Lilien im Park
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Über dieses E-Book
Neben der spannenden Romanhandlung vermittelt das Buch einen Einblick in Hintergründe und Therapien psychischer Erkrankungen und in den Berufsalltag von Psychotherapeuten.
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Buchvorschau
Lilien im Park - Helfried Stockhofe
Helfried Stockhofe
Lilien im Park
Vorwort
Unter dem Titel Psychotherapiegeschichten hatte ich vor einigen Jahren, am Ende meiner Berufstätigkeit als Psychotherapeut, mein erstes Buch geschrieben. Zu einer Veröffentlichung konnte ich mich damals aber aus verschiedenen Gründen nicht entschließen. Im Jahr 2016 habe ich die Psychotherapiegeschichten überarbeitet, in zwei Bücher aufgeteilt und veröffentlicht. Der Psychotherapie-Roman Lilien im Park ist also eigentlich das erste meiner bisherigen sechs Taschenbücher. Wer die anderen gelesen hat, wird diese chronologische Reihenfolge bemerken!
Hier im Buch Lilien im Park wird die Romanfigur der Psychotherapeutin Alina Winner eingeführt, die in allen Büchern eine mehr oder weniger dominierende Rolle spielt. Sie, ihre Patienten und Kollegen gewähren dem Leser immer wieder einen Einblick in die Welt der Psychotherapie.
In allen Büchern habe ich versucht, realistische Informationen zur Theorie und Praxis der Psychotherapie, natürlich auch eigene Erfahrungen und manchmal auch aktuelle Ereignisse, in eine spannende fiktive Romanhandlung einzubauen.
Eine besondere Stellung nehmen die beiden Taschenbücher Begegnungen im Bayerischen Wald und Alles kehrt wieder zurück ein. Hier liegt ein zusätzliches Gewicht auf der Region, in der ich lebe. Die Handlungen der anderen Bücher könnten auch woanders spielen.
Die beschriebenen „Fälle" in allen meinen Büchern sind selbstverständlich nicht authentisch, aber in jeder Psychotherapiepraxis werden Menschen mit solchen oder ähnlichen Symptomatiken und Schicksalen behandelt.
Natürlich sind die Namen aller handelnden Personen immer frei erfunden. Übereinstimmungen mit den Namen realer Personen wären rein zufällig.
Obwohl immer Kriminalfälle eine Rolle spielen, ist die Handlung frei von belustigenden Übertreibungen, wie sie in manchen populären Heimatkrimis anzutreffen sind. Aus Mitgefühl und Respekt vor den teils dramatischen Schicksalen von Psychotherapiepatienten bleibe ich bei einer realistischen Darstellung. Vermutlich fehlt mir auch die Begabung für derben Humor...
Ein Überblick zu meinen bisherigen Veröffentlichungen findet sich am Schluss des Buchs.
Aus Gründen leichterer Schreib- und Lesbarkeit verwende ich die traditionellen männlichen Formulierungen (z.B. Patienten statt Patienten/innen), auch wenn aus dem Zusammenhang klar wird, dass damit beide Geschlechter gemeint sind. Ich hoffe, das stört meine Leserinnen und Leser nicht!
Helfried Stockhofe
Maikäfer, flieg!
Der Vater ist im Krieg.
Die Mutter ist im Pommerland.
Pommerland ist abgebrannt.
Maikäfer, flieg!
(Deutsches Kinderlied)
Lilien im Park
1
Es ist immer dasselbe. Die Dinge hängen im Kopf und kommen einem in den Sinn, ob man nun will oder nicht. Es muss nicht immer Spätherbst sein, wenn Stefan George auftaucht: „Komm in den totgesagten park und schau". Aber es muss natürlich immer ein Park sein. Ein Park wie dieser mit hohen Bäumen, um die sich Efeu windet, dazwischen ein kleiner dunkler Teich, an dem der Weg vorbeiführt, ein sandiger aber dennoch fester Weg, bestreut mit ersten farbigen Blättern.
Aber es ist nicht immer alles Gold, was glänzt. Denn es riecht nach Benzin. Dort hinten sitzen einige Arbeiter in orangefarbenen Anzügen auf einer Parkbank und plaudern. Die haben es gut! Sie sind bei der Stadt angestellt. Die lassen es sich gut gehen!
Immer diese Vorurteile! Warum muss ich nur so sein? Immer gleich bei der Hand mit Neid und Abwertung! Vielleicht, weil ich selber nicht gut drauf bin. Diese Männer haben es sicher auch nicht leicht! Stehen das ganze Jahr schwitzend im Hundekot, wenn sie das Gras mähen mit ihren lärmenden und nach Benzin stinkenden Motorsensen. Und was sie sonst noch alles tun – ich will es gar nicht wissen.
Was denken sie sich, wenn sie sich abschotten vom Lärm mit ihrem Ohrenschutz? Was denken sie sich jetzt, wenn sie dasitzen und einen Mann auf sich zuspazieren sehen. Reden sie über mich?
Ein Lehrer..., ein Lehrer, denn wer sonst hat schon mitten am Tag Zeit, im Park herumzulaufen.
Auf den Gesichtern der Orangefarbenen liegt der kommende Herbst.
Wieder so eine Formulierung, die mir im Kopf hängt! Wo hab ich die her?
Und wie es herausdampft aus ihren Schutzanzügen! Lieber Abstand halten!
Grüße ich sie oder sollen sie zuerst mich grüßen? Schauen sie hoch?
Nur einer entdeckt meinen flüchtigen Blick. Er nickt. Ich sage Servus. Sollte ich Guten Tag wünschen oder Grüß Gott? Das wäre doch viel zu förmlich! Nun schauen alle kurz auf und murmeln Servus. Vermutlich bin ich total uninteressant für sie. Keiner wird sich über mich Gedanken machen. Nur ich mache mir Gedanken.
„Die späten rosen welkten noch nicht ganz". Stefan Georges Herbstgedicht geht mir einfach nicht aus dem Sinn. Die „späten rosen" und „die ranken wilder reben - Und auch was übrig blieb von grünem leben". Das Totgesagte, Welkende und der Rest vom Leben.
Warum kann ich nicht einfach nur den „schimmer ferner lächelnder gestade – Der reinen wolken unverhofftes blau" , die erhellten „weiher und die bunten pfade" wahrnehmen? Das Heitere will sich einfach nicht in den Vordergrund schieben! Typisch.
Ob mir die Orangefarbenen noch nachschauen? Nein Christian, dreh dich nicht um! Was sollen sich die Arbeiter denken!
Eine lange Straße. Lang und langweilig. Das Gebäude liegt aber sehr weit draußen! Dort, wo die Mieten vielleicht noch billiger sind und es noch genügend Parkplätze gibt. Ich hätte doch mit dem Auto hinfahren sollen. Hoffentlich komme ich nicht zu spät. Bis ich dort bin, könnte ich noch einmal alles durchgehen. Und überlegen, was ich der erzähle. Was wird sie mich fragen?
2
September 2012. Der Mann, der mit Stefan George im Kopf durch den Park gegangen war und danach auf dieser langen Straße lief, trug eine blaue Jeans und ein hellgraues Jackett mit Lederaufsätzen an den Ärmeln. Keiner weiß, wozu diese Aufsätze gut sind. Vielleicht sind sie dafür da, dass das Kleidungsstück an den Ellbogen nicht abgewetzt wird, wenn dieser Mann am Schreibtisch sitzt und seinen müden Kopf mit den Händen abstützt.
Der Mann war 42 Jahre alt. Er musste oft seinen Kopf abstützen, denn er war ein Lehrer. Der Mann hieß Christian Aufwieser.
Als Lehrer war er nie besonders beliebt und sein Unterricht war nur durchschnittlich, aber er war immer da, wenn man ihn brauchte. Auf ihn war Verlass! Als ob das das wichtigste Kriterium wäre. Aber wenn man sonst zu wenig vorweisen kann... Er war nicht geschickt und nicht gemein genug, um sich mittels eines autoritären Lehrerverhaltens ein Gefühl der Größe zu verschaffen. Oder war er einfach nur zu schwach dafür? Er war tugendhaft: Pünktlichkeit und Genauigkeit, geringe Fehlzeiten und immer bereit, den Unterricht kranker Kollegen zu übernehmen - das waren seine Stärken. Ob die anderen diese überhaupt registrierten? Ansonsten war er doch als Kollege und als Lehrer eine graue Maus. Um sich und den anderen zu beweisen, was in ihm steckt, hatte er sich immer angestrengt. So ging das 12 Jahre lang. 12 lange Jahre.
Dann kam eine Phase, in der sich sein Körper wehrte. Sein Körper, der sonst immer mitspielte; der in jungen Jahren durchtrainiert war und davon lange gezehrt hatte; der noch immer gut gebaut erschien, zumindest so lange die Kleidung die doch schon schlaffer werdenden Partien kaschierte und die älter werdende Haut verdeckte. Anfang 40 steht man in der Mitte des Lebens, da hat es schon Spuren hinterlassen. Vor zwei Jahren also, nach 12 Jahren nervenaufreibenden Lehrerdaseins, begann für Christian Aufwieser das Herz zu schlagen. Ich habe ein Herz! Jetzt spürte er es klopfen, fühlte es am Handgelenk oder am Hals, zählte die Schläge, bemerkte die Unregelmäßigkeiten, die Stolperer. Und diese waren bald überall, im Bauch, im Kopf, im entzündeten Zeh. Im Spiegel sah er sein Herz pochen, so als wollte es aus der Brust herausspringen.
Und Christian dachte nach. Er fragte sich, wie es möglich sein soll, dass ein Herz so viele Jahre immer weiter schlägt, immer weiter und nie ermüdet. Aber es gab viele alte Menschen und das gab ihm die kleine Hoffnung, auch sein Herz könnte noch einige Jahre durchhalten. Er wusste, dass man das Herz trainieren kann, indem man es anstrengt. Ist halt auch nur ein Muskel. Er begann zu joggen, aber das machte ihm keinen Spaß. Das Schwimmen hatte man ihm empfohlen, aber das kalte Wasser war ihm schon immer ein Graus. Radfahren, ja das war eine Möglichkeit. Aber wie sollte er die sportlichen Aktivitäten einbauen in seinen mit Arbeit angefüllten Alltag? Unterrichten, korrigieren, vorbereiten – er nahm alles sehr genau, wohl immer viel zu genau. Danach konnte er sich zu nichts mehr aufraffen, schon am frühen Abend schlief er erschöpft ein.
Dann, im neuen Schuljahr, kamen die ersten Tachykardien: Völlig überraschend lief der Herzschlag davon, er raste. 120, 144, ja 172 Schläge die Minute oder gar noch mehr. Zuerst hart, dann irgendwann ganz leise, kaum mehr spürbar. Um sich zu beweisen, dass er noch am Leben war, ging er hin und her. So lange ich noch laufen kann, lebe ich noch! Aber das Herz beruhigte sich nicht. Dann übergoss er sich seine Arme mit kaltem Wasser, hielt die Luft an, presste sie gegen den Bauch, probierte alles, was ihm seine Schwester geraten hatte. Seine „kleine" Schwester Annabell, die in einer Arztpraxis das Mädchen für alles war. Und die beruflich oft mit solchen Herzrasern zu tun hatte. Aber ihre Tipps halfen nicht viel. Das Herz beruhigte sich, wenn es sich beruhigen wollte. Das ängstigte ihn zusätzlich: Er hatte es nicht unter Kontrolle, hatte keine Macht darüber. Das Rasen kam und ging. Als es einmal eine halbe Stunde lang anhielt, gab er den Kampf auf. Er ergab sich seinem Schicksal, schloss mit seinem Leben ab, vertraute sein Leben seinem Herzen an. Das half! Da wurde es ruhiger. Und das schenkte ihm ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung. Sollte es doch noch nicht so weit sein? War sein Tod heute noch nicht vorgesehen?
Die Phase, in der Christian die Herzproblematik nach solchen Anfällen wieder verdrängen und einfach weiterleben konnte, diese Phase war inzwischen längst vorbei. Das Herz beschäftigte ihn nun angstvoll im Alltag. In den Schulferien erlebte er aber doch einmal Zeiten, in denen er sich fühlte wie früher, jung und gesund. Aber das hielt nicht lange vor. Dennoch wollte er nicht wahrhaben, dass irgendetwas an seiner Lebensart nicht stimmen sollte. Es gab für ihn ja keine Alternative. Wenn ich etwas mache, dann richtig! Das war seine Devise. Und ist es bis heute. Damals glaubte er noch, es wäre seine freie Entscheidung, dass er sein Leben so führte. Allenfalls meinte er, dass seine Arbeit ihm alles so vorgab. Damals spürte er noch nicht, dass ihm tatsächlich innerlich die Alternative fehlte. Er wurde durch seine unbewussten Ängste und Antriebe dazu gebracht, so zu leben! Aber das sollte er erst später erfahren.
Plötzlich war ihm alles zu viel. Nicht die Schule. Nein, die anhaltende Herzangst und die immer wiederkehrende Herzsymptomatik wurden ihm zu viel. Er folgte dem Ratschlag seines Arztes, zuerst einmal alles gründlich untersuchen zu lassen. Seine Angst hatte seinen Stolz gebrochen. Er ließ sich durchchecken, absolvierte alle EKGs, die im Angebot waren. Der Arzt nannte ihn irgendwann einen „Herzphobiker und verweigerte ihm weitergehende Untersuchungen. Er ersparte sie ihm! Es war ein guter, erfahrener Arzt. Er legte ihm nahe, Betablocker zu nehmen. Die seien gut, auch gegen den psychischen Stress. Widerwillig begann Christian, Tabletten zu schlucken. Es kratzte an seiner Größe, dass er sich dem Heer der Betablocker schluckenden Männer anschließen musste. Aber zum Heer der „Gesunden
, die einen Herzinfarkt erleiden, wollte er auch nicht gehören.
Rückblickend glich die danach folgende Zeit tatsächlich einer Erholung. Er hatte mit Medikamenten etwas unter Kontrolle gebracht. Kontrolle über sich zu haben, war ihm immer wichtig, überlebenswichtig. Aber auch das war ihm damals noch nicht bewusst. Er fühlte sich nun nicht mehr so beherrscht, nicht mehr so ausgeliefert an seinen Körper, den er in den Jahren zuvor zum ersten Mal als verwundbar erlebt hatte. Diese Medikamenten-Kröte musste er schlucken.
Sogar sein verkümmertes Privatleben kam etwas in Schwung. Im Sommer schloss sich Christian einer kleinen Gruppe Männern an, die das Radfahren entdeckt hatte. Seine Schwester Annabell hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Er hielt es aus, nicht in allem der Beste zu sein, bemühte sich aber, seine Konditionsdefizite schnellstens auszugleichen. Er hatte sich sogar einen Fahrrad-Heimtrainer gekauft. Aber sein Herz schickte ihm schon wieder die ersten Warnzeichen. Er war wieder zu ehrgeizig!
An der Schule gab es Veränderungen im Führungspersonal. Christians unmittelbarer Chef wurde ein fauler unangenehmer Typ, der aus einer anderen Schule zu ihnen versetzt worden war. „Hochgelobt, wie man sehr schnell erkennen musste. „Hochgeschlafen
wäre Christian lieber gewesen. Also eine Frau als Chefin. Der hätte er gut etwas beweisen können. Diese Illusion gestattete er sich. Bei einem Chef fühlte er sich sehr schnell als kleiner Junge, bei einer Chefin wäre das anders. Oder doch nicht? Er hatte ja mit Frauen keine Erfahrung.
Der neue Direktor hatte ihn bald auf dem Kieker. Einerseits war der froh, dass er Arbeit an gewissenhafte Lehrer abschieben konnte, andererseits musste der Chef darauf achten, nicht selber zu spüren, dass er seinen Untergebenen unterlegen war. Geschweige denn, dass diese das merken durften. So suchte der Direktor also eifrig nach Fehlern in der Arbeit seiner Lehrer. Das hatte er in den Jahren seiner Berufstätigkeit perfektioniert. Darin war er wirklich gut. An sich ja eine gute Fähigkeit eines Vorgesetzten.
Nicht alle strengten sich an. Es hatten ja nicht alle einen strengen und lieblosen Vater gehabt, den man überzeugen musste, doch etwas zu taugen oder bei dem man zumindest seinen Strafen auskommen musste, indem man möglichst wenig falsch machte. Aber Christian strengte sich an. Und der Direktor strengte sich an, Fehler