Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Zeit für Wunder: Ein Berlin-Roman
Zeit für Wunder: Ein Berlin-Roman
Zeit für Wunder: Ein Berlin-Roman
eBook335 Seiten4 Stunden

Zeit für Wunder: Ein Berlin-Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Roman "Zeit für Wunder" erzählt von den Menschen in Berlin-Friedrichshain und ihren alltäglichen Erlebnissen, von Träumen, Fröhlichkeit und Liebe, jedoch auch vom Kampf ums Dasein, um Anerkennung und der wilden Lust, zu leben.
Man nehme: Eine Prise trautes Traunheim in Hessen, eine Prise Teilzeit-Lover, eine Prise Mobbing und eine schallende Ohrfeige für den lüsternen Chef, und schon hat man den nötigen Treibstoff, um raketengleich wieder zurück zu kommen – in die wunderschöne verrückte Stadt Berlin. Dort wird der Traum-Job plötzlich zum Albtraum und Tilly, Mitte Vierzig, gerät unerwartet ins Chaos der Bewerbungsgespräche, wo spitzfindige und hinterhältige Personaler lauern.
Jedoch, noch wichtiger: Nun müsste endlich der Traum-Mann her! Oder etwa nicht?
Wie viel Geduld braucht eine Frau, flott, pfiffig, witzig bis spöttisch-bissig, um das zu finden, was sie sucht? Und wie kann ihr ein Zauberstein aus den Märchen der Kindheit dabei helfen?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum14. Nov. 2014
ISBN9783738663396
Zeit für Wunder: Ein Berlin-Roman
Autor

Jutta Reike

Jutta Reike lebt seit 25 Jahren in Berlin und arbeitet in einem technischen Beruf. Sie kennt den ständigen Trubel um Jobs und um das private Glück. Mit ihren Gedichten und Geschichten zu Liebe, Abschied, Mord ist sie auch Gelegenheits-Slammerin. Besonders ans Herz gewachsen ist ihr Berlin-Friedrichshain.

Ähnlich wie Zeit für Wunder

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Zeit für Wunder

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Zeit für Wunder - Jutta Reike

    Inhaltsverzeichnis

    Märchenzeit

    Traunheim

    Ob der Lover ein Lieb-Haber ist ...!?

    Abwechslung gefällig?

    Wandern mit Brüderchen

    Mausel und Macho

    Ruf ins All

    Ausflug nach Berlin

    Der große Knall

    Die Süße und das Biest

    Nach Bremen! - Nach Berlin!

    Blumengruß ins Nichts

    Auf Männerjagd

    Weihnachtsmarkt, die erste Klappe

    Im Café

    Weihnachtsmarkt, die zweite Klappe

    Ins Märchenland abgedriftet

    Die Begegnung

    Beim Griechen

    Bewerbungsgespräch, die erste Klappe

    Bewerbungsgespräch, die zweite Klappe

    Noch keine Ideen mit ... Pfeffer

    Der Besuch auf dem Lande

    Industrieschauspieler werden

    Frühlingsunfug

    Junge Wege - lässig locker?

    Abtanzen ... Austanzen!?

    Erste Pirsch, die Fortsetzung

    Bei Kostas, in Begleitung, die erste Klappe

    Wieder zu Hause

    Bewürgen Sie sich doch - beim Dienerverleih

    Neue Ideen

    Es brennt!

    Teddy

    Umzug

    Der Nächste, bitte

    Party

    Kalte Blumen

    Unter Palmen

    Grieche, die soundsovielte Klappe

    Absturz

    Leere Köpfe nicken leichter!

    Besuch aus der „heilen Welt"

    Umzug macht Spaß

    Bei Alessio, neu

    Kellergeschichten

    Farbeimer-Hut

    Stalking

    Ein neuer Morgen

    Treffsicher

    Am Löwen

    Märchenzeit

    Es kommt mir vor, als wäre es noch gar nicht lange her, da saß ich, knapp dreijährig, inmitten vieler bunter von meiner Oma behäkelter Kissen auf dem rotbraunen Teppich im Wohnzimmer meiner Großeltern.

    Von da unten sah die Welt plüschig und zauberhaft aus. Die gerafften hellen Übergardinen, weiße durchsichtige Stores: Vielleicht könnte dahinter ja ein verwunschenes Schloss sein?

    In der Ecke ein kleines helles Tischchen mit frisch gestärkter und gebügelter weißer, fein mit roten, grünen und gelben Stichen bestickter Tischdecke und zwei niedrige Sessel mit dicken, in der Mitte schon durchgesessenen Polstern: Von meiner Perspektive aus waren das merkwürdige Burgen. Ich war darin die Zwergenkönigin.

    Dahinter in der äußeren Zimmerecke eine Stehlampe mit drei verschiedenfarbigen, nach unten weisenden Tulpenlampenschirmen, die wie eine übergroße Glockenblume wirkte. Vielleicht bin ich ein Käferchen und lebe hier inmitten von Frühlingsblumen?

    Alles um mich herum war voller Geschichten, die von selbst entstanden. Hier schien immer die Sonne – ich kann mich nicht erinnern, dass es in diesem Zimmer jemals dunkel gewesen wäre!

    Die Stube hatte vier Fenster zur Straße hin, und mein Großvater verbreitete mit seinem freundlichen lichten Wesen eine Heiterkeit, die den Raum erfüllte.

    Es war Sonntag, und obwohl sich seine Kleidung von der an Wochentagen nicht unterschied, hatte ich mich schon früh am Morgen fein machen müssen: Weiße Strumpfhose, die an den Knien schnell dunkler wurde vom Herumrutschen im Zimmer, und ein molliges, kurzes Kleidchen.

    Wir waren gerade vom Vormittagsspaziergang heimgekehrt, und um die Zeit bis zum Mittagessen etwas zu überbrücken, erzählte mir Opa eine Geschichte.

    „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, ..."

    Und ich, das Tilly-Mädchen, tippte ihn an: „Das bist du!"

    Mein Großvater schaute durch seine runde Brille einen Moment lächelnd zu mir, dann wieder ins Buch: „Dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, ..."

    „Das bin ich!", warf das Tilly-Mädchen strahlend ein, kletterte aufs Sofa, dann unter den Tisch und begann, sich dort eine Höhle aus den schönen hellen, behäkelten und bestickten Kissen zu bauen.

    Und es vernahm weiter Großvaters Stimme:

    „... war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen ..."

    „Ach Opi, du könntest mir vielleicht lieber wieder die Geschichte vom Zauberstein erzählen ...", erwiderte das Kind und schaute ihn mit großen Augen bettelnd an, das Köpfchen leicht schräg haltend, und weil der Großvater es liebte, ging er darauf ein.

    „Na gut, Tilly. Dann lesen wir hier morgen weiter."

    Er klappte das Buch zu, legte es zur Seite und begann: „Es war einmal vor langer, langer Zeit, da war ich selber noch nicht auf der Welt, ein alter, sehr alter König. Unter seiner Krone schauten schon die weißen Haare hervor, und seine Hände waren dünn und konnten kaum noch den Löffel halten, wenn es mittags Suppe gab. Er war zu seinen Leuten in den Dörfern immer gut gewesen, deshalb hatten ihn alle sehr gern.

    Einmal kamen böse Ritter und zündeten die Häuser in den Dörfern an, die damals noch aus Holz waren mit geschnitzten Türen.

    Sie zertrampelten mit den Hufen ihrer Pferde die Saat auf den Feldern und schlachteten Hühner, Schweine und Kühe. Da hatten die armen Leute keine Wohnung mehr und auch nichts mehr zu essen, weil diese Bösen alles zerstört und verwildert hatten.

    Die Armen retteten sich in den Wald und bauten sich erst einmal Hütten aus dicken Ästen und Zweigen und schliefen auf Laub. Dann fingen sie an, Pilze zu sammeln und Beeren zu suchen, manchmal Bucheckern, auch Nüsse, kochten Suppe aus Sauerklee, aber es war zu wenig. Die kleinen Kinder weinten in den Nächten, weil sie vor Hunger nicht schlafen konnten."

    „Und da?" Das Tilly-Mädchen riss die Augen auf.

    „Als der alte König davon hörte, dass die Not in seinem Königreich am größten war, so groß, wie es nicht einmal sein Großvater erlebt hatte, da ging er in die Schatzkammer tief unter dem hohen schwarzen Schlossturm. Und dort unten, versteckt zwischen Perlen, Gold und Diamanten lag ein Zauberstein, den er selbst von seinem Großvater erhalten hatte ..."

    Und in diesem Augenblick lag plötzlich ein glatter, seltsam mit weißen Adern gezeichneter, ovaler roter Stein in seiner rechten Hand neben dem Märchenbuch.

    „Woher hast du den denn?" fragte das Tilly-Mädchen staunend.

    „Ich habe ihn von meinem Großvater, und der hatte ihn wieder von seinem bekommen. Und der Großvater von diesem Großvater war der Alte König."

    Da klappten auf einmal die Türen im Hintergrund auf, und meine Großmutter kam mit einem Tablett herein. Teller und Bestecks stießen aneinander, und ein Duft nach Gemüsesuppe mit Grießklößchen und frisch gehackter Petersilie erfüllte das Zimmer.

    Oh, und auch die Kompottschälchen konnte ich schon erkennen! Das sollte doch nicht etwa Vanillepudding mit Himbeeren sein?!

    Die Omi lächelte zum Märchenerzähler, vielleicht auch ein klein wenig spöttisch: „Na, kommt ihr nicht essen?"

    Aber das Tilly-Mädchen, noch ganz im Anfang der Geschichte gefangen, fragte schnell: „Und was kann er damit zaubern?"

    „Alles, Tilly! Alle Wünsche! Aber eben nur drei. Dass am Ende alles wieder gut wird. Ich erzähle es dir dann nach dem Mittagsschlaf zu Ende."

    Und so setzten wir uns an den Tisch. Diese Art von Märchen wurde immer wieder erzählt, in verschiedenen Variationen. Es gab davon unzählige. Jedes Mal tauchte jedoch in Zeiten oder bei Gegebenheiten, wenn schon alles verloren und aussichtslos erschien, der Zauberstein wieder auf, mit dessen Hilfe noch jeder Weg wieder zu einem guten Ende führte. Ob nun böse Riesen, hinterlistige Zwerge oder waffenstarrende Ritter, sogar Rudel von zähnefletschenden Wölfen wurden besiegt, wenn der Zauberstein letztlich ins Spiel kam. Auch Meere, die sich uferlos in wilden Stürmen aufbäumten und das Land zu überschwemmen drohten, konnte er aufhalten.

    Traunheim

    Ein kleines verschlafenes Nest in Hessen, zweiundvierzig Jahre später. Und fernab aller vergangenen Märchenwelten.

    Warum es mich hierher verschlagen hat? Der schnöde Mammon! Und meine nicht versiegende Lust oder besser schon Last, danach zu jagen. Was bleibt mir auch anderes übrig! Es bringt ja keiner Geld vorbei.

    Ich warte seit Jahren auf eine plötzlich verstorbene reiche Erbtante, von der ich bisher noch nichts wusste, oder einen Haciendabesitzer, der mir einfach auf meine Idee hin aus dem Nichts auftauchend und Zigarre rauchend über den Weg läuft, mich als die einzig Richtige für sich erkennt und auf Hundertdollar-Scheine bettet. Zusammen mit seiner übergroßen Liebe natürlich! Aber nichts von alledem geschieht, und so muss ich eben sehen, woher die Kohle kommt!

    Und da gab's also eine Stellenanzeige, ich schickte meine Bewerbungsunterlagen hin, nichtsahnend und hoffend, es würde sich doch noch in Berlin etwas ergeben, aber wie's der Teufel oft will, war ich schneller weg, als ich angenommen hatte.

    Eine zunächst scheinbar tolle Firma mit tollen Leuten, zwar nur siebzehn an der Zahl, jedoch alle hochmotiviert und fröhlich, und ich dachte - mit leichten Magenschmerzen und Würgen im Hals, weil es mir doch sehr nahe ging, alles hinter mir zu lassen - na, da kann ich mich ja jetzt mal um mich kümmern und meiner beruflichen Karriere einen schönen Pluspunkt hinzufügen, wenn ich mich hier in die technische Kundenbetreuung stürze!

    Zwar nur Innendienst, aber die Arbeit mit Menschen ist ja voll mein Ding, das kann ich, und das Fachliche werde ich schon lernen, bin ja nicht doof und komme aus der Verfahrenstechnik, das kapiere ich alles schon.

    Also verlasse ich Berlin und eine Menge Leute, die mir seit vielen Jahren etwas wert sind, richtige Freunde verliert man nicht, und über zwanzig Jahre Berlin, ohgotto-gotto, ich weine oft und viel, schlafe schlecht und rede mir ein, es sei alles so richtig.

    Meine Tochter Janny ist mit der Ausbildung fertig und bei ihrem Freund und den Kumpels gut aufgehoben. Auch wenn ich nach jedem Besuch im Zug dann doch erst mal eine halbe Stunde so vor mich hin heulen muss, weil mir der Abschied weh tut: Es geht schon, ich verdiene ja gut, ich halte das alles aus, es ist schon in Ordnung. Und vielleicht findet sich im fernen Land auch noch ein neuer Schatzi für mich, man weiß ja nie, was so kommt!

    Und nun also hier zwischen Fachwerkhäusern so ein schniekes neues Bürogebäude, und ich sitze im ersten Stock, große Grünpflanzen umwedeln mich und sind der einzige Farbklecks in dem kühlen Hellgrau der Tage.

    Bin naiv wie immer in die Besprechung hinein getappt, mein Chef und der Personalleiter haben mir anscheinend etwas Wichtiges mitzuteilen. Bin gespannt!

    Da fängt Thomas auch schon an: „Wir möchten dir etwas anbieten, Tilly, in Manchester."

    Ahja, was soll das denn werden? Mein Englisch ist zwar verhandlungssicher, aber auswandern will ich denn doch nicht. Welche Amsel hat dem Personalerchen denn das eingeflötet? Wie er da sitzt und mich fixiert, pralles Bäuchlein und blonde Löckchen, na Bürschchen, erzähl mal weiter.

    Also sage ich erst einmal ganz unerschrocken:

    „Wieso anbieten? Ich betreue hier einen großen Kundenstamm seit zwei Jahren ..."

    Und mein Chef haut knallhart in den Raum: „Wegen der Umstrukturierungen im Unternehmen."

    Soso. Habe nichts davon gehört. Ich sitze allein an einer Seite eines großen Mahagonischreibtisches und fühle mich recht verloren. Warum geht mein Chef nicht dort hin? Er kann doch besser Englisch! Oder seine Frau, die ihm tief im Taunus die Kinder hütet? Sie war doch mal kurz nach dem Studium für zwei Jahre in England, vielleicht würde es ihr mehr Spaß machen, wieder fachlich zu arbeiten, als nur seine Köchin zu sein und Knöpfe anzunähen!

    Erstmal Schweigen. Sollen sie mir doch noch ein paar Sätze mehr spendieren! Sie denken wohl, sie können's mit mir machen, bloß weil ich nicht 1,85 m und ein Kerl wie ein Schrank bin, sondern eher der zierliche Jeanstyp.

    Löcki nun wieder: „Du bist doch flexibel!"

    „Weil ich allein bin?, erwidere ich. „Ich hab' mir gerade erst die Wohnung eingerichtet! Warum ich?

    Scharf kommt es aus dem verspannten Gesicht meines Chefs: „Du kannst das nicht so einfach ablehnen!"

    Soso. Da machen sie es sich aber leicht!

    „Ich werde darüber nachdenken", entgegne ich, straffe meine weiße Bluse und verlasse den Raum. Forscher Schritt, obwohl ich innerlich fast einknicke.

    In der Teeküche treffe ich Doris, meine Lieblingskollegin. Sie ist etwa fünfzig, einfach gekleidet, schwarze Hose, helles T-Shirt, ein fröhlich klimperndes Kettchen, halblanges Haar, rundlich, freundlich, forsch. Hat vier Kinder groß gezogen, na, sie ist immer noch dabei, und regiert ihre Meute zu Hause mit viel Herz.

    „Hallo Doris! Schönes Wochenende gehabt?", begrüße ich sie.

    „Hallo Tilly! Ja, schön viel Arbeit! Mein Mann war mit Kevin zum Fußball, da hing wieder alles an mir!"

    Und weiter halblaut: „Und ich hab' wieder Bewerbungen geschrieben! Weil ich's hier nicht mehr aushalt'! Der Kerl ..., sie deutet mit dem Kopf zur Tür, „macht doch den ganzen Tag nichts anderes als die Leute von seinem Tennisverein anrufen und an seiner Homepage basteln! Und wenn du ihn mal was fragst, hat er keine Ahnung!

    Aha, es geht wiedermal um Thomas, unseren lieben Personaler. Löcki! Aber was soll's, er hat hier die Narrenfreiheit, er gehört zu der Klicke schon ewig, also darf er es wohl.

    „Tja, schniefe ich, „ich weiß auch nicht, wie manche Leute ihr Geld verdienen. Aber ich komme mit allen gut aus! Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind! Andere gibt es gerade nicht!

    Glaube ich selbst an diese Allgemeinplätze? Finde ich das noch in Ordnung, was hier gerade anfängt, Stress zu werden? Und leiser: „Bloß in letzter Zeit ... ich soll nach Manchester!"

    Doris guckt ungläubig. Ein Kollege betritt die Teeküche, weswegen unser Gespräch abbricht. Ich verlasse den Raum und rufe ihr beim Hinausgehen zu: „Bis später!"

    Wieder im Büro mit den vier Schreibtischen, einer gehört meinem Chef – ja, ja, immer schön in der Nähe der Basis! Bei den Leuten, die die Arbeit machen! Aber er soll bald sein eigenes Büro haben, es ist nur noch nicht fertig eingeräumt, wir sind hier in das neue Gebäude erst vor vier Wochen eingezogen.

    Ich lasse mich in den Schreibtischsessel fallen, an meinem in letzter Zeit eher ungeliebten Computerarbeitsplatz, denn der Kundenkontakt beschränkt sich neuerdings nur noch auf Telefonieren und E-Mails verfassen. Zu Anfang war ich viel mit den Außendienstlern zusammen zu Kunden unterwegs, habe bei der Konstruktion der Teile beraten und war auch bei Produktionsanläufen mit dabei. Das hat viel mehr Spaß gemacht, da konnte man etwas bewegen! Man war immer an der Technik hautnah dran und hat alles ganz anders mitbekommen. Mit den Leuten direkt zu sprechen ist immer besser als nur E-Mails zu schreiben. Aber das soll jetzt jemand aus der Entwicklungsabteilung in England übernehmen.

    Ich darf nur noch Muster verschicken. Und zu Anfragen laberlaber schreiben, was sie auch mit bisschen Intelligenz aus den Datenblättern entnehmen könnten und aus weitläufigen Prozessbeschreibungen, mit freundlichen Grüßen, i.A., das heißt ich Arsch. So fühle ich mich manchmal.

    Dazu muss man studiert haben! Ich hatte mir das anders vorgestellt, und es begann ja auch ganz anders, eben mit vielen Projekten und Fahrten ...

    Ich nehme aus meiner Tasche ein Foto heraus, wo mein Großvater mit mir als kleines Mädchen an der Hand zu sehen ist.

    „Du musst mich jetzt beschützen!, raune ich ihm zu. „Es muss sein!

    Ich stelle das Bild neben das Foto meiner Tochter auf den Schreibtisch, der PC fährt hoch, und schon klingelt das Telefon.

    Die Kollegin aus der Entwicklung in England ist dran. Ich soll ihr ein paar ganz bestimmte Teile zuschicken, die ein Kunde in unserem Auftrag mit verschiedenen Maschineneinstellparametern hergestellt hat.

    „I'm fine, thanks!, lächle ich in den Apparat und denke, jaja, ich bin fein, doofes hohles Herumgequatsche immer. „And how do you do, Helen?! … Yes, I think you'll get the parts tomorrow. Bye – bye.

    In diesem Augenblick bemerke ich, wie er herein kommt, Chefchen mit klingelndem Smartphone, und da säuselt er auch schon: „Ja, meine Mausl, ich denke daran! Ich kauf' das! ... Die Kinder sind schon weg, da leg' dich doch nochmal hin! Bis später! Meldest du dich dann zu Mittag, ja?"

    Mir platzt gleich die Halsschlagader! Dieser Ton! Dieses Gesülze! So geht das fast jede Stunde, oder öfters! Ich atme dreimal tief durch, damit mir davon nicht schlecht wird, und sage freundlich und sachlich zu ihm, als er sich setzt: „Habe deine neue Korrektur im Bericht eingearbeitet, hier bitte."

    Er nimmt das Schriftstück in die Hände, blättert es durch und blafft kurz darauf gereizt: „Lass mal sehen … Abschnitt fünf sollte besser an dritter Stelle sein. Diese Diagramme eher in die Seiten im Anhang. Die sollten besser rechts auch Skalen erhalten. Und was willst du mit Abschnitt vier eigentlich sagen? Abschnitt sieben in Abschnitt fünf einarbeiten."

    Ich stehe schnell auf, der Stuhl knarrt zur Seite, und gehe zu ihm, schaue in die Darstellungen. Ja klar, ich würde auch bunte Kringel oder Ostereier auf den Rand malen, wenn's hilft! Ob vielleicht Abschnitt drei das nächste Mal vor Abschnitt fünf soll? Alle Sonderwünsche werden immer wieder mit gleichbleibend guter Laune und extrem tollem Enthusiasmus bearbeitet! Nur her damit.

    Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder: Arsch!

    Er klatscht es mir auf den Platz. Ich setze mich, presse die Lippen zusammen, schreibe. Er geht.

    „Hättest du mir auch gleich sagen können", sage ich wütend und leise blubbernd vor mich hin. Das ist nun schon die fünfte Fassung, über zwanzig Seiten, und alles auf Englisch, damit es die Kollegen auf der Insel auch verstehen.

    Mittags gehe ich mit Doris vor dem Büro die Straße hinunter spazieren. Wir haben hier ein paar Möglichkeiten, eine Kleinigkeit zu essen, denn eine Kantine wie vormals in den großen Unternehmen in Berlin gibt es ja nicht. Als wir uns ein Stück von der Firma entfernt haben, können wir endlich sprechen.

    „Also, ich hab' den Bericht schon wieder korrigiert ... immer und immer wieder ... und tausend E-Mails zu beantworten ...", beginne ich.

    „Lass mal, nur keine Hektik. Dein Chef ist weg gefahren, meint Doris. „Brauchst dich also nicht zu beeilen. Wir können uns Zeit lassen in der Pause.

    „Na, wie gut, seufze ich erleichtert, „komm, wir holen paar Kleinigkeiten wegen meinem Geburtstag! Da können wir eine halbe Stunde ohne Bewachung feiern! ... Und ich will nicht nach Manchester!

    Die Wut und Angst kocht in mir hoch.

    „Die können dich nicht zwingen! Steht ja nichts davon im Arbeitsvertrag!"

    Ich seufze laut. „Stimmt! Der Vertrag sagt da gar nichts dazu!" Bin schon innerlich verkrampft. Meine Kollegin sieht völlig klar, sie hat ja Recht! Ich rege mich auf, und es müsste gar nicht sein. Alles ungelegte Eier.

    Ich lasse Manchester als Wort am Straßenrand liegen, und wir gehen in den nächsten Supermarkt, kaufen leckere Kleinigkeiten, lachen und schwatzen und haben nach ein paar Minuten das Thema dann doch vergessen.

    Eine Stunde später ist im großen Besprechungszimmer alles aufgebaut. Das wird eine lustige Geburtstagsrunde! Der Tisch ist mit bunt belegten Brötchen gedeckt, eine große Schüssel frischer Obstsalat verbreitet ihren süßen Duft, und der große Blumenstrauß meiner Kollegen prangt in der Mitte. Es gibt Sekt und Orangensaft, Bier natürlich auch.

    Etwa die Hälfte der Kollegen ist im Business-Outfit, die andere Hälfte leger gekleidet, je nachdem, ob Kundenbesuch ansteht oder nicht.

    Als alle noch quasseln und herumlachen, verkünde ich mit lauter Stimme: „Hey, ich freu' mich, dass ich mit euch feiern kann! Macht Spaß mit euch! Und danke fürs Geschenk!"

    Sie rufen „Prost, auf die Gesundheit! und: „Ja, immer drauf, wir werden sie schon tot kriegen! mit den erhobenen Gläsern in der Hand, und: „Dann lasst uns mal zugreifen und futtern!", und stürzen sich wie die Aasgeier auf die Brötchen.

    „Warum hast du nicht öfters Geburtstag?, meint Tino kauend. „Ja, einmal in der Woche?! So gesunde Sachen!

    Bierflaschen werden geöffnet, und unter Gelächter steht Schinken und Hackbraten gegen Obstsalat, was denn nun vorteilhafter wäre und warum, und dass Männer sicherlich zu viel gesunde Vitamine gar nicht vertragen würden.

    „Ich halte mich lieber an das Ungesunde, schmeckt einfach besser!", verkündet Peter.

    Naja, ich grinse kauend. Immer diese Sprüche! Männer, Jagd, Fleisch. Fell um die Hüfte, Pfeil und Bogen!

    Und die Meinungen sind sehr entgegengesetzt, ist mir ziemlich egal, ich kann hier jetzt nichts mehr ernst nehmen! Im schmatzenden Gelächter werden Bäuche verglichen – na, macht nur, wenn ihr's braucht!

    „Am besten wir feiern nächste Woche nochmal Geburtstag nach, oder irgendwas anderes!"

    Das ist Katrins Idee, die begeistert aufgenommen wird. Warum auch nicht, man sollte immer nach einem Grund suchen!

    Als Berlin-Fan wendet sie sich dann an mich: „Was macht eigentlich deine Tochter beruflich, ist sie jetzt fertig mit der Ausbildung? Fährst du mal wieder hin?"

    „Zu Janny nach Berlin? Du willst wohl mitkommen? Ja, fertig ist sie schon, aber sie weiß noch nicht, was sie mal damit anfangen wird. Ihr erster Chef im Praktikum war so ein Stinktier, der hat ihr alles vermiest. Sie will nicht ins Büro!"

    „Da gibt's noch andere ...", meint Katrin wissend, und wir grinsen uns an.

    Peter hat mitgehört und nickt mehrfach.

    „Und Plan B?" Katrin ist aber auch hartnäckig!

    „Noch nicht klar, kein Plan B, kein Plan C, ...", erwidere ich schulterzuckend.

    „Deshalb feiern wir jetzt einfach mal bisschen länger, solange keiner guckt!" ,wirft Peter ein.

    „Na, du bist gut, sage ich, „Kater weg, Mäuse tanzen auf den Tischen?

    Die fröhliche Stimmung hält unvermindert an, Doris schenkt erneut ein, der Alkoholpegel steigt und wir schwatzen weiter, bis alle Teller fast leer sind. Und die Sektflaschen natürlich auch.

    Eine Weile später bin ich wieder in meinem Büro und sehe verzweifelt, was mein lieber Chef aus meinem Bericht gemacht hat. Überall ist mit Rot darin herum geschmiert. Irgendwie empfinde ich es nur noch als Frechheit. Es reicht mir so langsam, und ich merke, wie mir die Wut im Hals hochkocht. Ich packe den Papierstapel und gehe damit zu Doris. Fühle mich sichtlich erschöpft.

    Doris sitzt bei einer Tasse Tee und schaut mich mit großen Augen fragend an, während ich ihr mein Leid klage.

    „Zwanzig Seiten, alles auf Englisch für die Kollegen in Manchester. Ich hab's schon fünfmal korrigiert. Immer ist wieder was anderes zu ändern. Ich kann's ihm einfach nicht recht machen. Ich ändere genau, was er will, und ständig findet er was Neues und mäkelt herum."

    „Ich würde es so verschicken, meint sie. „Weg damit per E-Mail, ihn in Kopie! Soll er froh sein, dass du es so gut ausgewertet hast, wo er doch in der Vorbereitung die Hälfte vergessen hatte!

    Ich finde die Idee gut und ziehe damit ab. Klick, und abgeschickt. Ist ja fachlich alles richtig, genau ausgewertet, logisch aufgebaut! Ich hab' meine Arbeit gemacht, er hat ja keinen Durchblick! Und er kann mich mal! Und nicht mal das.

    Die Kollegen in England werden jedenfalls mit mir zufrieden sein.

    Ob der Lover ein Lieb-Haber ist ...!?

    Abends holt mich mein aktueller Lover ab, Heiner. Er ist knapp fünfzig und so groß, dass ich mich bei ihm gut beschützt fühle. Dazu etwas mollig, also ein großer Kuschel, kurzes Haar, gepflegte Erscheinung, zeigt mitunter ein etwas machohaftes Benehmen – es sei ihm verziehen!

    Vom Intellekt her ist er genau meine Kragenweite, vom Äußeren nicht ganz mein Traum-Mann, aber er wird mir jetzt als Vertrauter bestimmt ein passender Freund sein, da habe ich ein gutes Gefühl.

    Bald sitzen wir am Rand eines großen Pools in der Therme und strecken die Füße ins Wasser. Wortkarg, wie er ist, beginnt er mit der üblichen Anrede: „Na Süße, wie war denn dein Tag!"

    Ich hasse dieses Gesülze, bleibe aber nett und erwidere: „Och, ist irgendwie nur noch blöd. Ich hatte einen Bericht zu schreiben, zwanzig Seiten, und jetzt schon die fünfte Änderung. Mein Chef weiß immer wieder was daran auszusetzen. Nervt nur

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1