Unrecht, Irrtum und Gerechtigkeit
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Buchvorschau
Unrecht, Irrtum und Gerechtigkeit - Helfried Stockhofe
Teil 1: Wer entkommt der Enttäuschung und Gewalt?
1
Wo willst du hin?
Sie sagte kein Wort. Sie wandte sich ab und ging. Sie hob nur die Schultern. Das war ihre Antwort. Hieß das Ich weiß nicht
? Oder zog sie den Kopf ein, aus Angst, er würde sie schelten wie der Vater der Kindheit, weil sie schon wieder nicht funktionierte und sich davonmachte? Auf jeden Fall ging sie weg und ihr Schritt beschleunigte sich.
Er lief ihr nicht nach, hielt sie nicht fest. Er rief nur: Warte doch!
Aber sie blickte sich nicht um, ging noch etwas schneller und verschwand um die nächste Häuserecke. Jetzt, wo sie ihn nicht mehr sehen konnte, eilte er ihr nach. An der Straßeneinmündung stoppte er und schaute vorsichtig um die Ecke. Sie lief wie ein junges Mädchen, das schnell nach Hause wollte, machte kleine, flinke Schritte, sah sich nicht um, sondern blickte auf das mausgraue Pflaster, so als müsste sie hundert Kaugummis ausweichen oder Hundekot oder vielen Glasscherben, dabei waren es nur Steinchen, die ein unbedachter Mensch von der Baustelle nebenan auf den Gehsteig geworfen hatte. Auch Steinchen können einem in den Weg gelegt werden, auch über Steinchen kann man stolpern. Und schon wieder bog sie ab.
Er hätte sie wohl nicht fragen dürfen, nach den vielen Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten, hätte bei einem Smalltalk bleiben müssen. Dabei fing das Gespräch gut an, sogar eine scheue Umarmung war drin. Er vermied es, Wie geht es dir?
zu fragen, weil er diese Anfangs-Floskel hasste. Vielleicht, weil er selbst darauf nicht antworten mochte, weil er nicht lügen konnte, aber die Wahrheit niemand etwas anging, sie auch niemand wirklich hören wollte. Nein, er sagte: Ich freue mich, dich zu sehen
und das stimmte. Sie konnte ihn immer noch nicht duzen, antwortete: Ich freue mich auch, Sie zu sehen!
Und auch das stimmte. Da war er sich sicher.
Zehn Jahre hatten sie sich nicht gesehen, vielleicht fast elf. Sie war erwachsen geworden, eine junge Frau, und er war immer noch zehn Jahre älter als sie. Seine jetzigen Schülerinnen waren zwanzig Jahre jünger als er, aber der Altersunterschied zu ihnen schien ihm immer noch gering. Die Schülerinnen mochten es wohl anders erleben. Damals jedoch, bei nur zehn Jahren Altersunterschied, wagten sie es, sich in ihren jungen Lehrer zu verlieben. Sie stießen bei ihm mit solchen Gefühlen nicht auf viel Gegenliebe, denn sie waren für ihn nur Schülerinnen. Er bemerkte kaum einmal ihr weibliches Äußeres, bei den meisten zumindest. Es gab auch einige besonders auffällige, nämlich sehr schlanke oder sehr dicke Mädchen, sehr geschminkte oder besonders schick gekleidete. Doch die meisten sahen äußerlich wie Jungs aus, seiner Wahrnehmung nach zumindest.
Sie war immer eine Dünne. Aufgefallen war sie ihm aber wegen ihrer Gescheitheit und ihrer geistigen Reife. Nein, auch ihr verlegenes Lächeln gefiel ihm. Und ihre langen brünetten Haare, hinter denen sich, wenn sie schrieb, ihr Gesicht verbarg. Er musste nie fürchten, dass hinter dem Haarvorhang ihre Blicke zur Nachbarin schweiften. Sie hätte nie abgeschrieben! Zu gewissenhaft war sie.
Doch eines Tages war sie weg! Ganz verschwunden. Nicht nur abgebogen hinter dem alten Haus dort unten am Ende der Straße. Nein, vor zehn Jahren war sie ganz weg, einfach abgehauen.
Warum bist du einfach abgehauen?
Er hätte das nicht fragen sollen. Wo bist du damals hin?
Warum sollte sie es ihm erzählen, jetzt, bei dem zufälligen Treffen irgendwo in der Stadt. Wie konnte er glauben, dass das große Rätsel mit einer ganz banalen Antwort nun geklärt werden würde, so einfach auf der lärmenden Straße zwischen den scheinbar kreuz und quer laufenden Leuten, die nicht ahnten, welche Dramen sich damals abgespielt hatten. Dramen, von denen nur sie wusste, und Dramen, die damals viele wussten, weil sie verschwand, die Jugendliche, fast schon junge Erwachsene. Die Eltern suchten sie, die Polizei, auch schon User sozialer Medien. Nicht einmal die emotionalen Aufrufe im Fernsehen brachten sie zurück. Knapp zwei Jahre später hörte man, dass sie noch am Leben wäre, keinen Kontakt wünsche, nicht gefunden werden wolle. Nun, sie war da alt genug, durfte ihr Leben selbstbestimmt führen. Es gab keine Nachforschungen mehr.
Das alte Haus am Ende der Straße war seit vielen Jahren unbewohnt. Die Fenster waren blind oder gar eingeworfen und ebenso wie die Tür mit Brettern zugenagelt. An den Außenmauern hatten unbekannte Sprayer versucht, dem Grau etwas Leben einzuhauchen. Wenn man vorbei ging, wehte ein dumpfer Geruch aus dem Haus, der einem das Vorbeieilen erleichterte. Ein Schandfleck in der Stadt. Nicht, dass es keine anderen Schandflecken gegeben hätte, aber hier in der eher noblen Gegend ...
Er wusste nicht, ob sie da irgendwie hineingelangt war. Ob sie da drin etwas suchte. Womöglich eine Zuflucht, ein Versteck. Sie war schon immer eine Zerbrechliche, die vor etwas davonlief und die nach etwas suchte, was sie daheim wohl nicht gefunden hatte. Also einen sicheren Ort, eine Zuflucht. Vermutlich suchte sie nicht Nähe. Solche Bedürfnisse gibt es erst nach der Sicherheit. Nähe ist ein Wagnis. Er bildete sich damals ein, dass er ihr eine Sicherheit hätte geben können, wenigstens hätte er es versuchen sollen, dachte er. Vor Nähe wäre sie ohnehin zurückgeschreckt. Spätestens dann, als er die Briefchen erwähnte, die er auf ihm nicht erklärlichen Wegen zugesteckt bekam, die er in seiner Aktentasche fand, wenn er sie im Lehrerzimmer öffnete. Auch die Briefe öffnete er. Anfangs. Doch nachdem er die Briefchen vor der Klasse mit den ältesten Schülerinnen ansprach und nebenbei die Bemerkung fallen ließ, er könnte sie dem Direktor vorlegen, hielten sich die Schreiberinnen zurück, auch die jüngeren Schülerinnen, die aus anderen Klassen. Auch bei den Jüngeren hatte sich seine Drohung wohl herumgesprochen.
Die Briefe waren nicht von seiner Scheuen, die hinter ihrem Haarvorhang ihr Gesicht verbarg, denn deren Schrift war auffällig, extrem klein, er hätte sie erkannt. Sicher hätte er die Schriften einer oder mehreren Schülerinnen zuordnen können, aber er wollte es gar nicht wissen. Er wollte auch niemand aus dem Kollegium darüber informieren. Wer weiß, wie die Kolleginnen und Kollegen reagiert hätten ... Vielleicht sich lustig gemacht, jemand bloß gestellt. Vermutlich ihn zuerst.
Er hatte es immer als Fehler gesehen, dass der Direktor der Schule seine Tochter nicht auf eine andere Schule geschickt hatte. Doch dieser war so von seiner Lehranstalt
überzeugt - und von sich natürlich - dass er sein begabtes Mädchen unbedingt an seiner
Schule unterrichten ließ und selbstverständlich sich oft nach ihrem Auftreten
erkundigte. Er ahnte wohl schon, dass die Leistung weniger ein Problem war als das Verhalten seiner Tochter. Der Lehrer vermied es, die Scheue dem Vater gegenüber zu outen, vielleicht war das ein schlimmes Versäumnis. Er hätte sie als schwierig
darstellen müssen, dann hätte der Vater reagiert und es wäre nicht zu ihrer Flucht gekommen.
Er hatte sie verloren.
Dieses Gefühl, dass ihm damals sehr zu schaffen machte, tauchte am Tag des Wiedersehens erneut auf. Freilich nicht mit dieser Wucht, sondern eher als eine eingebrannte Erinnerung, wieder hervorgeholt durch das Verschwinden der jungen Frau irgendwo hinter den Mauern dieses herabgekommenen Gebäudes - oder vielleicht woanders. Ich habe sie verloren ... oder hatte ich sie hinter ihrem Haarvorhang nie wirklich gesehen, nie wirklich erreicht?
Am nächsten Tag konnte er nicht anders. Irgendjemand musste er doch dieses Wiedersehen mitteilen. Er gab seine Begegnung forsch in die Runde hinein. Ja, sagte man ihm, das sei doch bekannt, dass die Schülerin nun bei ihrer Mutter lebe. Keiner hatte es für nötig befunden, ihn das auch einmal wissen zu lassen. Für die anderen