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Unabwendbare Zufälligkeiten: Einen Sommer lang – im Netzwerk der Zufälle
Unabwendbare Zufälligkeiten: Einen Sommer lang – im Netzwerk der Zufälle
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eBook745 Seiten10 Stunden

Unabwendbare Zufälligkeiten: Einen Sommer lang – im Netzwerk der Zufälle

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Über dieses E-Book

Eine kleine Siedlung ist Mittelpunkt dieser Geschichte. Die Bewohner leben kontaktlos nebeneinander her, irgendwann vor Jahren ergab es sich so. Stille, Desinteresse, jeder ist nur mit sich selbst beschäftigt.
Dann wendet sich das Blatt. Plötzlich taucht ein Fremder auf und ein Sog an Zufällen, in welchen nach und nach alle mit einbezogen werden, beginnt. Nichts ist so harmlos wie es bisher aussah ... Unvorhersehbare Unruhen halten die Nachbarschaft in Atem, Liebe, Chaos, Hass, Totschlag, Gutes und Böses läuft parallel. Fragwürdige Liebschaften mit Folgen. Lügen, Betrügereien, ein Ehedisput, der blutig endet. Ländliche Ruhe und Stille sind dahin. Und doch führt schließlich alles zum Happy End.
Die Autorin betont in diesem Werk besonders den Zufall – beziehungsweise, sie ist überzeugt – es gibt keine Zufälle! Unser Lebensweg ist uns vorgegeben. Begebenheiten, die uns jedoch in Wirklichkeit ein Leben lang begleiten, sind hier im Roman in nur einen Sommer gepackt. So manch einem Leser wird die eine oder andere Erinnerung an selbst Erlebtes, längst Vergessenes, evtl. wieder einfallen …
Wie die Glieder einer Kette – reiht sich Zufall an Zufall. Nur Zufall – oder doch Schicksal?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Feb. 2020
ISBN9783961360710
Unabwendbare Zufälligkeiten: Einen Sommer lang – im Netzwerk der Zufälle

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    Buchvorschau

    Unabwendbare Zufälligkeiten - Inge Borg

    1

    Susanne Schnells eilte zum Parkplatz. Den Autoschlüssel schon in der Hand, blieb sie für einige Sekunden an ihrem Wagen stehen, kopfschüttelnd öffnete sie dann die Tür und stieg ein. Der soeben unfreiwillig gehörte oder schon mehr miterlebte Klatsch und Tratsch zog noch einmal in ihrem Innern vorbei.

    Sie waren nach ihr in das kleine Steh-Café gekommen, zwei Frauen wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Eine vollschlank, eher klein zu bezeichnen und ihre Stimme leise, unauffällig. Die andere hoch gewachsen schon beinahe dürr, dafür aber laut redend, ja sehr laut sogar und immer mit flinken Augen umherschauend, vermutlich um festzustellen, ob nur ja auch alle Anwesenden mithörten.

    Susanne hasste derartiges Getratsche, sie versuchte nicht hin zu hören, aber bei diesem überlauten Wortwechsel war es nur bei einem Versuch geblieben. Das Gerede war derartig aufdringlich und direkt an ihre Ohren gedrungen, dass sie bestürzt aufgesehen und dann erst diese beiden Frauen wirklich wahrgenommen hatte. Anscheinend ging es denen um eine weitere, eine dritte Person, ebenfalls eine Frau. Diese erdreistete sich offensichtlich mit über fünfzig Jahren einen Mann zu heiraten, der nach Meinung der Lauten um etliche Jahre jünger sein dürfte als diese und der es bestimmt auch nur auf ‚versorgt sein‘ anlegte. ‚Der ist doch ein Filou, wie er im Buche steht! Und sie tut sich auch noch dicke mit dem Kerl, ich verstehe sie nicht, zeigt ihn stolz überall rum!‘ Irgendetwas wollte wohl die kleinere Dame zu der bisher recht einseitigen Unterhaltung beitragen, doch sie war entschieden zu leise. Ihre Freundin, oder wie immer sie ihr Gegenüber sah, überhörte und übertönte sie lautstark: ‚Das hätte ich nicht von ihr gedacht, dass sie es so nötig hat!‘ So abfällig ausgedrückt ging das auch noch weiter, dieses schäbige Herziehen über jene bestimmte Abwesende.

    Für Susanne war das bisher Gehörte mehr als genug. Die Gemütlichkeit in diesem Café war für sie dahin, sie zahlte und verließ das Lokal. Welch ein Glück, ich bin zufrieden wie es ist, brauche mir keinen Filou oder Kerl zu angeln – ganz bestimmt nicht, ganz sicher nicht, und sie fuhr los. Sie war sowieso inzwischen spät dran. Irgendwie musste sie sich total verzettelt, auch ein bisschen das Zeitgefühl verloren haben. Dabei wollte sie doch nur … Es kam ihr vorhin ganz spontan in den Sinn, genau heute, diesen Morgen für einen kleinen Bummel in der Stadt zu nutzen, ein wenig der ländlichen Stille entfliehen oder vielmehr, um in Horsts-Fundgrube einen Blick zu werfen. Horst Patt bekam sie jedoch nicht zu Gesicht. Zu dumm, ich hätte nach ihm fragen sollen, fiel ihr verspätet ein. Immerhin war ihr jetziges privates Gemälde so gut wie vollendet und danach – ob Horst Patt noch an weiteren Bildern von mir interessiert ist?, fragte sie sich. Aber jetzt galt es schnellstens nach Hause zu fahren, den dämlichen Tratsch aus dem Kopf zu bekommen – mein Gott wie blöd –, lieber das Mittagessen auf den Tisch bringen für ihren Sohn und sich selbst. Oft war es nicht mehr vorgekommen in den letzten Jahren, dass sie in die Stadt fuhr, nur so zur Ablenkung schon gar nicht. Doch heute war ihr danach gewesen. Eigentlich gab es keinen Grund die Stadt aufzusuchen, denn sämtliche Einkäufe und Besorgungen konnten im nahen Ort getätigt werden. Es gab nichts, was es dort nicht gegeben hätte – außer, den Bahnhof natürlich und Horsts-Fundgrube, wohin sie einst jahrelang ihre Bilder zum Verkauf brachte. Und genau darum war es ihr auch hauptsächlich gegangen, als sie die blitzartige Idee fassend auf und davon in die Stadt aufbrach. Die Fahrt war umsonst, dachte sie und erkannte: Ich hätte vorher anrufen sollen. Und die Rahmen? Nein! Irgendwie gefiel ihr keiner so wirklich und unschlüssig ließ sie die Finger davon. Na, ja, dass sie dann noch in dem kleinen Café einkehrte, dumm gelaufen.

    Immer noch gedanklich etwas abgelenkt, deckte sie den Tisch. In der Pfanne brutzelte das Fleisch und jeden Moment konnte … Da fiel mit einem lauten Krachen die Haustüre ins Schloss. Michael – ach du liebe Zeit, was war ihm denn jetzt schon wieder in die Quere gekommen?

    Im nächsten Moment flog die Küchentür auf, der Schulranzen wurde unsanft abgestellt und Michael flappte sich stumm auf die Bank hinter den Tisch. Es war deutlich sichtbar, irgendetwas musste ihn restlos verstimmt haben. Beide Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf zwischen die Hände gestützt ging sein finsterer Blick unter den Augenbrauen durch zu seiner Mutter.

    Sie sah ihn prüfend an, das kannte sie ja, dieses plötzliche Aufbrausen, welches zum Glück genauso schnell auch wieder abflaute. Warum nur ließ er sich immer derartig aus der Fassung bringen? „Also, Micha – was ist? Sag schon!"

    „Mama, da saß gerade einer am Steg und angelte."

    „Und, du hast ihn gefragt, ob er nicht lesen kann, oder?"

    „Ja Mama, hab ich, genau das habe ich zu ihm gesagt, ganz genau so, aber er hat ganz verdutzt rumgeguckt und zurück gefragt, von was ich eigentlich sprechen würde. Und dann schlug Michael mit der Faust auf den Tisch. „Mama, unser Schild ist weg! Weg! Es liegt auch nicht im Gras oder Schilf, falls du das meinst, es ist weg, verschwun-den!

    Susanne überlegte, das letzte Mal waren sie im Herbst, etwa Ende November am Fluss gewesen, jetzt war April bald vorbei und sie fragte: „Micha, denk mal nach, im Herbst war doch noch alles in Ordnung, das Schild stand und es war auch nicht wackelig. Und neulich, als du am Steg unser Uferstück bereinigt hast, stand es denn da noch? Und die anderen Hinweise am Parkplatz, waren die auch noch da?"

    „Ja klar! Alles war wie immer. Nee Mama, das ist nicht umgefallen, überleg mal, dann müsste es doch irgendwo liegen. Nein, nein das hat jemand verschwinden lassen, mit Absicht!"

    „Wozu denn? Welchen Zweck soll das denn haben? Oder, es soll nur ein Streich sein, von Jugendlichen oder so."

    „Mensch Mama – meinst du, die kommen aus dem Ort, laufen fast einen Kilometer, nur für ein Verbotsschild verschwinden zu lassen? So’n Quatsch! Und dann geht auch noch jemand hin und angelt? Rein zufällig oder wie? Das ist doch gewollt!"

    Schon komisch, ja. Michaels logischer Gedankengang war nicht vor der Hand zu weisen. Angeln konnte man schließlich am ganzen Fluss entlang, wenn auch nicht so bequem wie vom Steg. Möglicherweise steckte System dahinter. „Sag mal Michael, kanntest du denn den Mann? Ich meine den Angler, und wie hat er reagiert?"

    „Genau so sauer wie ich! Er hat seinen Eimer mit den drei gefangenen Fischen in den Fluss gekippt, seine Angel zusammen geräumt, sorry gemurmelt und ist durch den Pfad zurück zum Parkplatz gestampft. Da stand nämlich ein Jeep, der gehörte ihm bestimmt, würde zu ihm passen. Und nein, den hab ich noch nie gesehen."

    Susanne hörte schon nicht mehr so richtig hin und überlegte laut: „Dann werde ich wahrscheinlich nicht drum herum kommen ein neues Verbotsschild zu kaufen, gehe morgen mal in Bergers-Markt. Sie sah ihren Sohn an und schlug vor: „Wir sollten aber vielleicht trotzdem erst mal nachsehen, ob die Schilder am Parkplatz noch einwandfrei zu lesen sind oder inzwischen durch Sträucher verdeckt werden. Zu blöd, dass es immer wieder Leute gibt die mein und dein nicht unterscheiden können. Wie sieht es denn überhaupt aus, müssten wir nicht längst wieder die wilden Gewächse schlagen und zum Verbrennen sammeln?

    „Dazu ist es jetzt zu spät, oder zu früh, Mama. Erst müssen die Enten und Vögel flügge sein, die letzten ihre Nester verlassen haben. In fünf oder sechs Wochen geht das frühestens. Bis zum Steg ist alles sauber und der Pfad ist frei, jedenfalls bis hinterm Parkplatz, weiter hab ich mich natürlich nicht umgesehen, konnte ja nicht ahnen was da auf uns zukommt. Es eilt also nicht."

    „Was? Wer hat denn das Stück Pfad sauber gemacht, und sogar hinter Schmitz? Die doch ganz bestimmt nicht", sagte Susanne erstaunt.

    Michael hob die Schultern. „Wenn wir das wüssten Mama, dann wüssten wir wahrscheinlich auch, wer das Schild geklaut hat! Auch wenn er vorläufig noch nicht so recht den Sinn dafür erkennen konnte, außer vielleicht: Wegen unerlaubtem Angeln? Wofür sonst? Eines war ihm vollkommen klar: „Unser Schild ist geklaut! Glaub‘s mir, Mama.

    Susanne hielt das von ihrem verstorbenen Mann so geliebte Endgrundstück am Fluss hoch in Ehren, auch wenn sie sich seit Jahren eher selten dort aufhielt. Da waren so viele Erinnerungen, die sie immer noch traurig stimmten. Ich muss mich endlich wieder kümmern, nicht alles Micha überlassen, entschloss sie sich und schüttelte den Kopf, welch ein verrückter Tag.

    Damals, als die Gemeinde das breite Flussufer den wenigen anliegenden Grundstückbesitzern zum Kauf anbot, griff Mark Schnells sofort zu, das kam ihm vor wie gesucht und gefunden. Ein Stück eigener Fluss, die Füße hinein baumeln lassen und angeln. Sogar das Stück hinter dem Weber-Besitz kaufte er mit, denn die allein stehende Frau Weber sah keine Verwendung dafür. Im Gemeindebüro begrüßte man es, dass in der abseits gelegenen Kleinsiedlung Bergstraße Interesse für die Uferstücke bestand. Es wurde sogar an der etwa 900 Meter langen, sich windenden Wiesen- und Ackerstrecke unmittelbar am Fluss entlang, ein Fußweg eingerichtet. Allerdings entwickelte der sich inzwischen mehr und mehr zu einem Trampelpfad. Und damit dieser Weg nicht nur von den Anliegern genutzt werden konnte, wurde an der Straße ein kleiner Parkplatz geebnet, direkt angrenzend an das Anwesen der Familie Schmitz. Es gab damit nicht nur für Anlieger die Möglichkeit, entlang dem Fluss die Haupt-Ortschaft fußläufig zu erreichen, sondern auch für Jedermann, Ausflügler oder Spaziergänger. Der Parkplatz wurde zwar nur grob mit Schotter aufgefüllt, er war auch schon längst mit Gras und Moos überwuchert, aber das störte die seltenen Besucher, ebenso Angler und Schwimmer, die ab und an von außerhalb gerne diese Möglichkeiten nutzten, nicht. Hinweisschilder am Parkplatz zeigten mit Pfeilen den nach rechts führenden Fuß- oder Spazierweg in den Ort. An dieser gesamten Strecke war Angeln erlaubt. Ebenso auch an einer besonders seichten Stelle das Baden. Der nach links zeigende Pfeil kennzeichnete die Privatgrundstücke, mit zusätzlichem Vermerk: Kein Durchgang! Obwohl dies sehr deutlich angezeigt und erkennbar war, kam es in den ersten Jahren oft vor, dass Fremde neugierig auf den privaten Uferstreifen herumliefen, sogar mehrmals bis in die Gärten vordrangen. Herr Schmitz Senior war darüber mehr als verärgert, er grenzte kurzerhand sein Doppelgrundstück bis an den Pfad mit einem Wildzaun ab. Das Schmitz-Grundstück war besonders betroffen gewesen, denn einige Male muteten Plünderer seinem Garten Besuche zu, hinterließen nicht nur ihre Spuren, sondern ließen wie selbstverständlich einiges mitgehen. Zusätzlich befestigte er noch ein kleines Schild an diesem Drahtzaun, nur mit dem einzigen Wort „privat" dick und fett gedruckt. Danach wurde es etwas besser. Es gab zwar leider noch vereinzelt unverschämte Menschen, die es auch weiterhin nicht schafften anderer Leute Eigentum zu achten, doch weiter wie zum Grundstück der Schnells führte der Pfad ohnehin nicht und so glaubte man, irgendwann werde es hoffentlich uninteressant, die Privatgegend zu erkunden.

    Mark Schnells Versuch, den Teil hinter dem Weber-Grundstück als Liegewiese urbar zu machen, schlug fehl. Die Schilf- und Binsengewächse, die hohen, harten Stauden waren stärker. Der Wildwuchs würde nie vollständig zu bremsen sein, aber das beabsichtigten sie auch nicht wirklich. Mark pflasterte mit Naturplatten einen Fußweg durch das gesamte Grundstück vom Haus bis zum Fluss, über den man bequem und trockenen Fußes direkt zum Ufer gelangte, oder umgekehrt. Am Ufer verankerte Mark den breiten Holzsteg, den er mit Michaels Hilfe selbst zimmerte und imprägnierte, der auf Stahlstelzen stehend bis in den Fluss hinein reichte. Als Mark noch lebte, beschäftigten sie sich fast jeden Abend und an den Wochenenden der wärmeren Jahreszeit hier oder ruhten sich einfach nur aus. Susanne fand zu ihrem Hobby zurück, nach langer Zeit. Sie malte wieder. Mark gefielen ihre Bilder, ihre Heidelandschaften. Irgendwann einmal fragte er sie: ‚Warum malst du nicht mal diese Landschaft hier?‘ Damals sagte sie lachend: ‚Vielleicht später, erst muss ich meine uralten Erinnerungen festhalten‘. Wie hätte sie ahnen sollen, dass Mark dieses in Aussicht gestellte Gemälde niemals solange er lebte würde sehen können. Mark liebte Susanne, aber: ‚Uralte Erinnerungen? Du bist gerade was über dreißig‘, war seine verständnislose Reaktion gewesen. Und Susanne konnte heute noch über ihren Realisten lächeln. Sie saß stundenlang an einem Bild und vergaß die Wirklichkeit. Der Realist Mark fand indessen die hohen Erlen, die Trauerweide mit tief herab hängenden Zweigen und die alte Birke mit dem inzwischen recht knorrigen Stamm, romantisch. In all dem entdeckte er mit der Zeit den Ausgleich zu seinem stressigen Architekten-Beruf. Das war sowieso ziemlich erstaunlich gewesen, wie unkompliziert sich dieser Stadtmensch der ländlichen Gegend so schnell anpassen konnte. Und doch, auch Mark empfand diese Neugierde verschiedener unhöflicher Leute nicht gerade lustig. Und eines Tages kam ihm der Gedanke, den unerwünschten Besuchen endgültig ein Ende zu bereiten. Umgehend ließ er in der Stadt ein Schild anfertigen, dessen Text jedem normalen Leser verständlich sein dürfte. So jedenfalls glaubte Mark.

    PRIVATBESITZ

    BADEN – ANGELN & FISCHEN

    NICHT GESTATTET

    Der Eigentümer

    Verboten, dieses Wort war für ihn nicht in Frage gekommen, wie es auf den fertig zu kaufenden Schildern stand. Außerdem hätte er dann zwei Schilder aufstellen müssen, denn gleichzeitig Bade- und Angelverbot auf einem Schild gab es nicht fertig zu kaufen. Seine Erklärung dafür: ‚Verboten, das passt nicht zu diesem idyllischen Ort! Erst recht nicht, weil meine geliebte Frau hier stundenlang ihre Bilder malt‘, und dazu zwinkerte er unverschämt mit seinem rechten Auge.

    Susanne schmunzelte, es war nicht oft vorgekommen, dass Mark romantisch wurde, doch sie konnte sich noch sehr gut an die versteckten Liebesbezeugungen ihres Mannes erinnern. Aber seitdem war so manches Jahr dahin gegangen.

    Jetzt kam Susanne plötzlich zu Bewusstsein, Michael lief am Ufer entlang, wieso? „Micha, sag mal, wollte Frau Pieper Markus und dich nicht von der Schule abholen?"

    „Hat sie auch."

    „Aber warum brachte sie dich nicht nach Hause, wie es abgemacht war?"

    „Ach Mama, Frau Pieper hatte es supereilig, es war ihr schon viel zu spät für – irgendwas, keine Ahnung – da bin ich bei Markus ausgestiegen und gelaufen."

    „Das erklärt aber immer noch nicht, wieso du den Umweg am Fluss entlang genommen hast."

    „Nein, ich bin nicht den Pfad gelaufen, bin erst beim Parkplatz abgebogen, na ja, den Rest kennst du ja." Michael tat genervt.

    „Ja und wenn die Sportstunde nicht ausgefallen wäre, es Markus Mutter nicht so eilig gehabt hätte, und du nicht gedankenverloren in den Pfad abgebogen wärst, dann wüssten wir immer noch nicht, dass sich auf unserem Grundstück wieder mal Fremde herumtreiben. Noch schlimmer, Fremde, die sich wie zuhause fühlen.", rekonstruierte Susanne aufgebracht.

    „Zufall Mama, alles nur Zufälle!"

    „Nee, nee Michael, das denke ich nicht. Du glaubst doch, das Schild ist geklaut, was mir eigentlich inzwischen auch so vorkommt. Weiß zwar nicht so ganz wozu das gut sein soll, außer Fische angeln, wer davon einen Nutzen haben kann oder will, aber Zufälle wie du sie siehst, nee, daran glaube ich nun mal nicht! Da gibt es sonst noch was!"

    Michael verzog unwillig sein Gesicht. Jetzt geht das schon wieder los. Seine Mutter dachte ihm oft zu kompliziert, nur, wenn das Schild wirklich gestohlen wurde, wovon er überzeugt war, dann …?

    „Du weißt wie ich darüber denke, warte ab! Da steckt mehr dahinter, das war nicht alles. Angeln kann man an mehreren Stellen am Fluss, warum also ausgerechnet an unseren Steg?", setzte seine Mutter ihre Überlegungen fort.

    Dann bestimmte Michael sehr energisch: „Nachher gehen wir ans Ufer und suchen noch mal alles ganz genau ab! Wenn’s ja doch nur ein Schabernack war, kann es überall da herum liegen, sogar auch am Parkplatz." Er war zwar erst zwölf Jahre alt, aber seit gut fünf Jahren der einzige Mann im Haus und er erbte nun mal neben seiner realen und logischen Denkweise auch ziemlich viel von der Entschlusskraft seines Vaters!

    2

    Frank Hauff war verärgert. Einmal im Jahr um die Osterzeit machte er drei Wochen Urlaub. Angelurlaub! Aber so etwas war ihm bisher noch nicht passiert. Dieser Junge bluffte nicht. Irritiert schaute auch er umher auf der Suche nach einem Verbotsschild, welches wohl normalerweise im Bereich des Angelstegs stand. ‚Das ist unser Steg‘ hatte sich der Junge entrüstet und ihm war schließlich nur ‚sorry‘ über die Lippen gekommen, es war ihm vorläufig nichts weiter dazu eingefallen. Die bereits gefangenen Forellen hatte er wütend im hohen Bogen in den Fluss zurück geschüttet. Wie ein begossener Pudel war er durch den Pfad zum Parkplatz gegangen, mit der Angelrute und dem leeren Eimer. Die Angelutensilien hatte er achtlos in den gemieteten Jeep geworfen, um dann voller Zweifel zum Hotel Haus Agnes zurück zu fahren.

    Es gab zwei Möglichkeiten, entweder benutzte er unwissend seit eineinhalb Wochen den falschen Angelsteg und dieses Privatgrundstück gehörte nicht zum Hotel-Restaurant, wie es bisher für ihn den Anschein gehabt hatte, oder, und er wusste selbst nicht wieso ihm plötzlich dieser Gedanke kam, man brauchte mehr Gäste in dem Hotel? Ein Haus am Fluss – stand das nicht so in dem Flyer? Sollte dies eine Einladung speziell für Angler sein? Nur leider schloss ein steil abfallendes Ufer im Bereich des Hotels jede Angelmöglichkeit aus. Deshalb ließ man sich etwas einfallen auf Rückfragen betreffend Interesse am Angelsport? Man machte wissentlich falsche Angaben? Aber das wäre gesetzwidrig! Und das Schild, welches der Junge vermisste? War da nicht dieser Prospekt im Zimmer? Ein eigenartiges unerklärliches Gefühl beschlich Frank und er konnte es nicht einfach so verdrängen. Er parkte hinter dem Haus, schritt mit dem blauen Plastikeimer durch den Hintereingang direkt in die Küche, stellte ihn mit Nachdruck mitten auf einem Tisch ab und ging wortlos durch den Speiseraum zum Empfang.

    Der Koch rief hinter ihm her: „Der ist ja leer" und zeigte kopfschüttelnd auf den Eimer, den er mit ausgestrecktem Arm empor hielt.

    Frank machte nur eine kurze verächtliche Handbewegung und eilte geradewegs zum Aufzug, der ihn in die zweite Etage brachte. Dort bewohnte er das Zimmer 206, wobei die 2 einzig und alleine für die Etage stand. Er trat ein, ging zielstrebig zum Schreibtisch auf dem der Fernseher platziert war, ebenso lag eine Mappe dort mit einigen Prospekten des Hauses und der näheren Umgebung. Frank suchte das Faltblatt mit der Beschreibung: ‚Zum Angelsteg‘ und sah, er warf genau an diesem bezeichneten Platz seine Angel aus. Es gab anscheinend überhaupt nur diesen einen Angelsteg. Ein privater Angelsteg, der laut diesem Blatt zum Hotel-Restaurant Haus Agnes, direkt am Fluss gelegen, gehörte und mit dem Auto bis Parkplatz oder per Fußmarsch über einen Pfad entlang dem Fluss, erreichbar war. Das verstehe wer will, erneut keimten Zweifel in ihm auf. Das feste Schuhwerk tauschte er mit Sandalen, warf seine Weste achtlos aufs Bett, fuhr in die Halle hinunter und bat die junge Empfangsdame: „Rufen Sie bitte Frau Hackler, ich muss sie dringend sprechen!"

    Es vergingen einige Minuten, ehe die Inhaberin des Hotels freundlich lächelnd auf ihn zu kam. „Hallo, Herr Hauff, schon zurück? Das ging aber heute flott!"

    Frank Hauff holte tief Luft. Was, wenn er sich täuschen ließ, wenn alles ganz anders, der Junge unwissend war? Egal, die Sache musste geklärt werden! „Frau Hackler, während meinem Angeln kam ein etwa zwölf- bis dreizehnjähriger Junge zu mir und fragte, ob ich nicht lesen könnte. Er suchte nach einem Verbotsschild, welches aber nicht an seinem Platz stand. Was soll ich davon halten, was sagen Sie dazu?" Er zwang sich ruhig und bedächtig zu sprechen.

    Frau Hackler senkte kurz ihren Blick. Beschämt suchte sie offensichtlich nach einer Ausrede oder Erklärung und begann stockend: „Ich – wir – ich meine, dazu war ich noch nicht gekommen, Frau Schnells um ihre Einwilligung zu bitten. Ich hätte es ihr bezahlt, aber wie gesagt … Mit dem Schild, das war mein Mann, es liegt unten im Keller, es ist unbeschädigt. Wir hätten es wieder aufgestellt, bald wäre der Steg ohnehin aus unserem Angebot gestrichen worden, führte Frau Hackler ihre Erklärung fort: „In der wärmeren Jahreszeit müssen die Angler vom Ufer aus angeln, da dürfen wir den Steg nicht blockieren, redete sie sich heraus. Sie sah flehentlich zu ihm auf und bat um Verzeihung für die ihm entstandene Unannehmlichkeit.

    „Nein! Frank Hauff war jetzt endgültig verärgert. „Wie lange geht das denn schon so? Und überhaupt – wärmere Jahreszeit? Machen Sie meine Rechnung fertig, holen Sie das Schild aus dem Keller, mein Jeep steht hinten im Hof, legen Sie es rein. Und ich möchte die Adresse von dieser Frau, wie war noch der Name? Schnells? Also bitte, von Frau Schnells hätte ich gerne die Adresse! Sprach‘s, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand wieder im Aufzug. Im Zimmer angekommen, führte sein Weg ins Bad, er duschte und fühlte tief innerlich nichts als Ärger, was eigentlich bei ihm eher selten vorkam. Sein Entschluss stand fest, ich haue ab. So packte er seinen Koffer und die Tasche, verließ das Zimmer, schloss die Türe hinter sich ab und fuhr erneut zum Empfang hinunter. Auf gar keinen Fall würde er hier auch nur noch eine Minute länger wohnen bleiben! „Bitte meine Rechnung!" Frank legte den Zimmerschlüssel auf die Theke, stellte sein Gepäck ab und griff nach der Brieftasche.

    Die Rechnung lag jedoch noch nicht vor und verdutzt fragt die Dame im Empfang: „Aber, Herr Hauff, wollten Sie nicht auch noch nächste Woche …?"

    Frank Hauff ließ sie nicht ausreden, sagte sehr bestimmt: „Ich hole inzwischen meinen Jeep vom Hof. Mein Gepäck lasse ich so lange hier stehen, aber dann möchte ich zahlen!"

    Die junge Dame, Hofmann stand auf dem Schild neben der Klingel, nickte leicht verschüchtert und griff zum Telefonhörer.

    Als Frank Hauff um die Hausecke bog, entfernte sich der alte Hausmeister gerade vom Jeep. Er hinkte leicht und seine Bewegungen waren langsam. Er hörte wohl Franks Schritte, drehte sich um und grüßte wortlos mit seiner linken Hand. Frank bemerkte nun das Schild samt Befestigungspfahl im offenen Jeep und ging auf den alten Mann zu, der sogleich eine Erklärung lieferte: „Ich habe es aus dem Keller geholt. Habe Alfons längst gesagt, so was tut man nicht, aber gegen den kommt keiner an!"

    „Interessant, Herr … Herr?"

    „Müller, Müller ist mein Name."

    „Mein Name ist Hauff, Frank Hauff. Alfons ist wohl der Besitzer vom Hotel?"

    „Ja, ja und mein Schwiegersohn. Wir sind alle froh, wenn er nicht allzu oft hier auftaucht. Der Kerl hat einen Puff in der Stadt, nennt das Bar, dieser dreckige Zuhälter. Irgendwann bleibt er mal in seinem schmutzigen Milieu auf der Strecke – werde ihm nicht nachweinen!"

    Frank Hauff schwieg erschüttert, in was war er da nur hinein geraten? Einen Moment stand er noch unschlüssig da und sah Herrn Müller nach, der sich schwerfälligen Schrittes entfernte. Dann fuhr er den Jeep zum Haupteingang, stieg aus und lief hinein, um endlich zu zahlen und sein Gepäck zu holen.

    Fräulein Hofmann hielt ihm die Rechnung entgegen. „Die Chefin hat Ihnen 180 Euro in Abzug gebracht, weil Sie ja nun schon viel eher auschecken. Die gewünschte Anschrift steht auf der Rückseite, soll ich Ihnen sagen."

    Er zahlte. Fräulein Hofmann meinte nichts ahnend: „Einen schönen Tag noch und beehren Sie uns bald wieder."

    3

    „Ganz bestimmt nicht", murmelte Frank vor sich hin und lenkte sein Fahrzeug in die Bergstraße. In jene schwach ansteigende Straße, auf welcher er zum Angeln zu dem kleinen Parkplatz gefahren war. Doch diesmal führte sein Weg daran vorbei. Noch eine schwache Rechtskurve, das erste Haus tauchte auf, eines der beiden, welche vom Parkplatz aus für einen aufmerksamen Betrachter zu sehen oder mehr hinter Bäumen zu erahnen waren. Bisher beschäftigte er sich gedanklich nicht damit, ob und wie viele Gebäude oder eventuell gar Wohnhäuser hier existieren könnten, warum sollte ihn das interessieren? Er wollte nur seinem Hobby nachgehen und angeln. Dass es sich in diesem Falle so ergab, die Fische als Menü-Anreicherung der Restaurantküche zu fangen, war ihm gerade recht gewesen. Angeln war nun mal sein Hobby und die Möglichkeit für die Speisekarte Forellen zu fangen auch immer noch besser, als den Fang wieder frei zu lassen. Ja, Frank Hauff konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, geschweige denn Fischen. Für ihn war sein Hobby wirklich nur Angel-Sport!

    Das nächste Haus dürfte die 7 sein. Es war ein gepflegtes kleineres Haus. Durch einen schönen eingezäunten Vorgarten führte ein schmaler gepflasterter Fußweg zur Haustür. Das Gartentürchen stand einladend offen. Frank parkte und trat ein, lief über den Fußweg, stieg über zwei Stufen auf ein Podest und drückte den Klingelknopf.

    Als sich die Tür öffnete, stand der Junge von vorhin vor ihm. Und ehe Frank noch etwas sagen konnte, rief der laut ins Haus hinein: „Mama, der Angler ist da!"

    Susanne erschrak, oh Gott, Michael hörte sich grantig an, war das jetzt unhöflich? Oder? Dann stand sie dem Fremden im Halbdunkel gegenüber und musste schlucken, viel erkannte sie nicht von ihm. Nebenbei bemerkte sie, wie ihr Sohn den Weg in sein Zimmer fortsetzte, anstatt erst einmal abzuwarten.

    „Hallo, sind Sie Frau Schnells?", fragte der Fremde schroff.

    „Ja, das bin ich, entschuldigen Sie die Unhöflichkeit meines Sohnes."

    Darauf ging Frank aber erst gar nicht ein. Er wollte nur so schnell wie möglich diese Angelegenheit hinter sich wissen, sich für etwas entschuldigen was er zwar getan, aber nur unwissend verschuldet hatte, dann diesem Ort aller schnellstens den Rücken kehren. Einen dringenderen Wunsch konnte er sich beim besten Willen derzeit nicht vorstellen. „Kommen Sie mit mir." Frank Hauff streckte seine Hand nach Susanne aus, ergriff ungeduldig ihre Linke und zog sie hinter sich her hinaus.

    Susanne bemerkte einen dunkelgrünen Jeep. Sprach Michael nicht vorhin von einem Jeep? Sie sah sich nun den Mann erst einmal genauer an. Jetzt, bei Tageslicht, erkannte sie einen noch nicht sehr alten Mann, der geschmackvoll gekleidet war und so ganz und gar nicht wie ein Angler aussah. Was will der denn hier? Zaghaft entzog sie ihm ihre Hand, die er mit hartem Griff umspannte

    „Schauen Sie mal, das müsste es sein, begann Frank Hauff zielstrebig, doch im Aufsehen blickte er plötzlich in zwei blaue Augen und irgendwie, so schien es, stockte ihm für Sekunden der Atem. „Ich – äh – ich meine das Schild.

    Komischer Mann. „Wo haben Sie es gefunden? Woher wissen Sie denn überhaupt …?", beeilte sich Susanne zu fragen und verstummte sogleich mitten in ihrem Satz. Hatte sie ihn etwa angestarrt? Seine Augen waren dunkelbraun, schon beinahe schwarz, unergründlich. Schaute er sauer, gar verärgert drein?

    „Gefunden ist nicht das richtige Wort. Ich trage es hinein."

    Beide ergriffen sie gleichzeitig den Pfahl mit dem Schild und trugen es gemeinsam zum Haus.

    Damit wurde natürlich die geplante Suche nach dem Schild an Fluss und Parkplatz, für Mutter und Sohn, hinfällig. Ebenso auch ein eventueller Neukauf. Weil aber Susanne nicht wusste, was sie von alledem halten sollte, andererseits auch neugierig war wo dieser fremde Mensch ihr Schild auftreiben konnte, überhaupt, dass er davon wusste und es her brachte – vielleicht doch nur ein Jungenstreich?, lud sie ihn kurz entschlossen zum Tee ein. Sie führte den Fremden ins Wohnzimmer. Während er im Sessel Platz nahm, ging sie rasch in die Küche und setzte Wasser auf. Am Treppenaufgang rief sie nach Michael: „Komm runter Micha und trink mit Herrn – oh – und mir Tee."

    Der Fremde begann laut zu lachen. Es war ein sympathisches und auch ansteckendes Lachen. Offensichtlich war er doch nicht allzu sehr verärgert? Susanne und Michael, der die Stufen herab sprang, mussten unweigerlich einstimmen. Damit war das Eis gebrochen.

    „Entschuldigung, aber ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt, ich bin Frank Hauff und habe zurzeit meinen dreiwöchentlichen Jahresurlaub. Das bedeutet für mich angeln und auch ein bisschen faulenzen." Und er wunderte sich über sich selbst, wieso er sich auf die Einladung zum Tee überhaupt einließ, war da nicht vorhin sein fester Vorsatz gewesen, diese Gegend schnellstens zu verlassen?

    Im Gegenzug zum ersten Eindruck vom Angler, schien nun Michael auch beruhigt zu sein und beteiligte sich rege an der Unterhaltung. Er konnte Herrn Hauff sogar wider Erwarten dessen rechtswidriges Angeln verzeihen, noch ehe dieser die Geschichte vom verschwundenen und dann wieder gefundenen Verbotsschild erzählte.

    Sie aßen Kekse zum Tee, während Frank Hauff berichtete wie er zu diesem Schild gekommen war. Susanne wusste über die Verhältnisse im Haus Agnes in etwa Bescheid, dass die es aber nötig hatten zu unerlaubten Mitteln zu greifen, noch dazu einen Gast animierten, mit Fische fangen zur Bereicherung der Küche beizutragen, nur, weil sich dieser Sport als sein Hobby entpuppte, das hätte sie nicht für möglich gehalten. Das ging entschieden zu weit! Sie würde die Namensträgerin des Hotels, ‚Agnes‘ Hackler darauf ansprechen müssen.

    Frank Hauff erzählte auch von seinem anstrengenden Beruf als Abteilungsleiter in einem Großbetrieb, von derzeit zwölf Angestellten in seiner Abteilung und dass es deshalb in seinem Jahresurlaub so einfach wie möglich zuging. Er erzählte auch, dass er durch seinen Freund an dieses Hotel am Fluss Sieg mit Angelmöglichkeit gekommen war. Dies konnte nun wiederum nur bedeuten, Frank Hauff war nicht der erste Angler am Steg der Schnells! Allerdings der erste, der erwischt worden war! Das wäre auch die Erklärung dafür, dass immer wieder Fremde auf den Ufergrundstücken gesichtet worden waren. Wer weiß, wie viele Jahre das schon so ging? Eine ernsthafte Diskussion mit Frau Hackler wurde dringend nötig.

    „Die letzten Jahre bin ich immer irgendwo am Bodensee gewesen, erklärte Frank. „Nur diesmal ließ ich mich von Lukas überreden. Es war näher, ich sparte Anfahrtszeit. Lukas Rhode, er ist mein Stellvertreter in der Firma Hansen und gleichzeitig auch mein bester Freund.

    Mit Michaels Hilfe berichtete Susanne auch vom plötzlichen Tod ihres Mannes. Wie er damals im Winter versuchte, wie schon so oft davor, den angetauten Schnee vom Dach zu entfernen, als die Leiter, auf der er stand, seitlich zu rutschen begann und Mark herunterstürzte. Ihm wäre sicherlich nicht viel passiert in dem weichen, tiefen Schnee, aber da war diese kleine Mauer, alt, und im Sommer bot sie etlichen Blumenkästen Platz. Sie stand etwas geschützt und war inzwischen fast vollständig vom Schnee befreit gewesen, genau darauf war Mark hart mit dem Hinterkopf aufgeschlagen. Sein Genick war gebrochen, er spürte es wohl nicht mehr, hatte nicht leiden müssen. Kein wirklicher Trost für die Hinterbliebenen. Gerade noch lachend und scherzend, im nächsten Augenblick für immer schweigend. Es war alles so unvorstellbar schnell gegangen. Praktisch von einer Sekunde zur anderen waren sie völlig alleine auf sich gestellt gewesen. Eine sehr harte Zeit für Mutter und Sohn. Und diese kleine Mauer, die schon dort gestanden war als Mark das Haus kaufte, wurde von Michael mit seinen damals sieben Jahren wütend abgerissen. Mit Werkzeugen umzugehen, brachte ihm sein Vater früh bei. Die Mauer wäre eine bleibende Erinnerung an den Unfall gewesen, für beide unerträglich. Sie konnte und durfte nicht stehen bleiben! Die gesamten Reste der Mauer entsorgten sie nach und nach mit der Mülltonne, nichts sollte davon übrig bleiben!

    Die Zeit war mit erzählen nur so verflogen und es war bereits dämmrig, als Frank Hauff in seinen Jeep stieg, wendete und Richtung Stadt davonfuhr. Sie winkten sich zu und er rief: „Ich melde mich!" So, als wären sie alte Bekannte.

    4

    Es regnete. Wieder einer der düsteren Tage, an denen Helene Weber nicht in ihrem Gärtchen arbeiten mochte. Nötig war es ohnehin nicht, aber es ließ sich doch so gut über den Gartenzaun beobachten und es hätte ja auch eventuell mal die eine oder andere spontane Unterhaltung entstehen können, was ihrer Meinung nach sowieso selten genug vorkam. Ja, Helene war sehr vielseitig interessiert, wenn man das denn so nennen wollte, und sie wusste bestimmt auch sehr viel zu erzählen! Erst vor kurzem war sie sechsundfünfzig Jahre alt geworden. Sie verbrachte, wie üblich und wie alle anderen Tage auch im Jahr, diesen Tag alleine. Ohne einen nachbarschaftlichen Gruß, ohne ein paar Worte zu wechseln, es war einfach niemand zu sehen gewesen. Nicht, dass sie neugierig wäre, oh nein, aber ‚man muss doch am Leben seiner Mitmenschen teilnehmen’, war ihre Devise. Gemein, so einfach dahin gesagt: Helene Weber galt als die Klatsch- und Tratsch-Tante in der Siedlung, sogar bis in den Ort hinein. Und das dürfte sicher auch noch lange so bleiben, wenn nicht bald eine gravierende Änderung ihre Aufmerksamkeit in wenigstens halbwegs abwechslungsreichere Bahnen lenken würde. Oh ja, sie war durchaus über das Gerede der Leute im Bilde, was sie selbst anging, aber es machte ihr nichts aus, ganz und gar nichts! Sie warf einen Blick über den Zaun, komisch, das seltsame Schild steht immer noch neben Schnells Haustüre. Hm, w as stand denn heute an? Friseur, ja richtig, der war auch mal wieder fällig. Vielleicht sollte sie auch noch in die Schmiede fahren, dort könnte sie die Noppen kaufen, die unter die Stuhlbeine gehörten. An zwei Stühlen waren die derartig abgenutzt, vielleicht sollte sie sowieso dorthin zuerst fahren, also war zumindest der Morgen gerettet. Sie zog ihren Anorak über, hängte die Tasche um, nahm den Schlüsselbund vom Haken und verließ das Haus. Bevor sie jedoch zur Garage gehen konnte, um ihren Wagen heraus zu fahren, kam der Postbote am Gartentor an. Das passte! Ihr erstes Opfer war für diesen Tag gefunden. „Moment, Moment Herr May, ich komme, nehme die Post gleich in Empfang", rief sie, mehr singend als sprechend.

    Johann May war ein höflicher, junger Mann. Er kannte längst Frau Webers wissbegieriges, zugleich auch mitteilsames Wesen und beugte schon mal vor: „Drei Minuten, Frau Weber, nur drei." Dabei spreizte er drei Finger seiner rechten Hand und hielt sie in Augenhöhe, so als könnte Frau Weber es dann besser verstehen. Ob sie sich auch daran halten würde, war eine ganz andere Sache.

    „Stellen Sie sich vor, Herr May, Frau Schnells hat endlich wieder einen Freund, begann sie. „Nach so langer Zeit. Damit meine ich, seid ihr Mann tot ist. Er hat ihr auch ein Geschenk mitgebracht, der Neue, haben Sie es gesehen? Es steht schon seit zwei Tagen neben der Haustüre. Wenn Sie mich fragen, das ist ein ziemlich komisches Geschenk. Anscheinend weiß der Neue schon vom Steg am Fluss.

    „Jaja, Frau Weber, denke ich auch, jedenfalls passt der Text dahin", parierte Johann May etwas desinteressiert.

    Helene Weber wollte gerade so richtig los legen, da zeigte der Postbote auf seine Taschen, gab ihr die Briefpost direkt in die Hand, deutete auf seine Uhr, machte eine Handbewegung die anscheinend das Wort schade darstellen sollte und erinnerte daran: „Ich muss weiter, ich muss! Erzählen Sie mir demnächst mehr davon, Frau Weber. Wiedersehn." Damit schwang er sich auf das gelbe Fahrrad und fuhr eiligst zur nächsten Adresse.

    Helene Weber lenkte ihren Wagen zum Parkplatz der Schmiede, sah sich beim Aussteigen nach allen Seiten um, fand jedoch auf die Schnelle kein bekanntes Gesicht. – Jedenfalls noch nicht. Für die Kleinigkeit, die sie nur kaufen wollte, holte sie sich erst gar keinen Einkaufswagen und ging zielstrebig durch die Drehtür. Und, wie es der Zufall wollte, Berger Junior gab gleich hinter dem Eingang Anweisungen an zwei Angestellte. Das kam Helene Weber natürlich sehr gelegen. „Morgen Herr Berger. Morgen, und auf die mit Paletten beladene Karre deutend fragte sie: „Na, neue Ware bekommen?

    „Frau Weber, Sie habe ich aber lange nicht hier gesehen, geht es Ihnen gut?"

    „Ja danke, aber ich brauche nicht immer was vom Baumarkt."

    „Dann haben Sie noch nicht mein schönes Gartenparadies in der neuen Halle besichtigt, Frau Weber? Das sollten Sie aber unbedingt nachholen. Übrigens, bei diesem nassen Wetter ist einpflanzen neuer Blumen genau das Richtige!"

    Tüchtig, tüchtig! Der Junge weiß seine Ware anzubieten. Helene Weber lächelte ihn an. „Ich glaube, da besorge ich mir lieber vorsichtshalber direkt einen Einkaufswagen, so wie ich mich kenne! Sie blinzelte Ralf Berger zu und meinte: „Das muss ich unbedingt Frau Schnells erzählen, mit dem Paradies meine ich. Ach, haben Sie schon mitbekommen, Frau Schnells hat endlich wieder einen Freund!

    „Nein, hat sie?" Ralf Berger war durch seine Arbeit etwas abgelenkt und es war ihm im Moment auch nicht bewusst, wer diese Frau Schnells sein könnte, bezweifelte sowieso ob er das überhaupt wissen wollte.

    „Hat sie! Vor zwei Tagen kam er mit einem Jeep, wie lange die sich aber schon kennen, weiß ich nicht."

    Herr Berger begann plötzlich schallend zu lachen. Oh, diese redselige Weber. Ihm war inzwischen auch bewusst, wer Frau Schnells war.

    Helene Weber, ein wenig irritiert über sein lautes Lachen, zuckte die Schultern und schwieg.

    „Ist doch gut, Frau Weber. Ich gönne es der Frau", fand Herr Berger.

    „Aber ja, ich doch auch. Sie ist noch viel zu jung um alleine zu bleiben!"

    Eine Angestellte suchte den Rat ihres Chefs und Herr Berger entschuldigte sich höflich: „Ich werde gebraucht, bis bald mal. Machen Sie’s gut, Frau Weber."

    Sie nickte hinter ihm her. Schade, sie hätte gerne noch mit dem Junior, auch über alte Geschichten, geplaudert. Immerhin kannte sie ihn schon seit seiner Jugend, aus der Zeit ihrer Beschäftigung bei seinen Eltern, die sich erst vor kurzem zur Ruhe gesetzt hatten. Damals nannte sich dieses Haus noch ‚Schmiede‘, die Bezeichnung existierte vom Großvater, der den Ackergäulen im gesamten Umkreis Hufe schmiedete und anpasste. Seitdem war das Unternehmen um einiges gewachsen und nannte sich schon seit einigen Jahren Bergers-Markt. Nur den Alteingesessenen passierte es immer noch ‚Schmiede‘ zu sagen und zu denen gehörte Helene auch. Sie machte so etwas wie eine Lehre bei Rudolf und Bettina Berger als Büroangestellte, oder richtiger gesagt: ‚Mädchen für Alles‘, und war bis zu ihrer Heirat im Geschäft geblieben. Sie lernte ihren um fast fünfzehn Jahre älteren Mann in diesem Haus kennen. Helene schüttelte ihren Kopf, doch lieber nicht zurückdenken, nicht jetzt, heute war heute und jetzt musste sie sich einen Einkaufswagen besorgen und die neue Gartenabteilung unter die Lupe nehmen. Der Junior hat Ideen, „Gartenparadies". Mal sehen, ob es auch den Namen verdient hat, schmunzelte sie. Und dann vergaß Helene Weber vorläufig die aktuelle Neuigkeit aus der Nachbarschaft unter die Leute zu bringen. Sie war entzückt über diese Blumen- und Pflanzenpracht, auch darüber, wie geschickt alles arrangiert wurde und die Blicke auf sich ziehen musste. Immerhin gehörte derartige Kunst auch in ihre Berufszeit. Jetzt überlegte sie sich jeweils, wohin die eine oder andere Blume oder Staude in ihren Garten passen könnte und belud so nach und nach den Wagen. An der Kasse war sie zwar etwas erstaunt, aber der Bon zählte insgesamt elf Pflanzen und sie zahlte den stolzen Preis von 106,75 Euro. „Meine Güte, ein Glück, dass ich es mir leisten kann", murmelte sie vor sich hin und freute sich auf den Nachmittag. Da musste der Friseur erst einmal zurückstehen. Und die Noppen, – die waren sowieso in Vergessenheit geraten. Sie schob den Einkaufswagen über den Parkplatz zu ihrem Fahrzeug. Das heißt, es war ihre Absicht gewesen, bevor sie Otto Scholz erspähte. Er stand rücklings an einen weißen Opel gelehnt da. Ein Auto mit fremdem Kennzeichen? Herr Scholz war ein Nachbar vom Ende der Bergstraße, der linken Seite. Seltsamerweise bekam sie ihn in letzter Zeit nicht zu Gesicht, eine ganze Weile schon nicht, fiel ihr soeben auf. Welchen Grund konnte das denn haben? Er sah gelangweilt aus, stocherte abwechselnd mit seiner linken, dann mit der rechten Schuhspitze zwischen den Pflastersteinen herum und schien sie noch nicht bemerkt zu haben, jedenfalls stellte es sich ihr so dar. Helene Weber vollführte einen kleinen Schlenker mit ihrem beladenen Einkaufswagen, steuerte ihn ein wenig umständlich in Richtung ‚Schwätzchen halten‘ und blieb neben Herrn Scholz stehen.

    Er sah sie mit mürrischem Gesicht an.

    Das störte sie aber nicht weiter und es konnte sie schon gar nicht davon abbringen, ihn anzusprechen: „Hallo Herr Scholz, wie geht es Ihnen? Ich habe Sie ja schon länger nicht mehr gesehen, gehen Sie nicht mehr Gassi mit ihrem Hund?"

    „Rex ist tot!" Herr Scholz kratzte sich am Hinterkopf. Muss die jetzt hier aufkreuzen? „Er war schon über dreizehn, bin jetzt alleine. Nur für ein paar Tage besucht mich mein Sohn."

    „Oh, das tut mir aber leid, das mit ihrem Rex, meine ich."

    „Mir auch, sagte er und obwohl ihm so gar nicht der Kopf nach Tratschen stand, redete er weiter: „Mein Sohn will mich ins Altenheim stecken. Das kommt natürlich alles von seiner Frau, die konnte mich noch nie leiden. Angeblich kann ich mich nicht mehr richtig versorgen. So ein Blödsinn! Herr Scholz war sichtlich grantig, vielleicht auch enttäuscht und gleichzeitig traurig, aber der Ärger überwog deutlich. „Denen geht es nur ums Erbe! Schenkung zu Lebzeiten nennt sich das, dass ich nicht lache, nörgelte er sich gerade so richtig in Rage. „Die wollen so schnell wie möglich mein Haus verkaufen, es geht nur um die Flocken, so ist das!

    Helene Weber fragte erschreckt: „Sie haben doch auch noch Töchter Herr Scholz, was sagen die denn dazu?"

    „Meine zwei Mädchen? Die denken genau so, sagen im Heim hätte ich‘s doch viel besser, bekäme alles gemacht, gekocht, gewaschen und so. Nur Augenwischerei, sonst nix! Ne nee, es geht nur ums Geld!"

    Helene Weber hätte dem aufgebrachten Mann gerne noch etwas Tröstendes zu diesem brisanten Thema gesagt, doch inzwischen war dessen Sohn Hans-Peter im Anmarsch und sie zog es vor, sich zu verabschieden und ihm noch schnell „alles Gute" zu wünschen.

    5

    „Na, wer war das denn?" Hans-Peter Scholz begann die Waren vom Einkaufswagen in den Kofferraum seines Autos zu räumen.

    „Sie ist eine Nachbarin. Die Weber von Nummer 5, die lebt auch alleine, hat keine Kinder die sie ins Heim stecken wollen", antwortete Vater patzig.

    Hans-Peter sah einen Moment verblüfft aus, war das ernst gemeint? „Also Papa, haben wir das nun nicht schon oft genug durchgekaut? Außerdem, die Weber ist ja wohl noch keine zweiundachtzig, oder? Hans-Peter reagierte sauer. Jetzt kaufte er Tapete und Farbe, erklärte sich bereit, Vaters Wohnzimmer, die Diele und das Bad zu renovieren und trotzdem wurde er angemeckert. „Na komm schon, lass gut sein Papa, lenkte er nachsichtig ein. „Möchtest du richtig zu Mittag essen, oder sollen wir was vom Bäcker mitnehmen?"

    „Mir egal." Vater blieb verstimmt.

    „Setz dich schon mal ins Auto, ich bringe nur schnell den Wagen zurück. Und als er dabei Helene Weber begegnete, die ihrerseits ebenfalls den Einkaufswagen zurück stellte, grüßte er höflich lächelnd mit: „Hallo, welches sie vorsichtig mit leichtem Kopfnicken beantwortete. Schließlich weiß man nie, zu was Kinder, die den Vater ins Heim abschieben wollen, sonst noch so fähig sind. Vornehme Zurückhaltung erschien ihr diesmal der sicherste Weg. Einen Augenblick später dachte sie daran, dass sie sich von Kind an kannten, und sich dennoch soeben wie Fremde gegenüber standen.

    „So Vater, dann fahren wir jetzt zur Agnes, mal sehen was es da Leckeres zu Mittag gibt." Hans-Peter schlug gewollt einen ungezwungenen Ton an und hoffte, seinen Vater auf andere Gedanken zu bringen. Seit Vaters Hund Rex gestorben war, bemerkte man eine starke Veränderung bei ihm, er war kaum wiederzuerkennen. Seine Freundlichkeit und die stets gute Laune, sein immerwährendes Interesse an allen Dingen, seine Geduld und Ausgeglichenheit, welche ihm selbst nach Mutters Tod nicht verloren gegangen waren, schien Rex mit in sein Grab genommen zu haben. Der Verlust des Tieres schmerzte ihn offensichtlich sehr. Bisher war Tag und Nacht immer jemand um ihn herum geschwänzelt. Ein Tier, welches nicht nur versorgt werden musste, dem alten Mann eine Aufgabe gab, sondern auch als treuer Freund und Kamerad seinen Platz einnahm, tagein, tagaus. Und nun war ihm nur ein stilles einsames Haus geblieben, keiner brauchte ihn mehr. So saß er nun oft für Stunden apathisch vor sich hinbrütend da und kam sich ziemlich überflüssig vor.

    Otto Scholz Entschluss: Rex bleibt am Grundstück, musste in die Tat umgesetzt werden und so baute das alte Herrchen für seinen verstorbenen Gefährten eine Holzkiste, die täuschend einem der Särge ähnelte, wie man sie oft in alten Wildwestfilmen sehen kann. Unter dem Kastanienbaum hinterm Haus, hob er mühselig mit viel Kraftaufwand und stundenlang ein tiefes Loch aus, versenkte darin den seltsamen Sarg mit Rex und formte langsam mit Erde das Grab. Einen jungen Zwergbuchsbaum pflanzte er darauf, bearbeitete außerdem einen starken Birkenast zu einem Kreuz, welches er tief in die Erde rammte.

    Als Hans-Peter vor zwei Tagen hier angekommen war, fand er seinen Vater, auf einem abgesägten Baumstamm sitzend, an genau diesem Grab. Der Sohn war erschüttert, traf auf einen völlig veränderten alten Mann, teilnahmslos, als habe der sich selbst aufgegeben und er erkannte mit Schrecken Vaters Trauer um seinen vierbeinigen Freund, seine plötzliche Einsamkeit.

    „Lass uns ins Tierheim fahren, Vater, einen neuen Hund für dich holen, war sein spontaner Vorschlag. Doch sein Vater beschimpfte die Idee als „Kokolores und jedes weitere Gespräch in diese Richtung blockte er ab.

    Hans-Peter, schockiert und auch verwirrt über diese strikte Ablehnung, über die traurige unbekannte Sturheit seines Vaters, griff augenblicklich zum Handy um Margarete, seine Frau, zu informieren: „Hör mal, Marga, Papa geht’s überhaupt nicht gut, er lässt sich hängen! Er vermisst den Hund! Hier sieht es schrecklich aus, ich bleibe für ein paar Tage bei ihm. Sag Marlis und Georg Bescheid und ruf auch Anneliese und Siegfried an. Vielleicht könnt ihr es möglich machen, Sonntag herzukommen, ihn besuchen? Überlegt mal und ruft mich zurück. Seine Antwort auf Margas skeptische Frage: „Übertreibst du nicht ein wenig?, war eindeutig: „Nein, wirklich nicht! Also beratet euch und versucht herzukommen. So wie es jetzt aussieht, können wir Vater nicht mehr alleine lassen, du weißt was ich meine – unser Thema von neulich im Fall der Fälle, was wir durchdacht haben!" Im nächsten Moment drückte Hans-Peter die Austaste. Er glaubte ein Geräusch hinter sich wahrgenommen zu haben und es war ihm ganz und gar nicht recht, sollte Vater dieses Gespräch mitgehört haben.

    Hatte der aber! Dummerweise gab ihm Hans-Peter dann sofort Antwort auf seine misstrauische Frage: „Was habt ihr neulich durchdacht?" Denn ohne sich richtig Zeit zum Nachdenken zu nehmen, versuchte er eiligst die Überlegung: Seniorenheim, zu erklären. Dies schien für Vater jedoch mehr ein herber Schlag, als ein gutgemeinter Rat zu sein, was auch durchaus verständlich war. Jedenfalls ab da steigerte Vater sich vehement in die miese Laune hinein, die er offensichtlich nicht gedachte abzulegen.

    Aber jetzt fragte Hans-Peter gar nicht mehr lange, er fuhr zum Haus Agnes. Die Familie ging gerne dort im Restaurant essen, immer schon, bei ihren Besuchen im Elternhaus.

    Frau Hackler freute sich über die seltenen Gäste und bediente sie persönlich. Bemerkte auch die Verstimmung, die von Vater Scholz ausging und versuchte den alten Herrn aufzumuntern, was aber inzwischen endgültig an dessen Sturkopf scheiterte.

    6

    „Wenn morgen das Wetter gut ist, bringen wir das Schild zum Ufer und befestigen es neu. Dazu könnten wir ein kleines Picknick am Steg machen, was hältst du davon, Micha?" Susanne Schnells sah ihrem Sohn, der gerade über seinen Hausaufgaben brütete, über die Schulter.

    „Ja, okay Mama, von mir aus gerne, aber jetzt lass mich in Ruhe, das ist gerade sehr knifflig für Mathe."

    Susanne trällerte eine kleine Melodie vor sich hin, während sie die Treppe hinunter in die Küche lief. Ein bestimmtes Menü schwebte ihr bereits vor, auch wie das Picknick verlaufen konnte und sie begann einiges zu notieren, dabei bemerkte sie, sie würde noch einkaufen müssen. Nicht so schön dachte sie, dass wir alleine sind – na, auch egal. Sie entschloss sich für den bunten Reissalat und Frikadellen. Das mochte Michael besonders gerne. Dazu könnte sie auch beim Bäcker noch ein Stangenbrot kaufen und sie rief laut im Flur: „Michael? Hörst du mich? Ich fahre jetzt einkaufen!"

    „Jaaaa." Immer diese Störungen mitten im Gedanken. Michael seufzte und ließ den Füller sinken. Doch nach einer Weile dachte er: Eigentlich könnte Markus mitmachen, hab nicht so richtig Lust mit Mama alleine.

    Susannes spontaner Einkauf entpuppte sich umfangreicher, als gedacht. Soeben lud sie die vollgepackten Taschen und Tüten aus dem Auto, trug sie zur Terrasse hinters Haus und stapelte sie auf dem Tisch, rangierte ihr Auto nun in die enge Garage und sehnte sich zum x-ten Mal nach einem breiten Carport. Auf einmal kam es ihr so vor, als riefe jemand ihren Namen und sie schaute sich suchend um. Die Nachbarin, Helene Weber, stand am Weg, sie musste also nach ihr gerufen haben – und jetzt kam die auch eilends angelaufen.

    „Hallo, Frau Schnells, hallo. Sie müssen sich unbedingt in der Schmiede, ach herrje, ich muss mich endlich mal an den Namen Bergers-Markt gewöhnen, die wunderschöne neue Gartenanlage ansehen, das Paradies!", rief Frau Weber lachend, sofort zum Thema kommend.

    „Da war ich schon, sogar pünktlich am Eröffnungstag, ich glaube es war vor drei Wochen, ja genau, in der Woche vor Ostern. Es wird Gartenparadies genannt, es ist schön und umfangreich, ein richtiger Anziehungspunkt. Selbst wenn man nicht vor hat etwas zu kaufen, nur langsam durch die Gänge schlendern dürfte schon ein Besuch wert sein. Eine prächtige Idee, auf diese Weiße bekommt der Baumarkt doch auch noch mehr Kundschaft. Ich finde es super und wir müssen nicht mehr bis in die Stadt fahren."

    „Ja, stimmt, ich bin gerade dabei einzupflanzen, was ich heute gekauft habe, ich konnte einfach nicht widerstehen." Helene Weber wendete sich ab, machte ein paar Schritte als wolle sie wieder gehen, blieb dann jedoch abrupt stehen und drehte sich erneut ihrer Nachbarin zu. Ein wenig zögerte sie noch, vielleicht sollte ich lieber nicht – doch ihre Neugierde war viel zu stark. „Ach, sagen Sie Frau Schnells, wo hat Ihr neuer Freund denn das Schild gekauft?"

    „Mein Freund?" Susanne blieb für Sekunden der Mund offen stehen, sie sank auf die Treppenstufen, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, brauchte einen Moment um das Gehörte zu verdauen. Für den Bruchteil einer Sekunde erschien das Bild der dürren Tratsche aus dem kleinen Café vor ihrem inneren Auge und sie schüttelte den Kopf. Das darf nicht wahr sein. Gleich darauf ließ sie ihre Hände sinken und erhob sich, um einige Schritte auf die Nachbarin zuzugehen. Leicht tadelnd sah sie diese an und fragte: „Frau Weber, Frau Weber, wem haben Sie das denn schon alles erzählt? Das war ein Herr Hauff, er hat unser entwendetes Schild wiederbeschafft und morgen werden Michael und ich es erneut beim Steg befestigen. Wir wollen nach langer Zeit dazu picknicken. Susanne musste sich zwar gestehen, wenn sich Herr Hauff melden würde wie er es sagte, das wäre okay, ja, aber ihr Freund? Nein, daran war doch überhaupt nicht zu denken! Sollte er tatsächlich anrufen oder gar herkommen, sie könnte sich darüber freuen, ja, ganz bestimmt sogar, aber Freund? Er war ein netter neuer Bekannter, ja, sie lächelte die verdutzt dreinschauende Frau Weber an. „Da fällt mir ein, möchten Sie nicht mitmachen? Mit uns zum Steg gehen, zum Picknick?

    Frau Weber zierte sich ein wenig, zu blöd, dass ihr das Wort Freund rausgerutscht war. „Meinen Sie wirklich, soll ich?"

    „Ja bitte, immerhin sind wir schon seit Jahren Nachbarinnen! Außerdem kann ich Ihnen dann die peinliche Sache mit dem Schild erzählen." Susanne fand ohnehin schon lange, dass in dieser Kleinsiedlung alles viel zu fremd zuging. Wie in einer Großstadt. Außer den täglichen Grüßen, falls man sich überhaupt mal zu Gesicht bekam, in denen man vielleicht noch kurz das Wetter ansprach, blieb doch alles hinter den jeweiligen Haustüren verborgen. Na gut, die meisten Nachbarn waren berufstätig und sicher auch froh, wenn sie nicht mit Erzählungen irgendwelcher belangloser Tagesabläufe belästigt wurden. Frau Weber war da die große Ausnahme, sie hielt sich nun mal sehr oft in ihrem Vorgarten auf und sobald sich etwas auf der Straße bewegte, was nun wirklich nicht so oft vorkam, wurde ihr Interesse geweckt und sie begann ein Gespräch, versuchte es zumindest, und bekam auch irgendwie immer etwas heraus. Möglicherweise hörte sie auch mehr, als ihr anvertraut wurde? Vielleicht kombinierte sie auch so einiges in die falsche Richtung, so wie eben die Sache: Freund Hauff. Eventuell ließ sich gerade damit die Zurückhaltung der Leute erklären?

    Als Mark Schnells gestorben war, gab es kurzfristig drei oder vier Gespräche zwischen ihnen, doch schon bald stellte sich leider wieder die übliche Distanz ein, von der eigentlich kein Mensch wirklich wusste, warum das denn so war. Susanne nahm sich augenblicklich vor: Das muss sich ändern! Den ersten Schritt ging sie soeben, sie bat Helene Weber ihr Gast zu sein, beim Picknick für den morgigen Samstag. „Oder haben Sie schon was vor?"

    „Nein, ich komme gerne, vielen Dank für die Einladung."

    Susanne verstaute die Einkäufe und suchte gleichzeitig nach dem Rezept für den Salat, ihr eigenes Rezept, obwohl das eigentlich nur einige schnell notierte Zutaten waren, welche sie vor Jahren selbst zu einem Hauptmenü erdachte und es auch mehrfach ausprobierte. Genau das müsste die Nachbarin beeindrucken, mit Sicherheit! Susanne hörte ihren Sohn die Treppe herunter sprinten. Er kam direkt zu ihr in die Küche und legte seine Arme von hinten um ihre Taille. Das hat er schon ewig nicht mehr gemacht, dachte Susanne belustigt.

    „Entschuldige Ma, dass ich vorhin so kurz angebunden war, aber auch wenn Mathematik mein liebstes Fach ist, denken muss ich trotzdem dabei!"

    Susanne drehte sich um und nahm ihren Sohn in die Arme. Sie strich ihm gedankenverloren übers Haar und hielt plötzlich überrascht inne, bemerkte erstaunt: „Du bist gewachsen!"

    Michael lachte herzhaft. „Das hättest du wohl gerne, dass ich so klein bleibe?, dabei zeigte er mit einer Hand etwa in Höhe seiner Knie. „Übrigens, ich dachte zum Picknick könnte doch Markus auch kommen, oder?

    „Natürlich, wenn du das möchtest, lade deinen Freund ein. Damit sind wir dann schon vier. Du wirst staunen, wen ich soeben eingeladen habe, dreimal darfst du raten, also – was meinst du?"

    Michael überlegte: „Frau Pieper?" Er sah seine Mutter an, doch sie schüttelte nur wortlos den Kopf.

    „Das kleine Mädchen von gegenüber? Rosa oder so?"

    Und wieder Mutters Kopfschütteln.

    „Sag schon, wen dann?", fragte er ungeduldig.

    „Frau Weber!"

    Überaus langsam setzte Michael sich auf einen Stuhl, er sah seine Mutter an, als sehe er gerade einen Geist.

    „Micha – was ist denn, hey – findest du das so schlimm? Sie ist doch ganz alleine und nur deshalb so neugierig. Außerdem hat sie unser Schild neben der Haustüre stehen sehen und ganz falsch gedeutet. Herrn Hauff hat sie wohl auch gesehen und sich ihren ganz speziellen Reim darauf gemacht. Susanne schwieg kurz. „Anscheinend erzählt sie jetzt herum, ich hätte einen neuen Freund, erklärte sie. „Darum fand ich, die Einladung war nötig!"

    Da ging plötzlich ein eigenartiges Grinsen über Michaels Gesicht. Die Idee kam ihm wie ein Blitz und begann, sich augenblicklich in seinem Kopf auszubreiten. Seine Mutter war jedoch viel zu beschäftigt, um dies bewusst wahrzunehmen. Wie sollte sie aber auch ahnen, dass inzwischen ein ganz bestimmtes Telefonat erfolgt war.

    7

    Das Handy spielte seine Melodie. Hans-Peter Scholz hielt am Straßenrand an, fingerte es aus der Brusttasche seines Hemdes, klappe es auf und erkannte im Display die Nummer seines Schwagers Georg. „Hallo Georg, ich rufe dich gleich zurück, bin gerade mit Vater auf dem Heimweg, bis

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