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Milas Wunschliste ans Universum: Roman
Milas Wunschliste ans Universum: Roman
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eBook335 Seiten4 Stunden

Milas Wunschliste ans Universum: Roman

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Über dieses E-Book

Mila ist das, was viele sind: Nicht mehr jung und noch nicht alt, ausgestattet mit Mann und Kindern, angekommen in der Mitte der Gesellschaft. Was sie prägt ist ihre Unfähigkeit, etwas zu Ende zu bringen. Gefangen in den Erfahrungen, die sie als Kind gemacht hat, gelingt es ihr als erwachsene Frau kaum, ein gesetztes Ziel zu erreichen. So scheitern zwei große Liebesbeziehungen, ihr Studium der Japanologie bleibt ohne Abschluss und ihr Konto ist leer gefegt. Erst als ihre Kinder beginnen, ihr das Leben zu erklären und eine gute Freundin an Krebs stirbt, ändert sich alles für Mila. Der Tod der Freundin, die ihr Glück wünscht, die Begegnung mit einem Hund namens Herrn Müller und seinem Herrchen und der Verlust von drei Zehen, hilft ihr, sich an ihren Mut zu erinnern und am Ende genau das Leben zu leben, das sie sich vom Universum gewünscht hat.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Jan. 2020
ISBN9783750220973
Milas Wunschliste ans Universum: Roman

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    Buchvorschau

    Milas Wunschliste ans Universum - Sabine Wallner

    Widmung

    Für meine Kinder. 

    Die mir gezeigt haben, was Glück bedeutet, 

    wo der Mut wohnt und 

    wie meine Seele klingt, wenn sie frei ist!

    „Glück ist die Fähigkeit es zu erkennen!"

    Carolyn Wells

    „Sei glücklich!"

    Heike (2018)

    Introspektive

    Manchmal denke ich darüber nach, wie es wäre, wenn unser Leben auf verschiedenen Ebenen angelegt wäre, so wie eine Schichttorte. Wenn wir also zwar ein Leben hätten, aber die Chance, dieses auf verschiedenste Weise zu erleben. Vergleichbar auch mit einer großen Landkarte, auf der unzählige Wege eingetragen sind und Pfeilen, die in alle möglichen Himmelsrichtungen zeigen. Es gibt auf dieser Karte vielleicht auch einen Start-Punkt, wie auf einem Brettspiel, aber nicht unbedingt ein gemeinsames Ziel. Sondern viele verschiedene Etappen und unfassbar viele Wahlmöglichkeiten für den, der das Spiel beginnt oder – anders formuliert – sich auf den Weg macht. Wie ich mir das konkret vorstelle? Man kommt auf die Welt und entscheidet sich dafür, zu leben oder nicht. Wenn man sich für „nicht entscheidet, stirbt man bei der Geburt. Oder kurz darauf am plötzlichen Kindstod. Wenn man die Abzweigung „weiterleben genommen hat, geht es weiter. Dann kann man zum Beispiel die Option „ruhiges, zufriedenes Kind wählen. Oder man ist eins, dass sich die Seele aus dem Leib brüllt. Man kann sich entscheiden, Früh-Läufer" zu sein oder sich lange tragen zu lassen, den angebotenen Karotten-Brei auszuprobieren oder ihn auszuspucken, das neue Geschwisterchen, dass Mama und Papa einem vor die Nase setzen, zu lieben oder zu hassen. Und so geht es immer weiter! Jeder Moment in meinem Leben hätte auch anders gelebt werden können von mir. Wenn ich mir bewusst mache, wie viele Entscheidungen ich schon getroffen habe bis zum heutigen Tag, wird mir schwindelig. In etwa so, wie wenn man in den Himmel schaut in einer sternklaren Nacht und sich überlegt, wie viele Sterne man sieht und was denn da wohl hinter diesem einen blinkenden Stern noch alles ist. Man schaut und schaut so lange, bis man sich in der tiefschwarzen Unendlichkeit verliert und der Verstand kapituliert. Meiner tut das jedenfalls. Dann schüttle ich mich und fokussiere mich wieder auf mein – vielleicht – einziges Leben hier auf Planet Erde. Und denke darüber nach, wie unfassbar viele Varianten so ein Menschenleben bereithält von dem Tag an, an dem wir den ersten Atemzug tun. 

    Natürlich kann man jetzt sagen: „Aber so vieles ist vorgegeben: Dein Geschlecht, das dich in manchen Kulturen automatisch schlechter stellt. Oder dein Aussehen, weil du nun mal eine Mischung aus den Genen deiner Eltern bist. Ob du willst oder nicht. Und Aussehen auch darüber entscheiden kann, wie es so läuft, für dich.". An dieser Stelle würde ich behaupten, dass es so viele Menschen gibt, die beweisen oder bewiesen haben, dass man ganz genauso leben kann, wie man sich das wünscht. Unabhängig davon, wie die Ausgangssituation ist oder war. Das ist natürlich nur Theorie, das praktische, reale Leben ist manchmal irgendwie viel komplizierter, als ein Kalenderspruch. Ich habe also festgestellt, dass ich theoretisch ganz gut weiß, wie es gehen kann, so ein Leben. Dass ich aber real, auf meiner eigenen Landkarte, immer wieder vor einer Abzweigung stehe und keine Ahnung habe, wie es weiter geht. 

    Manchmal verbrachte ich an solchen Punkten eine gefühlte Ewigkeit und habe mir dort trippelnd - wie vor einer überfüllten Dixi-Damen-Toilette auf einem großen Musikfestival - die Beine in den Bauch gestanden. Manchmal hat mich das Schicksal von hinten geschupst und in eine Richtung geschoben, die ich so für mich gar nicht vorgesehen hatte. Wenn ich heute über meine Schulter blicke zurück in die Vergangenheit, dann sehe ich da keine gerade Linie oder einen stringenten Weg, den man nachvollziehen kann. Meine Lebenslinie ist eher vergleichbar mit dem zick-zack Lauf eines Hasen auf der Flucht. Oder mit den Aufzeichnungen eines Wehen Schreibers: Starke Ausschläge nach links wechseln sich ab mit wellenförmigem Gleichklang, ab und zu sticht ein Jahr heraus, weil es besonders intensiv gewesen zu sein scheint. Für jemanden, dessen Lebenslinie schön gerade verlaufen ist, sieht meines sicher richtig anstrengend aus. Das stimmt natürlich irgendwie auch. Was die zahlreichen Fältchen und die frühzeitige Tendenz zu grauen Strähnen in meinem dunkelbraunen Schopf erklären würde. Aber obwohl anstrengend, fühlt sich mein bisheriges Leben gut und richtig an. 

    Für mich sieht mein Weg aus wie der Lebenslauf eines Menschen, der viele Wege ganz bewusst gegangen ist um beim Gehen herauszufinden, ob sich die Schritte darauf gut anfühlen oder nicht. Es sieht nach Leben aus, dieses Leben. Es hat keine Vorzeichen. Es ist genau richtig, wie es ist. Weil es meines ist. Und ich bin gespannt, wie es weiter geht!

    Endlos

    Als ich etwa fünf Jahre alt war, fiel mir zum ersten Mal auf, dass es mir schwer fällt, etwas ganz zu Ende zu bringen. Damals hatte ich dafür noch keine Erklärung. Aber es war etwas, das mich ganz klar unterschied von meinen Altersgenossen und das mir selbst auffiel. Als Kind malte ich zum Beispiel an drei Bildern gleichzeitig, ohne eines zu vollenden. Später, als Schülerin, lagen auf meinem Nachttisch immer zwei aus der Stadtbücherei entliehene Bücher in denen ich abwechselnd blätterte, ohne je bis zur letzten Seite zu kommen. Einfach weil ich es nie schaffte, wenigstens eines von beiden bis zum Rückgabetag ausgelesen zu haben. Je älter ich wurde, desto eindringlicher wurden die Stimmen der Erwachsenen um mich herum, dass ich langsam in ein Alter käme, wo man erwarten dürfte, dass ich „bei der Sache bliebe. Es gab, jenseits meiner eigenen Verwandtschaft, ganze Kolonnen von Erziehern, Trainern und Freunden, die zusätzlich an mir herumgemäkelt haben, weil sie der Meinung waren, ich müsste mich ja nur noch ein „ganz klein wenig anstrengen, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Je lauter die Stimmen wurden, umso schwerer fiel es mir, über die Ziellinie zu gehen. Mich motivierten die Anregungen nicht, im Gegenteil. Fast vier Jahrzehnte lang blieb ich davon sogar relativ unbeeindruckt. 

    Mein Hang zum Unvollendeten hat sich im Erwachsenenalter sogar zu einem ausgeprägten Spleen gemausert. Das beginnt bei der Hausarbeit und endet bei dem Vorsatz, ein paar Kilo abzunehmen. Ich nehme mir fünf Kilo vor und bei vier höre ich auf. Ich putze alle Fenster im Haus bis auf eines. Das ist bei kurzfristigen Projekten nicht dramatisch. Bei langfristigen kann es zum Problem werden. Wenn man etwa an Karriereplanung denkt, an Beziehungen oder an künstlerische Projekte. Das einzige, was ich wirklich restlos und bis zu Ende durchgezogen habe, war die Geburt meiner Kinder. Hätte ich gekonnt, ich wäre bei meiner ersten Tochter bereits nach zwei Stunden wieder nach Hause gegangen. Nicht, ohne den Hebammen und Ärzten zugerufen zu haben: „Bringt diese absolut unwürdige Sache doch alleine zu Ende! Ich gebe zu, bei meinem zweiten und bisher letzten Kind, einem Sohn mit einem gefühlten Kopfumfang von 60 Zentimetern, hatte ich sogar Ansätze von Flucht. Zwischendurch brüllte ich der diensthabenden Hebamme und dem völlig überforderten Kindsvater abwechselnd meine Vorwürfe ins blässliche Gesicht. Dass es „so nicht weitergehe, dass ich diese Prozedur „barbarisch fände und „nicht einsehe, warum gerade ich nun schon zum zweiten Mal hechelnd vor einem grünen Gummiball knien musste und zeitnah die Gewalt über meine sämtlichen Körperfunktionen und –säfte zu verlieren drohte. Die junge Frau mit den grünen Katzenaugen nahm mich nicht wirklich ernst. Ich war wohl nicht die erste Gebärende, die sich kurz vor der Geburt entschied, das ganze Projekt abzubrechen und, wenn überhaupt, ein anderes Mal fortzuführen. Ich erinnere mich noch an die goldenen Sprenkel in ihrer Iris. Und genau weiß ich noch den Wortlaut ihrer Erwiderung. Er hat sich eingebrannt: „Sie bringen das jetzt hier zu Ende, meine Liebe. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig." Endlich kam der Junge, mein kleiner Bruno zur Welt. Glitschig und zerknautscht und doch wunderschön in seiner grotesken lila-bläulichen Hässlichkeit. Die Hebamme hatte Recht behalten: Uns blieb ja nichts anderes übrig.

    Wenn man aber die Wahl hat, und die hat man erstaunlicherweise sehr oft, gibt es jede Menge plausibler Entschuldigungen, die man sich selbst ausstellt, wenn man kurz vor der Ziellinie stehen bleiben möchte. Ich kenne die, die gesellschaftlich am stärksten toleriert werden. Man kann z. B. zu sich sagen: „Das Allermeiste hast Du ja jetzt geschafft. Du kannst Dir jetzt ruhig eine Pause gönnen. Oder „Auf einen Handgriff mehr oder weniger kommt es wirklich nicht an. Oder „Dieser Kurs, diese Yoga-Lehrerin ist unerträglich. Es ist nicht zumutbar, mir nicht zumutbar, sie auch nur einen Tag länger zu ertragen und fortzusetzen. Ich habe mich also die ersten vierzig Jahre meines Lebens ständig um ein sehr wichtiges Element betrogen: um das grandiose Finale oder schlicht um das Gefühl, es wirklich geschafft zu haben. 

    Aus meinen Schubladen, den echten und den anderen, quellen unfertige Entwürfe, halbfertige Einzelstücke, mehrere höchst ambitioniert begonnene Manuskripte, denen plötzlich, nach dem vierten, achten oder zwanzigsten Kapitel, die Worte ausgegangen sind. Seitenweise schwülstige Liebesgeschichten, Romane mit autobiografischen Zügen, kriminalistische Meisterwerke. Allesamt für die Papiertonne produziert. Meine alte Biologielehrerin, eine glühende Umweltschützerin mit militanten Ansichten, hätte diese Verschwendung von Material kommentiert mit: „So viele Bäume mussten sterben wegen der Charakterschwäche einer einzigen Frau. Irgendwie hat sie sogar Recht, die Gute. Ich gebe es zu! Bestimmte Projekte sind in meinem Lebensplan darum auch gar nicht erst vorgesehen. Ich werde, um nur ein Beispiel zu nennen, keinen Pullover fertig stricken. Ich kaufe mir lieber einen, bei den beiden Ärmeln gleich lang sind und an dem nirgends ein Bündchen fehlt, weil der, der gestrickt hat, plötzlich keine Lust mehr hatte, auch den linken Arm abzuschließen. Bisher fand ich das, ehrlich gesagt, auch gar nicht so schlimm. Irgendwie war es ja auch immer schon so. Wenn man etwas nur lang genug macht, dann wird es irgendwann normal und auch wenn andere sagen: „Das ist aber völlig schräg, irritiert einen das nicht weiter. Schließlich ist man daran gewöhnt. 

    Es ist nicht so, dass ich nicht auch manchmal Lust hätte darauf, auf dem Siegerpodest zu stehen. Ich erinnere mich nämlich dunkel daran, dass es schon auch in meinem Leben diese Erfolgserlebnisse gab, von denen die anderen später immer sprachen. Im Kindergarten wurde ein Hindernislauf mit Schubkarren organisiert. Ich lief als erste durchs Ziel und meine Erzieherin piekte mich in meine flache Brust, als sie mir die große „1. Platz" Papierblume an meine Bluse stecken wollte. Auf diese Blume war ich unfassbar stolz. Ich trug sie Tag und Nacht. So lange, bis ich vergaß, sie von meiner Bluse zu nehmen und Mutter sie mit wusch. Was mich so todtraurig machte, dass sie sogar davon absah mich zu bestrafen. Schließlich hatte sich das feine Papier während des Waschganges aufgelöst und alle Poren der Waschtrommel verklebt, die Farbe – ich meine es war ein kräftiges Rot – hatte zudem sämtliche Kleidungsstücke gefärbt. Aber meine Verzweiflung muss so groß gewesen sein, dass meine Mutter wohl fand, dass ich bereits bestraft genug war.

    Meinem „Nono, dem Vater meines Vaters, an den ich mich nur sehr schemenhaft erinnere, weil er starb, als ich sehr jung war, schenkte ich mit fünf Jahren ein Bild. Ich weiß ganz genau, dass ich so alt war, weil wir fast am selben Tag Geburtstag haben und meine kleine Torte mit fünf Kerzen neben seiner stand, die keine Kerzen mehr hatte. Offenbar findet mancher Erwachsene ab einem bestimmten Alter keinen Gefallen mehr daran, Kerzen auszublasen. Was ich überhaupt nicht verstehen kann. Schließlich ist das Auspusten der kleinen Flammen der Höhepunkt all meiner Geburtstage. Mein Geschenk an ihn war ein Portrait. Es war ein sehr großes Bild von ihm und zeigt ihn arbeitend in seiner Werkstatt. Dort bewahrte er alles auf, was man braucht, um Möbel reparieren, leimen oder bauen zu können. Ich hatte ein paar Stunden auf dem Boden gesessen in einem Haufen von wunderbar duftenden Hobelspänen und ihm zugesehen. Vor mir lag ein Blatt Zeichenpapier und eine Handvoll Buntstifte, die er mir zuvor mit einem scharfen Messer sorgfältig zugespitzt hatte. Wir wechselten kaum ein Wort, ich unterhielt mich nur leise mit „Gilu, meinem unsichtbaren Freund, mit dem ich mich unterhielt, wenn meine Eltern oder meine Schwester nicht in der Nähe waren. Dagegen wusste ich: Bei Großvater waren „Gilu" und ich sicher und ich war glücklich in diesem Moment. Auf dem Bild, das ich malte, war jedes noch zu kleine Detail zu finden, das ich an diesem Tag in Großvaters Werkstatt wahrgenommen hatte. Jede Schraubzwinge, jede Schachtel mit Nägeln oder Schrauben, jedes Brett und jedes vorwitzige Haar, dass unter der staubigen Werkstattmütze meines Großvaters hervorlugte, hatte ich verewigt. Es war mir nicht schwer gefallen, im Gegenteil. Ich freute mich über sein Lob, weil es ähnliches selten gab in meinem Elternhaus. 

    Mein Bild hing von da an fast sieben Jahre lang über seinem weinrot bespannten Canapé im Wohnzimmer, auf dem er sich nach dem Essen immer eine Stunde ausruhte und Mittagsschlaf hielt. Mit der Zeit wurde es heller und das Papier vergilbte. Als „Nono" starb, fand der Nachmittagskaffee in seinem Wohnzimmer statt. Großmutter hatte Kuchen gebacken und ich saß in einem steifen Kleidchen auf dem harten Rand der Tagesliege. Wie immer hatte ich schon beim Eintreten in den Raum versucht, einen Blick auf mein Bild zu werfen. Aber es hing nicht mehr an seinem Platz. Jemand hatte es abgenommen oder abgerissen und sich dabei nicht einmal die Mühe gemacht, die kleinen Nägel zu entfernen, mit denen es befestigt gewesen war. An einer Ecke hing noch ein kleiner unbemalter Zipfel Papier der leicht im Luftzug flackerte. Die Erwachsenen waren still und bedrückt, mein Vater weinte sogar, was ich bisher noch nie bei ihm gesehen hatte. Also wagte ich nicht, nach meinem Bild zu fragen. Wenige Tage danach geschah, was mein Leben für immer veränderte. Und als ich wieder denken konnte, hatte ich das Bild meines Großvaters vergessen.

    Baumstark

    Mein größtes Glück stand in unserem Garten am nördlichsten Winkel, fest verwurzelt seit Hunderten von Jahren und wartete geduldig auf mich. Die alte Eiche hatte schon dort gestanden, bevor meine Eltern überhaupt daran gedacht hatten, sich nieder zu lassen. Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass niemand dem Baum etwas anhaben konnte. Sie war genau so, wie ich gerne sein wollte: Über alles erhaben, stark und unbeirrbar. Niemand hatte ihr gesagt, sie solle sich in Acht nehmen und bloß nicht zu hoch wachsen. So war sie einfach jedes Jahr ein bisschen größer geworden und stand nun hier, hunderte Jahre später, riesengroß und mächtig. Niemand hatte sie gehindert und sie hatte niemanden gefragt. So einfach war es für sie gewesen. Sicher hatte sie schon weitaus bedeutenderes gesehen als unsere vierköpfige Menagerie aus mäßig glücklich bis eher unglücklichen und in unseren Verstrickungen gefangenen Menschen. Trotzdem hatte ich immer das irrationale Gefühl, sie war dort nur für mich gewachsen. Ihre Äste waren stark und weit verzweigt und wenn sie voll im Laub stand, war das Blätterdach so dicht, dass nur sehr dünne Strahlen den Weg zum Boden fanden. An heißen Sommertagen war es herrlich kühl unter ihrem Stamm. Ich war nicht nur einmal zu ihr geflohen, wenn die Luft im Haus so dick geworden war, dass sie sich nur noch schneiden, aber nicht mehr atmen ließ. Viele Jahre lang hindurch war es mein größter Wunsch, bis ganz nach oben zu steigen und in den Ästen der Eiche Zuflucht zu finden. Vor dem strengen Gesicht meiner Mutter. Den strikten Regularien. Der Gleichgültigkeit meines Vaters. Und den Eigenarten meiner Schwester. Dort würde ich mich lebendig und frei fühlen, davon war ich überzeugt. Meine Sehnsucht wurde nur gebremst von der strikten Ermahnung meiner Mutter, nur ja nicht daran zu denken, auch nur einen Meter in die Höhe zu klettern. Ich könnte mir weiß Gott was brechen. Und dann hätte sie die Scherereien, mit dem kranken Kind. Dabei war ich tief in mir drin ein mutiges Kind. Ich konnte mir zumindest alles vorstellen. Und ist nicht der Gedanke, den man sich traut zu denken, der erste Schritt in Richtung Verwirklichung? 

    Wäre ich als Junge auf die Welt gekommen, hätte mein Vater vielleicht irgendwann Position bezogen und meine Mutter dazu angehalten, mir mehr zuzutrauen und mehr Freiraum zu lassen. Vielleicht hätte er sogar mit mir den Baum besichtigt und mir gezeigt, wie ich ihn am besten besteigen kann. Wo etwas die dicksten und tragenden Äste wachsen und wo ich mich vor morschem Holz in Acht nehmen muss. Womöglich hätten wir an seinen freien Sonntagen gemeinsam ein Baumhaus in die Krone gesetzt, gesägt und gehämmert und wären uns nahe gewesen in Gesprächen, die wir zwischen Vater und Sohn in den Wipfeln unserer Eiche geführt hätten. Aber ich war kein Junge und so oblag die Hochheit über meine Erziehung und mein Tun ausschließlich meiner Mutter. Meinen Vater bekam ich lediglich am Esstisch zu Gesicht, manchmal bei gemeinsamen Ausflügen, die aber stets sehr manierlich verliefen, jenseits von Abenteuern, Wildnis und Freiheit. Dabei sehnte ich mich so unglaublich danach, meine Grenzen kennen zu lernen. Ich wollte nicht nur in einem meiner zahllosen Bücher davon lesen, was die Welt mir bot. Ich wollte es selbst erleben. Es musste wunderbar sein dort oben in der Baumkrone zu sitzen und den leichten Sommerwind zu spüren, das Rascheln der Blätter ganz dicht am Ohr zu hören und weit über das Land zu blicken aus einer Perspektive, die ansonsten nur Vögeln vorbehalten war. Meine Mutter sah das allerdings ganz anders. Sie hatte klare Vorstellungen davon, wie ein Mädchen zu sein hatte. Und auf Bäume klettern gehörte eindeutig nicht dazu. Ein, zwei Jahre begnügte ich mich also damit, mein Gesicht an die raue Rinde zu drücken und meine Hände nach oben wandern zu lassen. So lange, bis ich nur noch auf Zehenspitzen stehen konnte und meine kleinen Finger den ersten Ast umfassen konnten. Dieser sehr tief liegende, ausragende Ast war das Objekt meiner Begierde. Tausende Male hatte ich mir vorgestellt, wie es wohl wäre, mich dort hinaus zu hangeln. Und dann immer höher zu klettern. Es würde leicht sein. Davon war ich überzeugt. Ich war ein kräftiges, gesundes Kind. Mit langen Armen, starken Beinen und einem guten Gespür für meinen Körper, der mich verlässlich trug und nie im Stich ließ. Mein Herz wusste von meiner Kraft, mein Kopf zweifelte dagegen. Schließlich hatte meine Familie viel Zeit damit verbracht mir abzugewöhnen, an mich zu glauben. 

    Aber eines morgens war ich aufgewacht und wusste: Heute würde ich den Stamm hoch klettern bis in die Baumkrone! Es war ein milder Sommertag, ich erinnere mich genau. Das Haus schlief noch, es muss Sonntag gewesen sein. Ich hatte schulfrei und mich leise angezogen. Meine Vorfreude war groß, als ich im Garten angekommen war. Ich spürte schon das nasse Gras, das vom Morgentau glitzerte an meinen nackten Zehen und fühlte mich ungewohnt frei. Alles schien möglich in diesem kurzen Moment. Als ich außer Atem bei der Eiche ankam, sah ich nah am Stamm liegend ein kleines, fiepsenden, fast nacktes Vogelküken liegen. Es musste eben aus dem Nest gefallen sein und hob seinen kleinen Schnabel suchend in die Luft, als würde dort die Amselmutter mit einem Käfer oder einem Wurm warten. Der Anblick war nicht ungewohnt. Schließlich bot die Eiche nicht nur mir, sondern auch vielen anderen Lebewesen Heimat. Abgesehen von den Unmengen an Insekten, die sie wie die Arche Noah aufgenommen hatte, waren auch immer wieder Vogelnester vom Boden aus zu sehen, in denen die unterschiedlichsten Arten brüteten. Am treusten war die Amsel, die, wie es mir schien, jedes Jahr am selben Platz ihr Nest baute und tapfer ihre Eier, später ihre Küken bewachte. Obwohl regelmäßig ein oder zwei oder manchmal auch alle Jungtiere aus dem Nest fielen, bevor sie flügge waren, so wie jenes, das jetzt zu meinen Füßen lag. Dort am Boden wurden die hilflosen Jungtiere entweder gleich von einer der vielen streunenden Katzen gefressen oder verhungerten langsam, begleitet vom verzweifelten Gesang ihrer Eltern. Ich war mir auch sicher, dass ein Eichkätzchen ganz oben im Baum wohnte. Ab und zu sah ich es über die Wiese flitzen und bis ganz nach oben den Stamm hinauf rennen. Es verschwand in einem hohlen Ast und darunter fand ich immer die Schalen von Bucheckern oder kleinen Nüssen, die es von einem Strauch im Garten stibitzen. Ich lehnte oft mit dem Rücken an meiner Eiche und betrachtete liebevoll die Überreste der vielen Mahlzeiten, die sich dort fanden. Bis eines Tages keine neuen Schalen mehr hinzukamen, so sehr ich auch danach Ausschau hielt und ich feststellte: Keiner mehr, der dort oben im Giebel auf einem Ast knabbert und keckend durch die Dachkrone turnt. 

    Ein ähnliches Gefühl kam jetzt in mir auf und meine Freude schlug in Entsetzen um. Das Küken würde jämmerlich verhungern, wenn es niemand aufzog. Daran zu denken, meiner Mutter ein kaum entwickeltes Vogelkind ins Haus zu tragen, jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Es zu pflegen, zu füttern und dabei zuzusehen, wie es groß und flügge werden würde, war keine Option, die sich im Nahbereich meines Elternhauses verwirklichen lies, also zurück ins Nest, mit dem Küken. Ohne lange zu überlegen schob ich mir das nackte Amselbaby unter meinen Pullover, wo es eng an meinem Herzen lag und leicht zappelte, hob meinen Arm nach oben, packte den ersten Ast und schwang mich mühelos nach oben. Mit dem Blick in den Himmel kletterte ich weiter. Unbeirrt, schnell, als hätte ich nie etwas anderes getan Ich fühlte mich frei und die Zeit schien still zu stehen. Jedes Zeitgefühl verloren blickte ich mich suchend um nach jenem Nest, aus dem das Tier gefallen war und fand es sogar. Es hing nur wenige Meter über meinem Kopf in einer Astgabel. Noch wenige Griffe, dann wäre ich oben und das Küken sicher im Nest. Da schrie, gellend und schrill, eine Frau. Mila, bist Du den Wahnsinns! Sofort kommst du von diesem Baum herunter!. Meine Hände wurden zu Krallen. Der Schweiß lief mir augenblicklich den Rücken hinunter. Ich verlor alle Körperspannung und klammerte mich kraftlos an den Ast, den ich gerade noch voller Zuversicht als Verbündeten erkannt hatte. In dem Moment, wo meine Mutter rief: Das schaffst Du nie, Du fehlst runter und brichst Dir alle Knochen spürte ich, wie mir der Baum entglitt und ich rücklings den ganzen Weg nach unten fiel, den ich wenige Minuten zuvor so behände und mühelos in die andere Richtung überwunden hatte. Ich hörte mich noch rufen: „Gilu, hilf mir!". Aber mein unsichtbarer Freund, der mir bis dahin immer treu zur Seite gestanden hatte, war plötzlich verschwunden. An seine Stelle trat der harte Boden, auf dem ich landete. Den Schmerz in dem Moment, als ich unten aufkam, habe ich verdrängt. Ich kann mich nur noch an das Gefühl von Verlust, von Ohnmacht und unfassbarer Traurigkeit erinnern. Und daran, wie es sich anfühlt, ein zerquetschtes, totes Vogelküken am Körper kleben zu haben.

    Flickwerk

    Die Zeit im Krankenhaus war eine Art Meilenstein in meinem Leben. Ein wenig so, als wäre ich zuvor auf einer breiten Straße gefahren und hätte zahllose Kreuzungen und Wendemöglichkeiten gehabt, mich aber ab diesem Zeitpunkt für eine enge, schmale Einbahnstraße

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