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Aina, das Mädchen aus Sibirien
Aina, das Mädchen aus Sibirien
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eBook145 Seiten2 Stunden

Aina, das Mädchen aus Sibirien

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Über dieses E-Book

Die junge Aina lebt in der Nähe von einem sibirischen Dorf. Die meiste Zeit verbringt sie mit ihrem Vater, der eine Dampfmühle besitzt, der Grossmutter aus Schweden, die lettische Lieder singt und einem Bären, mit dem Aina gerne spielt. Als sich in der Umgebung auf einmal geheimnisvolle und erregende Dinge ereignen, gerät Ainas Alltag ganz schön durcheinander: Plötzlich tauchen fremde Menschen auf, die genauso schlagartig wie sie aufgetaucht sind wieder verschwinden und Polizisten durchsuchen die Häuser. Eines Tages steigt Aina mit ihren Geschwistern und den Eltern in einen Güterzug, der die Familie nach Europa bringen soll. Auf dieser Reise lernt Aina nicht nur Hunger und Not kennen, sondern erfährt auch wie unterschiedlich Menschen in Krisensituationen agieren. – Ein tiefergreifender Roman, in dem die Autorin ihre Kindheitserlebnisse aus dem "Russland der Oktoberrevolution" dichterisch verarbeitet. Lesenswert! -
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Jan. 2017
ISBN9788711508114
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    Buchvorschau

    Aina, das Mädchen aus Sibirien - Aina Broby

    Aina

    Das Kalbszeichen

    Schon seit vielen Tagen war ich nicht mehr draußen gewesen. Durch alle Fenster sah man nichts als Schneegestöber. Es war, als blickte man in einen Kessel mit kochender Milchsuppe. Keiner wagte sich vor die Tür, solange der Buran tobte. Das Tor blieb Tag und Nacht verriegelt, damit der Knecht, der zu den Pferden in den Stall hinuntermußte, sich nicht hinaus in die Steppe verirrte.

    Die Mühle war nicht zu hören. Es kamen ja auch keine Schlitten mit Korn. Deshalb waren sie in unserem Teil des Hauses allesamt schlechter Laune. »Jetzt haben die Maschinen schon fünf Tage und Nächte stillgestanden«, sagte Vater brummig und gähnte, daß es in seinen Kieferknochen knackte. Mutter sah ihm bekümmert nach, als er in sein Zimmer ging, um zu rauchen. Sie saß unter der grünen Lampe an ihrer Maschine und nähte Hemden für ihn. Das könne kein andrer als sie richtig machen, meinte sie. Sie war es auch, die ihm eigenhändig den Rücken trokkenrieb und ihm ein reines Hemd anzog, wenn er von der Mühle kam.

    Großmutter lag hoch oben in ihrem Bett. Sie hatte schlimme Beine, und sie hatte auch schlimme Augen, die sie in Tee badete, der in einer Tasse neben ihrer Brille stand. Sie lag da und sang auf Lettisch vor sich hin:

    »Ihr jungen Mädchen, haltet mir

    des Bauern Tun hoch in Ehren!

    Bauernhände, Bauernfüße

    blühen wie ein Apfelbaum.«

    Weiß der Kuckuck, wie ein Apfelbaum aussieht, dachte ich. Im Kinderzimmer standen ein paar Gummibäume in Tontöpfen, Mutter hatte sie aus Omsk schicken lassen, damit ich ein paar Bäume zum Spielen hatte. Aber die blühten nie.

    Alles sei hier in Sibirien verkehrt, fand Großmutter. Man bekomme nicht mal ein ordentliches Stück Roggenbrot, und die Sprache sei nicht zu verstehen. Vaters Dampfmühle konnte sie auch nicht leiden. Bloß rumzugehen und nach so einem bißchen Maschinerie zu sehen, das sei eine viel zu leichte Arbeit für einen Mann. Und von den Bauern unten im Dorf sagte sie, das seien ein paar richtige Faultiere, die nicht mal Lust hätten, ihren Dung aufs Feld zu bringen, sondern ihn einfach liegenließen, so daß er sich rings um das Dorf zu einer ganzen Kette von Bergen anhäufte. Das lag natürlich daran, daß die Bauern so dicht beieinander wohnten und der eine sich immer darauf verließ, daß der andere die Arbeit machte. Bei den Letten und Schweden, deren Höfe weit voneinander entfernt lagen, war das anders. Wenn es nach Großmutter gegangen wäre, wäre sie nach Europa zurückgefahren, aber Vater sagte, das sei eine viel zu lange Reise für einen alten Menschen. Und außerdem nun, da dort drüben Krieg sei, ganz und gar unmöglich.

    Ich saß zu Mutters Linken auf einem Schemel und wartete darauf, daß sie einschlief. Großmutter schlief schon. Ihre spitze Nase wies zur Decke. Auch Vater schlief in seinem Zimmer. Man konnte ihn drinnen schnarchen und pfeifen hören. Er hatte fünf Brüder, die alle auf diese Weise schliefen. Wenn sie zu Besuch kamen, wurden sie im selben Zimmer einquartiert, denn dann störten sie keinen. Wenn Mutter auch eingeschlafen war, würde ich mich in die Küche hinausschleichen können, aber vorher mußte ich durch vier dunkle, kalte Zimmer. Die Kronleuchter dort wurden nur am Heiligabend angezündet. Die Küchentür war mit Filz abgedichtet, aber die Klinke saß so locker, daß sogar der Hund die Tür mit der Schnauze aufstoßen konnte. Als ich das letztemal in der Küche gewesen war, war es da so wunderbar warm. Das Gesinde saß und schlürfte Tee aus Untertassen. Der Samowar wurde ständig mit frischer Glut aus dem Ofen versorgt, und auf dem Tisch stand ein Berg kleiner Kuchen. Sie waren am Rand leicht angebrannt.

    Der Tscheche Panotschek hatte mit seinen Müllergesellen oben auf dem Ofen gesessen und mit den Beinen gebaumelt. Panotschek hatte einen breiten Bart und war nicht zu bewegen, Lotterie zu spielen. Er sagte, wenn die Leute das bleibenlassen könnten, würde es keinen Krieg mehr geben. Wenn er Feierabend hatte, malte er kleine Bilder mit der Jungfrau Maria und dem Jesuskind. Weiter unten auf dem Ofen, wo das Mauerwerk so richtig schön lauwarm war, saßen die Mägde. Die alte Annuschka, die herrliches Brot buk und mir kleine Happen in den Mund steckte, obwohl es streng verboten war, mir außerhalb der Mahlzeiten etwas zu essen zu geben, Darja, die es sehr auf Panotschek abgesehen hatte, und Polja, die ständig Ärger mit ihren Brüsten hatte. Immer wenn sie im Dorf zum Tanz gewesen war, bekam sie ein Kind, und dann weinte sie und wußte nicht, was sie damit anfangen sollte, denn sie wollte ungern ihre Stelle aufgeben. Sie entschied sich immer für die Stelle und gab das Kind bei Fremden in Pflege. Zur Strafe dafür mußte sie dann mit schlimmen Brüsten herumlaufen.

    Sie hatten über den Krieg geredet und die Unmengen von Geld und Brillanten, die in Eimern vergraben wurden, wenn die Leute flüchten mußten. Über ganze Schiffslasten Gold, die im Schwarzen Meer und bei Port Arthur versenkt worden waren. Annuschka sagte, sie kenne im Dorf eine weise Frau, die sowohl Wasser als auch Schätze finden könne. Aber Panotschek sagte, daß er keinen Fatz davon glaube und daß er jetzt Haus und Frau und Kinder gehabt hätte, wäre er nicht früher einmal einem solchen Betrüger in die Klauen gefallen. Damals wußte er noch nicht, wie falsch die Welt war. Er war sieben, acht Jahre alt gewesen, als seine Eltern bei einem Brand umkamen, während er im Garten der Herrschaft auf einem Baum gesessen und Kirschen gegessen hatte. Nach der Beerdigung hatte der Gutsbesitzer Panotschek nicht mehr in seinem Dienst haben wollen und ihm einen Zettel mit der Adresse von Panotscheks Großvater Nikita in die Tasche des alten Schafpelzes gesteckt. Diesen Zettel sollte er den Leuten zeigen, damit sie ihm den Weg sagten. Man war sehr nett zu ihm gewesen, hatte ihm ein Nachtlager gegeben und ihn mit frischem Brot und Segenswünschen weitergeschickt. Auf diese Weise hatte er schon viele Tagesmärsche zurückgelegt, als er einen halbtauben Bettler traf, und die beiden waren dann gemeinsam weitergegangen. Eines Abends waren sie neben einem Hünengrab in einen Heuschober gekrochen.

    Der Abend war so mild gewesen. Die Grillen hatten gezirpt, und die jungen Hasen waren herumgesprungen. Doch der Bettler hatte Schüttelfrost bekommen und gerufen, er spüre, daß es vom Hünengrab eisig herüberziehe, dort drinnen sei bestimmt Geld vergraben. Er schlug Panotschek vor, hinaufzusteigen und unter den Steinen nachzusehen. Das Geld könnten sie dann teilen und für die Reise verwenden. Panotschek hatte seinen Pelz ausgezogen und runtergeworfen und sich daran gemacht, die Steine wegzuwälzen. Doch er fand nur Würmer darunter, und inzwischen hatte sich dieser Hundesohn mit Panotscheks Schafpelz und Großvaters Adresse aus dem Staub gemacht.

    Danach war Panotschek wie ein Geldstück von Hand io zu Hand gegangen, und alle Nikitas, denen er begegnet war, waren die falschen gewesen.

    Danach war Panotrichek wie ein Geldstück von Hand zu Hand gegangen, und alle Nikitas, denen er begegnet war, Waren die falschen gewesen.

    Ich fand, Panotschek konnte einem leid tun, und wir waren uns allesamt darin einig, daß der Bettler und der Gutsbesitzer eine gehörige Tracht Prügel verdient hätten, und Annuschka sagte, daß sie Panotschek nun Karten legen und sehen wolle, was ihm die Zukunft bringen werde. Die Karten zeigten, daß ihm eine lange Reise bevorstand, und der Grund dafür war ein Frauenzimmer. Ein älterer Herr war dabei mit im Spiel, und da bekam Darja einen roten Kopf, und Panotschek lachte, daß die Gläser auf dem Tisch klirrten. Ich konnte einfach nicht verstehen, daß er sich das traute, wo doch Annuschka dabei war, denn sie sah und hörte eine Menge Dinge, die andere Menschen nicht bemerkten. Sie hatte selber gesehen, wie ein Alp durch die Luke in die Badestube blickte. So einer ist immer hinter jungen Leuten her, denn die sind so mit ihren Vergnügungen beschäftigt, daß sie für das Böse kein Auge haben. Als der Alp sah, daß es nur eine alte Frau war, verschwand er sofort. Annuschka konnte auch mit den Seelen von Verstorbenen reden, die in Gestalt einer Fliege zu ihr kamen. Mutter wußte nicht, daß ich unter der Matratze ein kleines Kreuz versteckt hielt, das ich von Annuschka hatte, und daß sie mir auch beigebracht hatte, einen Kreis um mein Bett zu schlagen, nachdem das Licht gelöscht worden war, damit die Gespenster nicht zu mir kommen konnten. Und manchmal lag ich unter der Bettdecke und weinte vor Angst, daß Vater und Mutter sterben würden, weil ich geträumt hatte, meine beiden Vorderzähne seien ausgefallen. In Annuschkas Traumbuch stand, daß man dann seine beiden Eltern verlor.

    Plötzlich hörte ich Großmutter laut sagen: »Was für einen Nutzen hast du schon von dem Kind? Es sitzt ja nur da und träumt. Als ich in dem Alter war, hatte ich mir schon mein erstes Paar Stiefel und ein Hemd verdient, aber jetzt muß ja alles so vornehm sein, und unsereins darf nicht mal mehr mit den Fingern, die einem der Herrgott gegeben hat, das Essen probieren.«

    Ich zuckte zusammen, stand auf und ging ins leere Kinderzimmer. Dort stand nur eine Kiste mit Spielsachen, und hinten an der Wand standen die Gummibäume in ihren Tontöpfen. Es gab dort keine Möbel, damit ich Platz zum Herumspringen hatte, ohne daß ich mich stoßen konnte. Ich nahm eine Gummikuh aus der Spielzeugkiste: »Ich will dich lehren, du Faulpelz, hier bloß rumzuliegen und nichts zu tun!« Ich schlug darauf los, daß sie in hohem Bogen zwischen die Gummibäume flog. Ich sprang hinterher und fiel hin. Einen Lidschlag lang sah ich die Blumentopfkante auf meine Augen zurasen. Ich zog die Knie bis ans Kinn hoch, so weh tat es, und hatte beide Hände voll Blut. Mit dem einen Auge sah ich überhaupt nichts mehr. »Jascha, Jascha!« hörte ich Mutter völlig außer sich schreien. »Wir müssen einen Arzt holen. Was machen wir bloß?«

    Ich sah eine Untertasse voll Jod und einen Wattebausch, der dort hineingetaucht wurde. Und dann brannte es so im Kopf, daß ich gar nicht mehr schreien konnte.

    Als ich wach wurde, brannte nur ein einziges Licht. Sie waren alle miteinander da: Vater und Mutter, die draußen aus der Küche, und selbst Großmutter war aus ihrem Bett gekrochen. Einen solch ernsten Gesichtsausdruck hatte ich nie zuvor bei meinem Vater gesehen. Er zog den Mund so ulkig zusammen, daß ich einfach lachen mußte. Darüber wurden sie alle so froh, daß einer dem andern ins Wort fiel. Annuschka sagte, es sei ein gutes Zeichen, daß die Wunde rund sei, und Großmutter versicherte, daß ein Kinderkopf imstande sei, ein Brett zu spalten.

    »Solange sie so klein sind, können sie alles aushalten.« Ihre letzten Zwillinge seien ihr, als sie mit dem Pferdewagen Milch wegfuhr, vom Sitz gerutscht und zwischen die, Kannen gefallen, und davon hätten die Kleinen keinen Schaden zurückbehalten. Nein, die Vorsehung habe es so eingerichtet, daß jedes Kalb sein Zeichen bekomme, und die Menschen bekämen es auch,

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