versuchte, meine Bewegungen in ihre Einzelheiten zu zerlegen, um die Kontrolle nicht zu verlieren, achtete auf die Körperlichkeit der Dinge in meiner Nähe, um der vertrauten Behäbigkeit dieses Gefühls zu entfliehen.

    Wie ich es bis zur Raststätte geschafft habe, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich an das Verlassen der Wohnung und die Fahrt dorthin nicht erinnern. Es war mitten am Tag, ich erinnere mich an viel Helligkeit, einen hohen blauen Himmel. Ein reges Treiben füllte den Parkplatz vor der Cafeteria. All dem haftete nichts Irdisches an. Im Auto aber war es still. Ich hatte die Fenster hochgekurbelt und die Türen von innen verriegelt, saß da, beobachtete meine Hände auf dem Lenkrad genau und drückte meine Fußsohlen abwechselnd neben den Pedalen in den Boden meines Autos.

    Bevor ich zurückfuhr, ging ich zur Tankstelle hinüber und fragte die Kassiererin, was denn auf dem Feld hinter der Raststätte wachse. Ich sah diese junge Frau an und sagte, die meisten Knospen seien noch geschlossen, beharrte, obwohl die Leute in der Schlange hinter mir unruhig wurden, auf einer Antwort.

    KAPITEL 1

    Zum Schluss haben wir ihn dann doch rausgeschmissen. Mein großer Bruder Johan, meine Mutter und ich. Bruder Johan zog ihn an den Haaren, meine Mutter und ich an je einem seiner Arme. Aus dem Wohnzimmer in den Flur, durch den Flur an der Küche vorbei. Und dann war er draußen. Er schrie, dass er die Tür eintreten werde. Wir hatten aber einen starken Türrahmen, er war einfach nicht kaputt zu kriegen. Dänischer Sozialwohnungsbau vom Feinsten.

    Später am Nachmittag gingen Bruder Johan und ich in die Stadt zum Bäcker und holten uns Zimtschnecken, immer noch heiß und wund vom überstandenen Kampf. Wir kehrten zur Siedlung zurück, gingen auf das Gelände dahinter, kletterten den Hügel hoch, bis zur Stelle, wo wir über die Innenstadt blicken konnten, über das Meer bis zur schwedischen Küste. Wir schauten uns die Autos an, wir erzählten uns, welchen Wagen wir am liebsten fahren würden. Erst als es dunkel wurde und die Lichter in unserer Siedlung angingen, kletterten wir den Hügel wieder hinunter. »Halt dich an mich«, sagte er auf dem schmalen Pfad. Den Rest des Sommers gingen wir uns aber aus dem Weg, Bruder Johan und ich. Wenn ich mit dem Bus fuhr, sah ich ihn manchmal vorne neben dem Fahrer sitzen. Es war sein Lieblingsplatz. Ich ließ ihn immer zuerst aussteigen. Manchmal fuhr ich sogar weiter bis zur nächsten Haltestelle und nahm den Umweg in Kauf.

    Im Sommer 1985 hörte etwas auf. Statt zusammenzurücken, entfernten wir uns voneinander. Von Juni bis August, als die Schule wieder anfing – eine kurze Zeit, in der jeder von uns das wurde, was er heute ist. So empfinde ich es zumindest. Heiße Tage, an denen wir aneinander vorbeigingen, weil wir uns unserer Zugehörigkeit zueinander schämten. Leere Tage, an denen sich etwas in mir verrückte und Platz für Gedanken schuf, die mich so überrumpelten, dass die Welt um mich herum, die Wände meines Zimmers, der Überzug meiner Matratze und die kleine Biegung meines Türgriffs für Sekunden, vielleicht auch Minuten, nicht mehr körperhaft existierten. Ich stand da mit dem Türgriff in der Hand und wartete, dass ich endlich spürte, dass er in der Höhle meiner Hand lag und die Dinge außerhalb von mir wieder ihre Ordnung fanden. Fürchtete den Stempel des Irrsinns. Verschlafene, träge Momente, in denen ich mich sogar nach der Klarheit seiner Schläge sehnte. Mein Bruder war jetzt der starke Mann und er schlug mich härter als jemals zuvor, sein Griff um meinen Hals war entschiedener. Ich reizte ihn. Egal was ich tat, ich reizte ihn.

    Ich bin heute Morgen zu meinem Bruder gefahren. Er rief gestern an, betrunken und aufgeregt.

    »Du musst kommen, Bruder, du bist mein Bruder.«

    »Was ist los?«, fragte ich, in der Hoffnung, er würde es mir nicht sagen.

    »Es ist was Schlimmes passiert.«

    »Ist es was mit Mutter?«

    »Komm einfach.«

    Es ist ein ganzes Stück bis zu meinem Bruder hoch. Mir ist es lieber so. Er kann mich anrufen, aber dass er bei uns auftaucht, ist eher unwahrscheinlich. Bis jetzt ist das nur einmal vorgekommen. Es war im Frühsommer nach Sofias Geburt, vor fünf Jahren. Mein Bruder war gerade in unsere alte Siedlung gezogen, nachdem er seine erste Frau Ulla verlassen hatte, und brauchte eine »Luftveränderung«, wie er es nannte. Er kam in unsere Wohnung, wo es nach Baby roch, und erzählte uns von seinem Pech im Leben. Er saß in der Küche und zeigte Fotos von unserer alten Siedlung, Fotos, die mich traurig machten und beunruhigten.

    »Unser Vater wohnt jetzt auch dort«, sagte er. »Nur einen Block weiter, wir sind beide zurückgekehrt.«

    Das war es, was mich beunruhigte, es war der Gedanke, ich könnte auch dorthin zurückkehren, der Gedanke, ich würde sogar dort hingehören. Dass etwas vom Pech meines Bruders, als er in unserer Wohnung saß, auf uns alle abfärben würde. Ich will ehrlich sein, ich war froh, als er zurückfuhr und seine Fotos und sein Pech wieder mit sich nahm.

    »Der Kreis schließt sich«, sagte er, als er ging. Zu Sofia sagte er nichts, er hatte ihr nicht einmal etwas mitgebracht. Keinen Teddy, keine Süßigkeiten. Außer den Fotos und dieser Sporttasche kam er mit leeren Händen.

    »Das macht doch nichts«, sagte meine Frau.

    »Natürlich macht das was«, sagte ich. »Er hätte Süßigkeiten mitbringen können.«

    Seitdem haben wir uns nur gesehen, wenn er Kinder gekriegt hat. Er hat die Geburt seiner Kinder immer als Anlass benutzt. Sonst hatten wir unsere Ruhe. Klar, es gab seine Anrufe, er hielt mich über den weiteren Verlauf seines Lebens informiert. »Weil du es wissen musst, weil du mein kleiner Bruder bist.«

    Einmal hatte ich sogar seinen Sohn am Telefon. »Hallo Onkel«, sagte er.

    Auf jeden Fall weiß ich Bescheid, mehr als mir lieb ist.

    Ich bin mit dem Zug gefahren. Ich habe Dana und Sofia zu Hause gelassen. »Es ist besser so, Dana«, habe ich gesagt, worauf Dana nur mit den Schultern gezuckt hat. Mehr hat sie dazu nicht zu sagen gehabt. Dana ist eine stille Frau. Dana mag es am liebsten, wenn jeder seinen Sachen nachgeht. Dana mag es am liebsten, wenn wir uns gut verstehen. Dana ist die Liebe meines Lebens. Trotzdem habe ich während der Fahrt jeder Frau hinterhergeschaut. Besonders die älteren mag ich. Ich stelle sie mir bereiter vor, trauriger und wärmer. Ich stelle mir irgendwie vor, dass ich denen etwas zu bieten habe, etwa dass ich jünger bin und schlank. Dass meine Haut im Gegenteil zu der ihren fest ist. Ich sehe mich da im Vorteil.

    Nach der Ankunft in Helsingör bin ich eine Weile durch die Straßen meiner Geburtsstadt gelaufen, habe versucht, diese Reise als etwas Gutes zu sehen, eine wohlige, selbst gewählte Reise. Ich bin zum Marktplatz gegangen und habe an einem der Stände ein Bier getrunken. Ich habe dann noch ein Bier getrunken und gespürt, wie die Angst, erkannt zu werden, langsam nachgelassen hat. Ich habe sogar nach einem bekannten Gesicht Ausschau gehalten, ich habe mir sogar vorgestellt, wie ich unserem Vater dort am Marktplatz mitten unter den Leuten selbstbewusst gegenübertrete. Er ist älter geworden, ist aber nüchtern und sauber. Eine Zeit lang habe ich nur dagestanden und die Leute verschmitzt angeschaut.

    Ich gehe zu Fuß aus der Innenstadt an meiner alten Schule vorbei. Als die Glocke klingelt, renne ich schnell auf die andere Straßenseite zum Parkplatz, stelle mich zwischen die Autos, tue so, als würde ich nach meinem Autoschlüssel suchen, und beobachte die Kinder. Ich warte, bis sie weg sind, überlege, ob ich hineingehen, mich unter die Eiche setzen soll, vielleicht ein, zwei Worte mit einem der alten Lehrer wechseln und erzählen, wie sich bei mir alles zum Besten gewendet hat. Aber dann verlässt mich der Mut. Außerdem habe ich ja Bier getrunken, sie würden es falsch verstehen.

    Es wird langsam dunkel und ich gehe nach drüben zum Türken und hole Bier und Chips für meinen Bruder und mich. Der Türke reicht mir die Tüte und sagt: »Lange nicht gesehen, Johan.«

    »Johan ist mein Bruder. Ich bin nicht mein Bruder«, sage ich.

    Vor dem Laden mache ich ein Bier auf und packe die restlichen Flaschen und die Chips in meinen Koffer. Ich überlege, den Bus zu nehmen, aber das vermutlich viel zu grelle Licht im Innern hält mich davon ab und ich gehe neben der Schnellstraße stadtauswärts, Richtung Siedlung. Die Laster aus Schweden, gerade im Hafen von Bord gefahren, rauschen dicht an mir vorbei. Die Holzbalken auf den Ladeflächen sind mit Schnee bedeckt, die Kabinen nur spärlich beleuchtet. In einer steht ein kleiner Weihnachtsbaum. Mit so einem Laster wäre ich mitgefahren.

    Bald ist Weihnachten, spätestens morgen früh werde ich zurückfahren. Dann werde ich mir Sofia schnappen und mit ihr in den Park gehen. Wenn noch Schnee liegt, nehmen wir den Schlitten mit. Sie liebt es, wenn wir den Hügel hinunterrasen, ihr kann es gar nicht schnell genug gehen. Ich klammere mich dann an ihr fest und sie lacht und schreit: »Angsthase!« Es ist so ein kleines Spiel zwischen Sofia und mir. Wir werden draußen bleiben, bis Dana sich fragt, wo wir bleiben. Vielleicht kommt sie ja auch mit.

    Die Laster schalten jetzt einen Gang hoch, bald werden sie an unserer alten Siedlung vorbeirauschen und sich in die Autobahn Richtung Kopenhagen eingliedern. Ich werde nur noch kurz meinen Bruder besuchen, fragen, was los ist, und ihm frohe Weihnachten wünschen. Ich lege auch einen Gang zu, und bald kann ich die ersten Blocks unserer Siedlung erkennen. Ich bleibe stehen. Schaue mir das alles erst einmal in Ruhe an, spüre dank des Alkohols eine Freude am Leben. In den meisten Fenstern brennt noch Licht, es ist früh am Abend und ich stehe hier in der Dunkelheit und trinke von meinem Bier, drehe mich im Kreis, weil ich versuche, den Fahrradfahrern, die aus beiden Richtungen kommen, den Rücken zuzudrehen.

    Vor unserem alten Wohnblock haben sie einen neuen Spielplatz gebaut. Die Schatten der Geräte treten wie große, schlafende Tiere massig aus der Dunkelheit heraus. Ich setze mich auf eine Schaukel und überlege, wer wohl noch alles hier wohnt und ob sie mich vielleicht hier draußen sehen können. Ich schaue zu unseren ehemaligen Fenstern. Rechts die Küchenfenster, links war das Schlafzimmerfenster meiner Mutter. Es sind kleine Wohnblocks, drei Stockwerke, flache Dächer, auf denen sich Wasserlachen bilden, die dann nach einer Weile an den weißen Betonwänden heruntertropfen.

    Es ist im Sommer sehr grün hier, zwischen den Wohnblocks sind größere Wiesen angelegt und Bäume gepflanzt. Es ist kein schlechter Ort an sich. Wir, die wir im Erdgeschoss wohnten, hatten sogar verglaste Balkons an der Südseite des Hauses, die direkt auf den Fußballplatz führten. Man musste nur eine der schweren Scheiben zur Seite schieben und durch das Gebüsch krabbeln, Anlauf nehmen und über den Zaun springen. Im Winter verlegten wir am Abend das Spiel auf die linke Seite des Spielfelds, dort, wo die Straßenlaternen das Feld noch mit ihrem weißen Licht erfassten, blieben so lange wie möglich draußen. Nein, es ist kein schlechter Ort hier. Es sind bloß die Menschen, die hierherkommen, die Schlechtes erlebt haben, Trennungen und Jobverlust, alltägliche Dinge, die einen für eine kurze oder längere Zeit aus der Bahn werfen können.

    Ich setze mich auf den eisernen Fußabtreter neben der Tür zum Treppenhaus. Ich sitze hier, wie ich zum letzten Mal mit dreizehn vor über zwanzig Jahren hier gesessen habe. Wenn jetzt jemand aus der Tür kommt, dann wird er wissen wollen, was ich hier mache, vielleicht wird er mich aber auch erkennen, den Sohn von Bruno, den Jüngsten, den Prinzen der Siedlung. Den gut gekleideten, fröhlichen Jungen auf der Durchreise. Das Licht im Treppenhaus geht an und ich stehe schnell auf und krame den Zettel mit der Hausnummer meines Bruders aus der Hosentasche. Die Tür geht hinter mir auf und ich drehe mich weg und tue so, als würde ich den Zettel lesen, mein Herz pocht, ich habe nichts dazugelernt, habe nichts an Kraft dazugewonnen. Dann, als die Schritte hinter mir verstummen, trete ich wieder an die Häuserwand unter unser altes Küchenfenster, lege meine Wange an das kalte Gestein und schließe die Augen für einen Augenblick.

    KAPITEL 2

    Er hat stark zugelegt. Als er die Tür aufmacht, höre ich aus der Tiefe der Wohnung einen Hund bellen. Das Tier scheint herauszuwollen, ist aber irgendwo weiter hinten eingesperrt.

    Mein Bruder schaut mich fragend an.

    »Du bist gekommen?«

    »Natürlich bin ich gekommen«, sage ich und wir umarmen uns im Flur. Mein Bruder drückt mich fest an sich, er hat nichts von seiner Kraft verloren. Er riecht gut nach Rasierwasser. Rasierwasser und Bier. Der Hund winselt jetzt, kratzt an der Tür. Ich versuche, meinen Griff zu lösen, aber mein Bruder will mich einfach nicht loslassen. Meine Fingerspitzen treffen sich kurz in der Mitte seines Rückens, wandern ziellos über diese massive Fläche. Ich muss an seine raue Kraft denken, mit der er mich früher aus meinem Zimmer zerrte, sein verschwitzter Körper auf meinem, wenn er mich in jenem Sommer gegen die Wand drückte. Ich war jedes Mal gleich überrascht. Ich gewöhnte mich nie daran. Manchmal lag ich einfach auf meinem Bett und las eine Zeitschrift, als er in mein Zimmer kam und mich an den Haaren zerrte. Dieser Ruck und dann das Gefühl, als würde meine Schädeldecke sich lösen.

    »Johan, hör bitte auf, du machst mich kaputt, bitte, du machst da was in meinem Kopf kaputt!«

    Ich denke, ich werde ihm das nie wirklich verzeihen können. Obwohl es nichts mit mir zu tun hatte, obwohl nicht ich gemeint war, finde ich es bis heute nicht richtig.

    »Entschuldigung«, sagte er dann später. »Entschuldigung, Bruder.«

    »Komm mir nicht damit«, sage ich meiner Frau heute.

    »Komm mir nicht damit, Dana.«

    Er lässt mich los und ich frage, was passiert ist. Er legt seinen Zeigefinger auf den Mund und sagt: »Komm, ich zeig dir was, erst möchte ich dir was zeigen.«

    Am liebsten wäre mir, er würde sofort damit herausrücken, mir gehen seit seinem Anruf tausend Sachen durch den Kopf. Etwas Unwiderrufliches, etwas, das er getan hat, Sätze, in denen das Wort »Schicksalsschlag« vorkommt. Er führt mich am Arm in die Küche. Seine Wohnung hat zwei Zimmer, sie ist nicht so groß wie unsere alte Wohnung, damals hatte jeder von uns sein eigenes Zimmer. Im Wohnzimmer ist es dunkel und den Hund hat er offenbar in seinem Schlafzimmer eingesperrt.

    »Warum ist er da drinnen, warum lässt du ihn nicht raus?«

    »Gleich«, sagt er und führt mich an eins der zwei Küchenfenster. Dann macht er das Licht in der Küche aus und sagt: »Schau mal.«

    Es ist das Merkwürdigste, was ich bisher in meinem Leben getan habe. Hier in dieser fremden Wohnung in der Dunkelheit mit meinem Bruder zu stehen und über unsere alte Siedlung zu blicken, ich kann sogar einen Teil unserer alten Wohnzimmerfenster sehen.

    »Schau jetzt geradeaus, schau dir mal das Fenster im zweiten Stock an, neben unserem alten Block, da, wo Licht brennt, siehst du ihn?« Er klopft an die Fensterscheibe, als könnte es jemand dort drüben hören.

    »Da ist niemand.«

    »Warte«, sagt er und stellt sich dicht neben mich. Dann sehe ich, wie eine Person ans Fenster tritt. Es ist ein Mann, natürlich ist es ein Mann. Ich drehe mich vom Fenster weg.

    »Was soll das?«, frage ich.

    »Er weiß nicht, dass ich hier wohne, Bruder, er erkennt mich nicht wieder. Seit Jahren gehen wir aneinander vorbei. Manchmal, wenn er nüchtern ist, bleibt er auf der Straße stehen und schaut mir hinterher, ich gehe dann schnell weiter, ich lasse mir nichts anmerken. Ich komme damit klar, mir geht es zurzeit gut, wenn nicht diese eine Sache wäre, wenn ich gestern nicht die Kontrolle verloren hätte, wenn ich gestern nur nichts getrunken hätte, dann wäre alles bestens. Ich darf vormittags nichts trinken, Bruder, es bringt mich ganz durcheinander, ich darf das nicht, das ist Regel Nummer eins. Aber dass er jetzt dort drüben wohnt, finde ich einfach irre. Ich schwöre dir, wir haben bisher kein einziges Wort miteinander gewechselt, nicht einmal jetzt, wo wir ja so eine Art Nachbarn sind. Doch, er hat mir mal ›Frohes Neues‹ gewünscht. Es war letztes Jahr oder das Jahr davor. Er lief an mir vorbei, mit dieser riesigen blonden Frau, sie hatten beide was getrunken. ›Frohes Neues‹, das war's. Ich bin nicht darauf eingegangen. Nur, ich sage dir, manchmal könnte ich rübergehen und so richtig zuhauen. Manchmal sehe ich mich da drüben im zweiten Stock, wie ich ihn packe und aus dem Fenster werfe. Tschüss, Hudi, gute Reise, alter Kumpel.« Mein Bruder kneift die Augen zusammen und schaut nach draußen. »Hudi, alter Kumpel, siehst du uns, du mieses Schwein?«, ruft er und hämmert gegen das Fenster. »Gestern war mir danach, kleiner Bruder, gestern stand ich vor seiner Tür und habe beinahe bei ihm geklingelt, deswegen Regel Nummer eins: Kein Alkohol am Vormittag.«

    Ich setze mich an den Küchentisch, behalte meine Jacke an. Mein Bruder hat für zwei gedeckt, er hat gewusst, dass ich kommen würde, dass ich Angst habe. Ich denke an Sofia, ob sie wohl schläft. Ich sollte sie anrufen, ihr sagen, dass ich morgen wieder da bin und dass alles in Ordnung ist. Dass ich eine Überraschung für sie mitbringen werde. Oder vielleicht nur Gute Nacht sagen und dass ich sie lieb habe.

    »Kann ich zu Hause anrufen?«, frage ich.

    »Klar kannst du anrufen, sag Dana, dass ich gekocht habe, sag ihr, es ist o.k., dass sie nicht mitgekommen ist. Sag ihr, du bringst Sofia was von mir mit, für Weihnachten.«

    Im Wohnzimmer liegen Spielsachen auf dem Boden verstreut, wahrscheinlich sind sie gerade hier gewesen, für das Wochenende. Ich erkenne den schweren dunklen Holzschrank aus der Zeit, als er noch mit Ulla und den Kindern zusammenwohnte. Der Schrank ist für das Zimmer zu groß, es ist deutlich, der Schrank gehört woanders hin. Auch den Couchtisch erkenne ich wieder. Vor langer Zeit, als seine erste Tochter zur Welt gekommen ist, bin ich mit Dana bei ihnen zu Besuch gewesen. Wir haben an genau diesem Couchtisch gesessen und Kaffee getrunken. Kaffee und Cola. Seine Frau hat Cola getrunken. Es war ein Sonntag im Frühjahr, die Sonne leuchtete direkt ins Wohnzimmer auf unsere Gesichter, traf uns auf wundersame Weise, und ich saß da auf der Couch mit dem Kind auf meinem Schoß und versuchte, mich über all diese Dinge zu freuen, versuchte einfach, keine schlechten Gedanken aufkommen zu lassen, jetzt, wo die Kleine da war.

    Später an jenem Tag, als das Kind schlief und die Frauen sich in der Küche ums Abendbrot kümmerten, ging ich mit meinem Bruder in den Garten und wir tranken Bier und ich konnte hören, wie Dana und Ulla in der Küche Witze machten. Nachdem ich ein paar Schlucke getrunken hatte, fühlte ich mich, wie es so ist, beschwingt, und obwohl ich ahnte, dass der Zweifel schon bald wieder einsetzen würde, sagte ich meinem Bruder, dass ich stolz auf ihn sei.

    Als sein drittes Kind, ein Junge namens Carl, zur Welt kam, sagte ich ihm genau den gleichen Satz. Wir standen wieder in seinem Garten und tranken Bier. Es war Winter und ich war alleine gekommen, jetzt, wo Dana schwanger war, fanden wir es einfach sicherer so, und ich sagte: »Ich bin stolz auf dich, Bruder.«

    »Was gibt es da stolz zu sein?«, erwiderte er und ging wieder ins Haus.

    Es war damals, an jenem Sonntag, als ich auf dieser Couch mit seinem ersten Kind saß, sehr merkwürdig, Dana im Haus meines Bruders zu betrachten, diese große, schöne Frau und die Frau meines Bruders, wie die beiden die Köpfe zusammensteckten und kicherten, als gäbe es auf dieser Welt so manches, auf das sie sich einigen könnten. Heute noch muss ich oft an Ulla denken. Wenn ich abends im Bett neben Dana liege, stelle ich mir gern vor, wie es

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