Gesichter der Seele: Geschichten, die ein Therapeut erzählt (Band 2)
Von Dr. Georg Rupp
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Buchvorschau
Gesichter der Seele - Dr. Georg Rupp
VORSPIEL:
EINLADUNG ZUM PAUSENTEE
Liebe Lesefreundinnen und -freunde,
der englische Dichter Samuel Johnson (1709-1784) strich die Bedeutung der Sprache mit den Worten heraus: „Die Sprache ist die Kleidung der Gedanken." Das finde ich einen schönen Vergleich. Auch ich flaniere gerne durch Sätze und Kapitel.
Ob die Anekdoten und Kolumnen, die ich für diesen zweiten Band gesammelt habe, den Ansprüchen des griechischen Philosophen Pythagoras (ca. 570-500 v. Chr.) genügen, weiß ich nicht. Er soll ja betont haben: „Man soll schweigen oder Dinge sagen, die noch besser sind als das Schweigen." Einen so hohen philosophischen Anspruch habe ich nicht. Aber vielleicht findest Du Dich in der einen oder anderen Geschichte wieder. Oder kannst sie nachvollziehen. Oder Dich an ihr reiben.
Gerne erinnere ich mich an meinen alten Lateinlehrer Dr. B. auf dem Arndt-Gymnasium in Krefeld, der immer dann, wenn ich auf eine seiner Wissensfragen eine falsche Antwort gab, mit seinem Standardsatz aufwartete: „Si tacuisses, philosophus mansisses. Auf Deutsch: „Hättest du geschwiegen, wärst du ein Philosoph geblieben.
Klar, jetzt ist es zu spät zu schweigen. Dieses Buch ist ja nun erschienen. Deshalb: Lieber Dr. B., falls Sie mir von oben zuschauen und meine Geschichten entschlüsseln können … seien Sie bitte wohlwollend. Ich habe im Studium zwar meine Philosophieprüfung bestanden, aber ich schreibe eher, wie mir der Schnabel gewachsen ist.
Und wenn ich mich jetzt in unseren Dr. B. hineinversetze, dann lächelt er wahrscheinlich von seiner Himmelswolke und denkt so ganz im Stillen: ‚Brav, der Bube hat sich Mühe gegeben. Der Georg ist ja doch nicht mehr so faul wie früher.‘
In diesem Sinn: Lasst uns einen guten Tee miteinander trinken und durch die Geschichten flanieren … Pause.
In herzlicher Verbundenheit
Dr. Georg Rupp
Diplom-Psychologe
Psychologischer Psychotherapeut
„Fährmann" (Wegbegleiter)
www.dr-rupp.com
1. GESCHICHTE
DAS LEBEN IST ZU KURZ
FÜR IRGENDWANN
Steht auf einer Karte. Der Ausschnitt eines Riesenrades ist zu sehen. Das wirkt wie eine Einladung: Steig ein, fliege mit mir dem Himmel entgegen. Heute. Nicht morgen. Carpe diem – nutze den Tag.
Es gibt Menschen, die verschieben alles auf irgendwann. Auf später. Oder auf viel später.
Sie verschieben die Prüfung, denn sie wissen ja noch nicht alles. Sie verschieben die Freude, denn sie haben sie sich noch nicht verdient. Sie verschieben ihren Wunsch nach Begegnung, denn sie könnten ja abgelehnt werden. Oder sie erfüllen sich alle Wünsche jetzt und sofort, weil sie ihre heutigen Pflichten nicht erledigen, sondern verschieben wollen.
Die „Aufschieberitis heißt in der Fachsprache „Prokrastination
. Hört sich nicht schön an, finde ich. Irgendwie kratzbürstig. Geht aber als Krankheit durch.
Szenenwechsel – ein anderer Spruch:
„Wenn Du an eine Weggabelung kommst – nimm sie!"
Manche Ratschläge können den gesunden Menschenverstand ganz schön strapazieren. Was soll denn so ein Spruch schon wieder? – Ist doch klar, denken vielleicht manche von Euch: Wenn ich an eine Weggabelung komme, muss ich mich entscheiden – rechts oder links. Aber dann dieses auffordernde, ultimative: „… nimm sie!"
Das kann schwierig sein und dauern. Vor allem dann, wenn keine Wegweiser an der Gabelung stehen. Da treten viele Menschen lieber den kompletten Rückzug an, als mutig nach vorne zu gehen, egal, wohin die Schritte führen.
Jedes Zögern, jedes Hin- und Hergerissensein im Leben (an der Weggabelung) ist aber auch eine Entscheidung. Nämlich die Nicht-Entscheidung. Wichtiger ist also, sich überhaupt zu entscheiden, als nur zu überlegen und zu zaudern.
Um Dich zu entscheiden, kannst Du zwischen mehreren Möglichkeiten wählen: Du kannst Plus-/Minuslisten anlegen, Blütenblätter zupfen, eine Münze werfen oder lernen, auf Dein Herz zu hören. Wenn es Dein Weg ist – geh ihn mit Freude und Zuversicht. Du kannst sonst nämlich viel verpassen.
Über 80-jährige Menschen in ihrer letzten Lebensphase wurden befragt, was sie in ihrem Leben versäumt haben. Die fünf Antworten, die am häufigsten genannt wurden, waren:
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben. – „Ich hätte nicht so viel gearbeitet.
– „Ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken. – „Ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten.
– „Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein."
Im Grunde finde ich den Gedanken „Träume nicht Dein Leben – lebe Deinen Traum" schon reichlich abgegriffen. Aber irgendwie stimmt er ja auch. Also: Die Weggabelung nehmen. Schnell aufs Riesenrad. Das Leben ist zu kurz für irgendwann.
UNTER DEM STRICH:
Die Antworten der Menschen in ihren letzten Lebensmonaten findest Du im Buch von Bronnie Ware: Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen, Arkana-Verlag 2013.
Im Lied „One day / Reckoning Song" des israelischen Musikers Asaf Avidan heißt es dazu:
„One day, baby, we’ll be old.
O baby, we’ll be old.
And think of all the stories
that we could have told …"
Die Psychologiestudentin und Poetry-Slammerin Julia Engelmann traf mit ihrer Interpretation dieses Liedes den Nerv einer ganzen Generation. Im Text beklagt sie ihre eigene Aufschieberitis. „Meine Liste ist so lang, aber ich werde eh nie alles schaffen – also fang ich gar nicht an." – Klar, was daraus folgt:
„Eines Tages werden wir alt sein
und an all die Geschichten denken,
die wir hätten erzählen können."
Verschieben ist nur etwas für Feiglinge. Schreiben wir also Geschichten, die wir später gerne erzählen!
Die vielen tollen „Weißt-Du-Nochs?!" unseres mutigen Lebens.
2. GESCHICHTE
WAS DARF’S DENN SCHÖNES SEIN?
„Was darf’s denn Schönes sein?, fragt der Tiefkühlmann an der Tür und lächelt. Ich habe heute Home-Office, also Bürotag, und kann öffnen. Seine Frage irritiert mich kurz. „Was darf’s denn Schönes sein?
hätte ich bei Schmuck, Kleidung oder Antiquitäten erwartet. Aber nicht unbedingt bei Porree, Hähnchenschenkeln und dicken Bohnen.
‚Also‘, funken meine Hirnzellen, ,entweder ist er gut geschult – oder er macht seine Arbeit gerne. Vielleicht ist er auch ein Lebenskünstler, dessen fröhliche Warmherzigkeit zwischen den Tiefkühlboxen nicht abgekühlt ist. Der liebt sein Leben. So sieht’s aus.‘
Die ersten Knospen stehen kurz vor dem Aufbruch. Sind ganz schön prall geworden. Mutter Natur bereitet sich auf die Fülle des Jahres vor. Ein älterer Freund sprach immer davon, wie sehr er das „Crescendo des Frühlings" liebt.
Was darf’s denn Schönes sein? Ein längerer Tag, ein Sonnenstrahl, ein guter Gedanke, ein liebendes Herz. Das Pferd auf der Koppel, die Katze des Nachbarn, die Fahne im Wind. Die letzten welken Blätter, die verspätet vom