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Der Sommelier
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eBook212 Seiten2 Stunden

Der Sommelier

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Über dieses E-Book

Als die Psychotherapeutin Alina heimlich einen blinden Mann auf dem Friedhof beobachtet, ahnt sie nicht, dass sie damit eine Entwicklung auslöst, die das Leben mehrerer Menschen dramatisch verändert.
Das Hotel zur Glashütte an der tschechischen Grenze und das Hotel Polder in der westlichen Oberpfalz sind die Schauplätze von tragischen Todesfällen, aber auch Liebeswirrungen und -irrungen. Neben Tragik und Romantik beschreibt dieser Beziehungsroman auch komische und spannende Situationen in der gut einjährigen Phase des privaten und beruflichen Umbruchs im Leben einer Hoteliersfamilie.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum18. Apr. 2016
ISBN9783741804229
Der Sommelier

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    Buchvorschau

    Der Sommelier - Helfried Stockhofe

    Falsche Freunde und die Folgen

    1

    Alina war müde. Der alte Diesel-Triebwagen heulte bei jedem Gasgeben auf, als wollte er seine abgelaufene Lebenserwartung hinausstöhnen in die schwarzen Wälder. Er zuckelte und ruckelte und drohte ständig, aus den Schienen zu springen. Dann ratterte er wieder gleichmütig schicksalsergeben dahin. Die Bäume neben der Bahnstrecke flogen vorbei, kaum erleuchtet versanken sie wieder im Dunkel der Nacht.

    Alina war erstaunt, dass es hier noch so alte Züge gab - und so dichte Wälder. Typisch Oberpfalz, dachte sie. Ist halt doch etwas dran an den meist humorvoll vorgetragenen Vorurteilen über diese raue und leere Landschaft mit ihren urtümlichen Bewohnern, die angeblich mit dumpfen Vokalen die Auswärtigen verwirren.

    Ein wenig unheimlich ist es hier schon...

    Und wieder heulte er auf. Und als wäre das nicht genug, krächzte er einen Pfiff hinaus, um auch das letzte Wildschwein vor einem Überqueren der Gleise zu warnen. Dann rollte er wieder dahin, als wäre alle Kraft verloren gegangen. Aber doch so schnell, als sollte es nie ein Ende der Fahrt geben. Immer weiter, unaufhaltsam. Und immer diese vorbeirasenden Bäume.

    Keine freundliche Stimme, die eine pleasant journey wünschte, drang aus irgendwelchen Lautsprechern. Kein sächsisch sprechender Schaffner störte. Kein Handy klingelte. Und auch das bei jedem Halt gegenwärtige Problem, zu spät den spärlich beleuchteten Namen des Zielbahnhofs zu erkennen, hielt Alina nicht davon ab, die Augen zu schließen. In die Nase stieg ihr der kalte, schwarzbraune Geruch, metallisch, Diesel, Maschinen und Schweiß. Im Waggon saßen einige Bundeswehrsoldaten, die es zum Wochenende nachhause zog, ein Polizist, der uniformiert kostenlos fahren konnte, ein Student, der auf seinem Smartphone herumspielte, aber überwiegend Arbeiter. Die Arbeiter hatten die Augen geschlossen und ihre zurückgelehnten Köpfe schienen mit Magneten festgehalten: Sie fielen immer wieder in die Ausgangslage zurück, obwohl der Zug die Oberkörper hin- und herschüttelte.

    Am Freitag mit dem letzten Zug. Zurück. Alle wollten nach Hause. Nur für Alina wartete irgendwo in den Wäldern ein Wochenendurlaub. Die anderen erwartete die Wochenendarbeit. Nebenbeschäftigungen für ein paar Euro zusätzlich oder die notwendige, mehr oder minder lästige Arbeit an Haus und Hof. Dazwischen vielleicht ein Kirchgang, ein Vereinslokal, der Fernseher, das Bett. Ein gutes Essen?

    Der schweflige Geruch eines hart gekochten Eis weckte Alina auf. Ihr gegenüber saß ein Mann. War er zwischendurch zugestiegen oder saß er vorher in dieser dunklen Ecke, in der das Licht ausgefallen war? Er starrte sie an.

    Sie wich seinem Blick aus. Sie starrte hinaus.

    Die Spiegelung in der Fensterscheibe zeigte einen dunkelhaarigen Mittdreißiger mit welligen und seltsam in die Stirn gezogenen Haaren, einer markanten Nase und einem schlecht-rasierten Kinn, der vorsichtig in sein Ei biss und gemütlich kauend unentwegt die Frau gegenüber anschaute. Alina fühlte sich gemustert, zog ihre Jacke zu. Der Fremde im Fensterscheibenspiegel strich sich mit der Hand über seinen Mund. Als er das Ei verzehrt hatte, drückte er auf seine Armbanduhr und ließ sich die Zeit ansagen. Erstaunt drehte sich Alina wieder dem Fremden zu. Da öffnete der den Mund, ganz leicht, und schnalzte seltsam mit der Zunge.

    Das war Alina zu viel. Sie zog noch im Sitzen ihre Jacke an und wollte aufstehen, um sich einen anderen Platz zu suchen.

    „Verzeihen Sie, sagte er mit einer warmen, freundlichen Stimme, „ich will nicht unhöflich erscheinen, aber ich kann Sie sonst nicht erkennen!

    Bevor Alina über den Sinn des Gesagten rätseln konnte, fuhr er fort: „Ich muss diese Geräusche machen, um Sie zu sehen. Mit meinen Glasaugen geht das nämlich nicht!" Dabei grinste er, weil er sich vorstellen konnte, wie sein Gegenüber jetzt schaute.

    „Oh, Entschuldigung!, reagierte Alina schnell und sah ihm in die blauen starren Augen. Auch das kannte der Mann schon. Manche entschuldigen sich, ohne genau zu wissen, wofür. Vermutlich für die Vorverurteilung eines Behinderten. Er ging darauf nicht weiter ein, sondern sagte seinen Spruch auf: „Ich bin eine große Fledermaus! Und sein Grinsen wurde zu einem breiter werdenden Lachen, so dass seine gelblichen Zähne zu sehen waren. Nun war es an Alina, ihn zu überraschen. Sie brauchte nicht lange. Erleichtert ließ sie die Schultern wieder fallen: „Ach so! Ja, ich habe schon davon gehört. Die Echo-Ortung kann man als Blinder offenbar lernen."

    Walter hieß er. Er war 22, als er erblindete. Das war vor 13 Jahren. Die letzten 6 Jahre hatte er die Echo-Ortung erlernt und immer wieder geübt. Und so schärfte er seinen Blick für die Welt, die er sich vorher über den Gleichgewichtssinn, den Tastsinn und das Hören erschlossen hatte. Und über Gerüche!

    Das harte Ei war sein Gegengewicht zu den Gerüchen der Umgebung. Immer wenn er in Situationen kam, die er nicht riechen wollte, etwa ein Aufenthalt in einem vollen, stinkenden Triebwagen, setzte er dem etwas entgegen. Er musste sich schützen vor der Überschwemmung durch unterschiedlichste Gerüche, wollte sie überdecken und kontrollieren durch selbst erzeugten Geruch. Bei Menschenansammlungen im Freien oder im vollen Supermarkt kaute er seinen Kaugummi oder lutschte Mentholbonbons. Dennoch spürte seine Nase die feinen Düfte in seiner Nähe auf. Er erkannte sofort, als er sich zu Alina setzte, dass ihm eine Frau gegenübersaß. Sie wird das Ei schon aushalten, dachte er sich. Problematischer war für ihn die Ungewissheit, ob er sich irgendwo vollgekleckert haben könnte. Ei im Gesicht könnte ähnlich peinlich sein wie eine Nudel. Deshalb wischte er sich öfters mit der Hand ab.

    Alina hatte ihre Scheu verloren, schon gar nicht musste sie sich ekeln vor diesem sehenden Blinden. Neugierig und doch vorsichtig fragte sie ihn aus und erfuhr, dass auch er nur übers Wochenende in der Oberpfalz bleiben wollte. Allerdings stammte er von hier - ohne sie mit dumpfen Vokalen zu irritieren.

    2

    Weil er das gemeinsame Ziel ihrer Bahnreise gut kannte, war er weniger überrascht als sie, dass beide im Hotel zur Glashütte Zimmer gebucht hatten. Trotz des fortgeschrittenen Abends wurden sie mit dem hoteleigenen Kleinbus abgeholt. Die Fahrt dauerte noch einmal 20 Minuten in Richtung tschechischer Grenze. Die Bäume rasten nun langsamer vorbei und ließen ab und zu eine Lücke, in der der Mondschein den Blick auf abgeerntete Felder und Wiesen ermöglichte. Unwillkürlich dachte Alina an die gutenachtsagenden Fuchs und Hase.

    Beide schwiegen und Walter schnaufte tief durch. So als würde er sich innerlich auf einen schweren Gang vorbereiten.

    „Hab ich vorhin etwas Falsches gesagt?", fragte Alina, die Walters Bedrückung bemerkte.

    „Was?, antwortete er geistesabwesend. „Nein, wenn ich meine Aufmerksamkeit für draußen nicht mehr brauche, dann richtet sie sich nach innen. Und da kommen halt mal Gedanken und Erinnerungen.

    „Da hätte ich Sie wohl nicht ausfragen dürfen?"

    „Ach nein, Alina, das werde ich doch oft gefragt!"

    Alina zuckte zusammen. Er sprach sie mit Vornamen an. Hatte sie ihm den verraten? Vielleicht schon, als sie von sich in der dritten Person sprach, von der kleinen Alina, die als Kind ihre erste Bahnreise antrat. Und doch war es seltsam, von diesem kaum vertraut gewordenen Fremden mit dem Vornamen angesprochen zu werden.

    Beide versanken sie in ihren Gedanken. Der Bus wurde von einem Tschechen gefahren, der sich wohl auch seinen Gedanken hingab. Er fuhr trotzdem aufmerksam die Straße entlang in Richtung seiner Heimat. Der Hotelangestellte verstand sehr wohl, was geredet wurde, und er konnte die Innenschau seiner Fahrgäste gut nachempfinden. Es sind die Wälder, sagte er sich, die Wälder, die leeren Fluren und die Stille. Da muss man ja melancholisch werden. Bei der Melancholie verstanden sich die Menschen diesseits und jenseits der Grenze. Und beide Sprachen hatten dasselbe Wort für dieses Gefühl: Melancholie! Trotzdem musste František, den sie hier nur Franz nannten, aufpassen, dass er nicht zu viel Melancholie aufkommen ließ. Urlauber sollen ja Spaß haben!

    „Wir sind schon da!, riss er seine Fahrgäste aus ihren Gedanken. „Ich hoffe, Sie haben einen schönen Aufenthalt!

    Während er schnell ausstieg und das kleine Gepäck der Urlauber an sich nahm, verließen auch die beiden anderen den Wagen.

    „Danke, Franz! Ihnen noch einen guten Abend. Vielleicht kommen wir morgen einmal zum Plaudern!"

    „Gerne, Herr Walter. Ahoj!" Dabei grinste er, weil er wusste, wie gerne die Deutschen diesen Gruß haben. Ahoj ist selbst bei den Bewohnern der Grenzregion das einzige tschechische Wort, das ihnen vertraut ist.

    Auch Alina verabschiedete sich höflich von Franz, der sich schon beim Einsteigen mit seinem Namen vorgestellt hatte. Ihr war klar, dass der Blinde und der Tscheche sich schon vorher gekannt hatten. Ihrem Gesprächspartner reichte sie die Hand. Sie hatte dabei ganz vergessen, dass er die nicht sehen konnte. Deshalb griff sie nach seiner Rechten und nahm sie in ihre beiden Hände.

    „War schön, mit Ihnen zu reden. Vielleicht sehen wir uns ja wieder. Beim Frühstück oder irgendwann."

    „Ja, sehr gerne. Ich bin der Walter!"

    „Und ich die Alina, aber das wissen Sie ja schon!"

    Walter schmunzelte und ging mit leisen Zungenschlägen Richtung Hotel.

    „Warten Sie, ich möchte Sie noch ein Stück begleiten!", reagierte Alina auf sein vorsichtiges Vorangehen und Hin- und Herschwenken seines Stocks. Sie hakte sich bei ihm ein – und Walter ließ es sich gerne gefallen, von dieser wohlriechenden Frau durch die Eingangstür zur Rezeption geführt zu werden.

    3

    Das Frühstücksbuffet war reichlich. Kaffee oder Tee? Kaffee! Butter aus Oberbayern, Marmelade aus Niedersachsen, Eier aus Käfighaltung. Haben die hier keine vernünftige Landwirtschaft? Alina sah sich um und bemerkte, dass fast alle Hotelgäste früher aufgestanden sein mussten als sie. Die letzten verließen gerade ihren Tisch. Sie war allein. Auch ihr blinder Gesprächspartner war nicht zu sehen.

    Sie hatte sich das Ausschlafen gegönnt. Die Arbeitswoche, die sie hinter sich hatte, war anstrengend gewesen. Schwierige Patienten mit schweren Schicksalen hatten ihr ihre Belastungsgrenze aufgezeigt. Sie tat sich schwer, die vielen Psychotherapieanfragen zurückzuweisen, insbesondere, wenn speziell sie empfohlen worden war von den Ärzten, die ihre mehr oder weniger motivierten psychisch Kranken loswerden oder der angemessenen Behandlung zuführen wollten. Wie bei vielen Psychotherapeuten gab es auch bei ihr lange Wartezeiten. Besonders hart fiel Alina der Hinweis auf die lange Wartezeit, wenn die Anfragenden von ihren eigenen ehemaligen Patienten eine Empfehlung hatten. Und so kam es, dass in ihrem Terminkalender immer zu viele Namen standen.

    Sie schaute hinaus in die immer noch verschlafene Landschaft. Das Hotel stand am Rande eines Dorfes, das sich wohl hinter der Unterkunft befinden musste. Sie sah über den chinesischen Gräsern des Wellness-Oase-Gartens auf eine durch einen Wald abgegrenzte Wiese. Vom Ort bekam sie nur den Glockenschlag der Kirche mit, der sie schon in der Nacht genervt hatte.

    Daheim saß ihr Mann Bernd jetzt wohl auch über dem Frühstück oder schon beim Ausarbeiten von Angeboten. Er hatte es vorgezogen, den Samstag zu einem Arbeitstag zu machen. Nicht einmal ein Gutenachtsagen hatte es gestern gegeben. Alina schrieb ihm eine SMS. Immerhin, der Handy-Empfang war gut. Sie hatte keine Lust zu einem Telefonat. Waren ja auch nur ein paar Tage … Du wirst wohl den ganzen Tag wellnessen, hatte er gemeint, da will ich nicht stören. Vermutlich hatte er nicht nachgedacht oder er kannte seine Frau zu wenig. Alina waren die Wellnessangebote herzlich egal, sie wollte nur einmal raus, weg von daheim. Und sie würde natürlich lieber in der Natur herumlaufen, als im Hotel den Spa-Bereich aufzusuchen.

    Als erstes war die Erkundung der näheren Umgebung dran. Das ging schnell. Eine Kirche, ein Friedhof, zwei verlassene Lebensmittelläden, ein leerstehendes Wirtshaus, Bauernhäuser mit leeren Betonwannen, in denen einmal der Mist lagerte, noch einige Leerstände - mit herabbröckelndem Putz, sich biegenden Dächern und offenen Türen, durch die Mäuse und Katzen verkehrten – aber auch renovierte Häuser, die von kläffenden Hunden bewacht wurden, die ihre Besitzer an die Fenster lockten oder von der Gartenarbeit aufschauen ließen. Etwas abseits war eine Siedlung zu erkennen. Auf billigem Grund gab es dort auch neugebaute Häuser. Vielleicht das Hotelpersonal, dachte sie. Die ganze Verwandtschaft hilft beim Bauen mit.

    Ihr Weg führte zur Kirche. Die sind doch alle gleich, war der Spruch von Bernd. Aber Alina erkannte mehr das Gegenteil: Alle Kirchen sind unterschiedlich! Ob am Samstagmorgen Gottesdienst ist? Barocker Kirchturm mit Schindeldach, lindgelbe Fassade, eine schwere honigbraune Eingangstür. Als Alina die Tür öffnen wollte, hörte sie hinter sich ein leises Klacken. Sie schaute sich um und sah nicht weit entfernt den blinden Walter durch die Grabreihen gehen. Sollte sie ihn begrüßen oder würde sie ihn damit stören oder gar erschrecken? Sie schaute ihm nach.

    Walter ging den Weg, den er jedes Jahr ging. Er ging hinter den Gräbern entlang und klopfte mit dem Stock an die Rückseite der Kreuze und Steine. Er kannte den Klang eines jeden Steines und wenn er unsicher war, dann schnalzte er mit der Zunge, um etwas mehr zu erfahren. Schließlich war er angekommen. Er zwängte sich zwischen zwei Gräbern hindurch und wandte sich von vorne einem großen Familiengrab zu. Es wurde umfasst von einer Begrenzung aus

    Granitsteinen und war überwuchert von Mispeln. Walter

    kniete sich neben das Gefäß mit dem Weihwasser und tastete das Grab ab: Wie immer lag ein Blumenstrauß auf dem Bodendecker. Was er nicht wahrnahm, waren seine Zuschauer, Alina an der Kirchenmauer und ein dicker Mann, der abseits schon auf Walter gewartet hatte.

    4

    Der dicke Robert war den ganzen Tag schon aufgeregt gewesen. Wie jeden Tag musste er exakt 11 Mal die Heizplatte seines Elektroherdes an- und ausschalten. Obwohl er morgens nie seinen Herd brauchte, immer nur einen Wasserkocher in Betrieb nahm, das heiße Wasser auf 11 Gramm Kaffeepulver schüttete, sich ein Brot mit Butter und Honig bestrich, darauf 11 Bananenscheiben drapierte und dazu seine Tasse Kaffee genoss. Er war aufgeregt, weil es das Wochenende nach dem 11. September war. Das Wochenende, an dem Walter jedes Jahr das Grab seiner Eltern besuchte.

    Robert wartete schon eine halbe Stunde. Walter hatte sich dieses Jahr verspätet. Vielleicht verschlafen. Oder beim Frühstück mit jemand geplaudert? Schon das machte Robert unruhig. Er legte seinen Strauß schon immer vorher aufs Grab, seit 2002, also seit genau 11 Jahren. Letztes Jahr war er sich sicher: 2012 war nach 11 Jahren wieder ein Jahr erhöhter Sonnenaktivität. Selbst die Sonne hat den 11-Jahres-Rhythmus! Dieses Jahr war er sich aber total unsicher: Sollte er die Blumensträuße oder die Jahre zählen? Es war heuer sein 12. Strauß. Was würde geschehen? Er spürte, wie sich seine Aufregung zu einer richtigen Angst auswuchs, als Walter am Grab kniete. Aber nichts Ungewöhnliches passierte. Der tastete wie üblich das Grab ab, bemerkte den Strauß, erkannte die Sonnenblumen, alles wie jedes Jahr. Nach einer Weile stand der Blinde auf und suchte sich wieder mit Hilfe seines Stocks den Weg nach draußen. Der dicke Mann atmete auf. Auch er machte sich davon. Aber da entdeckte er das Ungewöhnliche: Er sah, dass an der Kirchenmauer eine Frau lehnte, die offenbar die ganze Szene beobachtet hatte. Er wurde von ihr direkt angeschaut. Er kannte sie nicht. Sie grüßte mit einem Kopfnicken. Er nickte kurz zurück und verschwand.

    Seinen Weg nach Hause fand er unbewusst, gedanklich war er beschäftigt mit verunsichernden Fragen. War das nach dem 11.9.01, der zweite Wink des Schicksals? Wer war diese Frau? Was hatte sie gesehen? Was wird die denken? Was hatte sie mit Walter zu tun? Sollte er ihr nachgehen?

    Bevor er die Haustür aufschloss, drehte er um und ging wieder zurück in Richtung Kirche. Vorsichtig lugte er in den Friedhof hinein, schlenderte dann harmlos durch

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