Kuckucksgeschwister
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Buchvorschau
Kuckucksgeschwister - Helfried Stockhofe
Kuckucksgeschwister
Eine Lesung vor *innen
Das Geschlechter-Interview
Märchenhafte Freundschaften
Nicht wirklich eine Schwester
Verbundene Familien
Erklärungsversuche
Neuanfangsexperimente
Eine Lesung vor *innen
1
Ein kurzer Rock Wie kann man nur Sie hätte es sich doch denken können Schulbank so eine Schulbank vom Lesesaal irgendwie schäbig Provinz eben wird sie sagen und sie schaut verlegen Liebe Zuhörer innen
wirklich Zuhörer innen nicht Zuhörer und Zuhörerinnen Zuhörer innen mit einer Pause vor dem Innen Verschlusslaut besser Verschlucklaut Eine Sperre beim Sprechen als wollte ihr das Innen nicht von den Lippen kommen Political Correctness muss halt sein Zeit ist Geld Zuhörerinnen und Zuhörer dauert länger Ein Alptraum nein Albtraum sagt jetzt der Duden Anpassung an schlampige Sprache Aus Alptraum wird Albtraum aus Zuhörer und Zuhörerinnen werden Zuhörer innen mit einem Sternchen dazwischen Ist ein Albtraum Aber man gewöhnt sich dran soll sich dran gewöhnen dann kann man wieder zur Tagesordnung übergehen Nächstes Jahr hat man sich daran gewöhnt und frau auch Blödes frau Vielleicht reicht das Sternchen den Frauen Sie schlägt die nackten Beine übereinander hat was zum Vorzeigen Grad dass man das Höschen nicht sieht Sternchen und nackte Beine Ich freue mich hier zu sein
Political Correctness sag ich doch Freut sie sich wirklich Alle schauen freundlich Ich nicht Ich bin gespannt Nackte Beine Alter schau ihr ins Gesicht nicht auf die Beine!
Das wird eine tolle Lesung
, hatte mir die Lies gesagt, unsere Stadtbibliothekarin, die Leseratte Lies, die schon im Namen ihre Berufung trägt. Ja, meinst du?
, hatte ich zurückgefragt. Ich hab von der noch nie etwas gelesen.
Und sie: Dann wird es Zeit, dass du sie wenigstens mal hörst!
Sogar an die Wand der Führerscheinstelle hatte sie ein Plakat hingehängt, das für die Lesung warb, mit Tesastreifen an die gegenüberliegende Wand des Vorraums, von dem ich durch eine Glasscheibe getrennt bin, so richtig in meinem Blickfeld und so, dass alle Vorübergehenden es nicht übersehen konnten. „Extra für mich?", hatte ich sie gefragt und sie hatte gelacht.
Ein schönes Gesicht, dachte ich mir, als ich das Plakat sah, das lassen wir hängen. Tag für Tag hab ich es angeschaut und mich jeden Tag ein wenig mehr auf die Lesung gefreut. Ein schönes Gesicht, aber sicher mit Fotoshop bearbeitet, nahm ich an. Aber man weiß ja nie. Die Augen groß und blau mit einem dezenten Grauton, durch eine Brille mich anschauend, eine Brille mit roter Fassung! Sie will auffallen, dachte ich mir. Die Haare blond, lockig, halblang. Irgendetwas an dem Gesicht war mir rätselhaft vertraut. Das war wohl Absicht, so wie ihr geheimnisvolles Lächeln. Geheimnisvolle Vertrautheit, raffiniert! Kein ganz bestimmter Typ und kein besonderer Typ. Oder war gerade das das Besondere? Natürlich erschien sie auf dem Plakat zeitlos jung. Ich schätzte sie auf Vierzig. Doch sie sah so aus, als wäre das Alter völlig egal. Und jeden Tag, wenn ich zur Arbeit kam, lächelte sie mich an. Das machen die meisten Menschen nicht, schon gar nicht die Frauen, schon gar nicht die Frauen auf der Arbeit, die Arbeiter*innen mit Sternchen. Obwohl: Die Arbeiterinnen brauchen ja das Sternchen nicht. Nur solange das Sternchen noch aufregt, bringt es den Frauen etwas, wenn es Alltag ist, werden sie sich wieder hintanstellen müssen. Arbeiterinnen ist eh keine schöne Bezeichnung, klingt nach Bienen. Oder Ameisen.
Mit den Beinen lenkt sie von ihrem Gesicht ab und von ihrem Buch Will sie das Oder bin ich der Einzige der auf die Beine starrt Die Schuhe interessieren mich nicht Was nur die Frauen mit den Schuhen haben Und erst recht die Männer Ach deshalb haben es die Frauen mit den Schuhen Schuhe interessieren mich nicht Bin ich kein richtiger Mann Jetzt stellt sie die Beine gerade hin geschlossen wie es ihr die Mutter beigebracht hat kein Einblick Die Sonne hatte sich hinter der Wolke verzogen
Wieso nicht umgekehrt Die Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben Figur-Grund-Problem Soll die Sonne die Aktive sein die Wolke nur eine Randfigur Oder ist die Wolke die Starke hinter der sich die schutzbedürftige Sonne verstecken will Auf jeden Fall hat sich die Wolke vor die Sonne geschoben ist doch wohl logisch Was will sie uns sagen mit Die Sonne hatte sich hinter der Wolke verzogen
Heißt es nicht „Die Sonne hatte sich hinter die Wolke verzogen" Sie schaut mich an zögert Hat sie meine Gedanken gehört Lächelt sie?
Ist es ein spöttisches Lächeln für meine Genauigkeit, für meine Erbsenzählerei, wie es manche höflich ausdrücken, für meine Korinthenkackerei, wie es sich manche Kollegen und Kolleginnen, neuerdings Kolleg*innen, nicht zu sagen trauen, oder für meine Tipferlscheißerei, wie es mir der Wigbert vorwirft? Mein Bruder Wigbert, der keine Tipferl scheißt. Dann kommt noch gleich der nächste Vorwurf: meine ewige Prinzipienreiterei! Aber das kann die seltsame Autorin dieses seltsamen Buches ja nicht wissen. „Die Frau auf der Trompete. Was soll dieser Titel? Will sie originell sein? Sicher will sie originell sein. Ohne das geht es heutzutage nicht. Soll der Titel womöglich eine Anspielung auf sexuelle Aktivitäten sein? Ohne das geht es heutzutage auch nicht. Ist die Trompete das beste Stück des Mannes? Bläst sie auf dieser Trompete? Oder ist die Trompete nur ein Instrument zur sexuellen Befriedigung wie die obligatorische Schlangengurke oder Banane? „Die Frau auf der Trompete
. Deshalb stand im Hintergrund eine Trompete - auf dem Plakat in der Führerscheinstelle. Der Titel stand nicht mit drauf. Warum nicht? Womöglich befürchtete sie, dass die Originalität den Bogen überspannt hätte. „So ein Blödsinn!", hätten die in der Führerscheinstelle Vorübergehenden gesagt. Oder hätten sie an den biographischen Film über Udo Jürgens gedacht? Saxophon und Trompete, das liegt nahe. Der Titel soll eine Verbindung zu Udo Jürgens herstellen. Mit allen Tricks wird heutzutage gearbeitet. Vielleicht will sie nicht tricksen oder nicht sich einen Trick nachsagen lassen, deshalb wirbt sie auf dem Plakat nicht mit dem Buchtitel, sondern nur mit sich und ihrem schönen Gesicht.
Stiert in ihr Buch als wollte sie in die Trompete reinblasen Flötet aber runzelt die Stirn Kindheit ja klar auch ohne die geht es nicht Wahrscheinlich stirbt gleich die Mutter oder der Vater missbraucht die Kleine Drama pur Ach sie bekommt eine Trompete ganz banal Eine Trompete für ein Mädchen das ist nicht banal Wozu und warum Sie rasen wieder davon die Gedanken und Fantasien meine Fantasien Warum warten sie nicht ab Werd es schon noch erfahren Sie wird es mir schon noch erzählen Jetzt lächelt sie wieder Nackte Beine wieder übereinander in die andere Richtung diesmal Glatt rasiert kräftig gewadelt Ein Schuh klappt am Fuß herunter Klack kümmert sie nicht ist wohl eine Nummer zu groß Warum Ein Blickfänger Ein Ablenker Alles berechnet durchkalkuliert Weil das Mädchen zu große Schuhe geschenkt bekommt Trompete und Schuhe gehören irgendwie zusammen Alter schau wieder in ihr Gesicht häng an ihren Lippen Rosenrot Schneeweißchen und Rosenrot Sie das Rosenrot das Mädchen im Buch das Schneeweißchen die braven Geschwister superbrav untereinander zu sich und zu der Mutter Kitschiges Rührstück Und wer ist der Bär der verwunschene Königssohn und wer der böse Zwerg Ich bin kein Königssohn Sie schaut mich schon wieder an Warum immer in der ersten Reihe Reserviert wird immer vorne Ich schlage meine Beine übereinander.
Sie sieht, dass ich mir Notizen mache, und das ist wohl der Grund, warum sie mich anschaut. Einer der sich Notizen macht und in der ersten Reihe sitzt … Da braucht man keine kriminalistische Ader – und frau auch nicht. Das blöde „frau". Angeblich ist meine Meinung gefragt, zumindest zu diesen banalen Ereignissen wie ein Lesung in der städtischen Bibliothek. In der Redaktion werden sie sich wieder lustig machen über meinen Bericht. Vielleicht können sich auch die Zeitungsleser*innen darüber amüsieren. Ich soll neben meiner Genauigkeit auch einen Humor haben, einen eigenartigen zwar, meinen sie, aber immerhin. Wenn ich ihre täglichen Elaborate korrigiere, vergeht ihnen das Lachen. Ob sie es schon bereut haben, mich auch noch zum Korrekturlesen für ihre Zeitung engagiert zu haben? Interessanter als meine alltägliche Arbeit auf der Zulassungsstelle ist es allemal. Doch manchmal wird mir mein Nebenjob zu viel. Nicht nur zeitlich. Doch wer soll es schon machen? Pensionierte Deutschlehrer haben es schon versucht und den Job gleich wieder hingeschmissen. Ach, das kann ich gut verstehen, denn man könnte manchmal verzweifeln, was aus der deutschen Sprache geworden ist!
Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her zieht den kurzen Rock nach unten schnauft tief ein macht Kunstpausen schnauft aus Ihr Schnaufen dringt in mein Ohr und verfängt sich dort Das Mädchen mit der Trompete und den zu großen Schuhen weint fühlt sich unverstanden kommt nicht zurecht damit Ich setze mich breitbeinig hin bin ja ein Mann Räuspern Lehne mich zurück Husten Warum verdammt müssen Leute räuspern und husten wenn es still wird Gefühlsverweigerung sich orten festmachen in der Realität verharren sich nicht verlieren in der Fantasiewelt Das Mädchen weint immer noch fühlt sich allein alleingelassen nicht geliebt Da helfen Schuhe und Trompete nicht auch nicht die nackten Beine auf denen der Rock wieder nach oben rutscht Sie weint Tränen kullern herunter tropfen auf das Buch Eine Autorin die weint Die Zuhörer mit dem Sternchen betroffen Ich schlucke schaue mich ganz vorsichtig um Links und rechts sitzt niemand alle hinter mir Schau nach vorne nicht auf die Beine auch nicht ins weinende Gesicht Ich schlucke wieder Sie schluckt liest weiter Ist alles Berechnung Emotionalisierung wie das ganze Leben heutzutage überall wo man Aufmerksamkeit will und frau, blödes „frau".
Überall Spektakel, in jeder Fernsehunterhaltung Lichtershows und fetzige Musikeinspieler bis zum Erbrechen, jedes Interview mit „tiefen Spaltungen, mit dem Gegeneinanderausspielen, Festnageln auf irgendwann einmal Gesagtes, mit dem plumpen Herausgreifen aus Zusammenhängen, mit „Fake News
– wie ich das alles hasse! Die Leute in der Redaktion können es nicht verstehen, dass ich Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind, grammatikalisch in einer Vergangenheitsform ausgedrückt haben möchte. Nein, es muss unbedingt in der Gegenwartsform gesprochen werde, das sei näher dran, sagen die Leute von der Zeitung. Außerdem machten das alle so – was leider stimmt. „Bei dem Unfall sterben vier Menschen, so will es der Leser berichtet haben, nicht, dass vier Menschen „starben
, dass es schon vergangen ist. „Es kann nicht sein! statt „Es darf nicht sein!
, so muss man es sagen, klare Kante. Deshalb gibt es auch den Konjunktiv nicht mehr – oder nur in halbsätziger Form, im ersten Halbsatz. Möglichkeitsformen sind out, Dummheit ist in. Das große Fressen geht in der deutschen Sprache weiter: Der Indikativ frisst den Konjunktiv, das Präsens das Imperfekt – Pardon, ich will korrekt sein: das historische Präsens das Präteritum – und natürlich: der Dativ den Genitiv. Aber es macht ja nichts, Hauptsache, man versteht´s. Es wird Mode, schlampig zu sein. Und die normative Kraft des Faktischen schafft neue Regeln. Soll ich mich noch über Anglizismen, Jugendsprache und das Hofieren des Dialekts aufregen ...?
Sie steht auf entschuldigend sich streckend über dem Rock hängt die Bluse heraus Neue Mode gepflegte Schlampigkeit nur vorne steckt sie drin Einfach lächerlich Legersein als vorgespielter Protest gegen Anständigsein Mode als Protest von wegen Genau das Gegenteil Mode ist heutzutage Anpassung individualitätslos Kann man Verzeihung frau also kann frau wirklich über dem Rock die Bluse raushängen lassen Weiße Bluse vorgespielte Anständigkeit Gegensatz zu den langen nackten Beinen Schneeweißchen und Rosenrot Rosenrot war einen Tick frecher als die Schwester ach was von frech kann man gar nicht reden Ich schwitze warum Die hinter mir schwitzen und stinken Sie setzt sich schnäuzend hat sich gefangen Ich schaue mich um in betretene Gesichter mitgenommen Schreib das auf Das Trompetenkind fühlt sich gequält wirft das Ding unters Bett Aha Das Kind auf der Trompete Prinzessin auf der Erbse Das Bett schiebt sich über die Trompete die Sonne verzieht sich hinter die Wolke Quatsch mit Soße Figur-Grund-Problem Die viel zu großen Schuhe verschwinden unter dem Bett Sie streift die Schuhe ab klack klack schiebt sie mit einem Fuß weg wackelt mit einem nervösen Bein räuspert sich macht Kunstpausen liest mit festerer Stimme weiter Klare Stimme ein Sopran hochdeutsch makellos mit deutlichen Ts am Schluss obwohl sie aus der Oberpfalz stammt Besser als aus Franken Unterm Bett aber kein Verstecken Nein ein Nichtmehrsehenwollen Aus den Augen aus dem Sinn Große Blaue hinter der roten Brille an die sie öfters fasst sie zurechtrückt Ein wenig Lidschatten dezent Brauen sicher gezupft Stirn gerunzelt intellektuell gerunzelt Anstrengung zeigend Konzentration Nachdenklichkeit Haare drüber dann wegstreichend Lockig sicher blond gefärbt die grauen stören schon oder noch Aha jetzt kommt der Sprung beim Vorlesen Kapitel auslassend Sie trinkt Wasser Knackt im Kehlkopf gluckert im Magen Das Mädchen ist jetzt in der Pubertät trinkt schon mal heimlich einen Feigling Ist doch kein braves Schneeweißchen.
Ich hole mir die mitgebrachte Flasche Wasser unter dem Stuhl hervor. Sie zischt beim Öffnen, was die Vorleserin mit einem erstaunten Blick quittiert. Ich mache eine entschuldigende Geste und sie lächelt. Zur Belohnung ihrer Nachsicht greife ich nun zu meinem Fotoapparat, der auf dem freien Platz neben mir lag. Es wird ihr gefallen, wenn ich sie fotografiere. Nun ist ihr vollends klar, dass sie in die Zeitung kommt, dass ich sie in die Zeitung bringe, dass ich es in der Hand habe, ihre Lesung als Erfolg oder Misserfolg zu interpretieren. Ich fühle mich gut, stehe auf und gehe ohne Zögern einigermaßen rücksichtslos an die Seite