Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Anabel: Eine ungewöhnliche Liebe
Anabel: Eine ungewöhnliche Liebe
Anabel: Eine ungewöhnliche Liebe
eBook469 Seiten6 Stunden

Anabel: Eine ungewöhnliche Liebe

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Julia Gärtner ist Anfang dreißig und als Eventmanagerin erfolgreich. Doch der Job überfordert sie. Der Arzt verordnet ihr eine Auszeit auf dem Land. Julias Mann Carsten akzeptiert, dass sie diese Zeit der Erholung allein verbringen sollte. In der abgelegenen Pension trifft Julia ihre frühere Spielgefährtin Anabel, die Tochter der Wirtin, nach fast zwanzig Jahren wieder. Beide erneuern ihre Freundschaft und verbringen gemeinsam eine schöne Zeit. Als Anabel eines Tages ihre Liebe zu Julia gesteht, ist das für alle Grund zum Nachdenken. Julia muss eine schwere Entscheidung treffen. Sie fühlt sich zu der jungen Frau, die sie innig liebt, hingezogen – doch sie ist verheiratet. Wenig später, als Anabel einen Unfall hat, weiß sie, dass in ihrem Traum der ersten Nacht hier eine tiefere Bedeutung liegt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Juni 2021
ISBN9783969405383
Anabel: Eine ungewöhnliche Liebe

Mehr von Sandy Lee lesen

Ähnlich wie Anabel

Ähnliche E-Books

Familienleben für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Anabel

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Anabel - Sandy Lee

    www.engelsdorfer-verlag.de

    1

    Der Tag war viel zu heiß für Anfang Mai. Die Sonne stand hoch am tiefblauen Himmel und sandte ihre Strahlen auf die belebten Straßen. Die Großstadt probte den Sommer. Menschen hatten ihre T-Shirts hervorgeholt, um die winterblassen Körper ein erstes Mal der Wärme auszusetzen. Sie fühlten sich sichtlich wohl, obgleich sie dabei einen Sonnenbrand riskierten.

    Im Büro waren die Jalousien herabgelassen. Das Licht fiel in Streifen auf die Schreibtische an den Fenstern. Es gab viele Schreibtische in diesem Büro. Genau genommen waren es zwölf – plus den vom Chef. Der behauptete stets, nicht abergläubisch zu sein. Dennoch hatte seine Ehe nur sieben Jahre gehalten. Das verflixte siebente Jahr …

    Julias Tisch befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft von Georgs. Georg Hassethal – das war der Chef der Eventagentur ›Highlife‹, in der Julia arbeitete. Sie war eine der leitenden Eventmanagerinnen und als solche eine gefragte Frau. Sowohl Städte, Firmen, Vereine und Gesellschaften, aber auch Privatpersonen buchten Eventmanager zur Ausgestaltung ihrer Veranstaltungen. Und der Trend ging nach oben. Immer mehr entdeckten die bequeme Art, sich zu gegebenem Anlass nicht mehr selbst um alles kümmern zu müssen. Die Branche litt keine Not an Aufträgen.

    »Geht das Grossmann-Jubiläum klar?«

    Georg sah Julia an, die gerade einen Kunden am Telefon hatte. Sie bat kurz um Geduld und schaltete das Mikrofon stumm.

    »Ja. Die Band ist gebucht. Samstag ist ähnliches Wetter wie heute angesagt. Wir haben auf dem Festplatz sechs Tafeln für je zwanzig Personen bereitgestellt. Sollte es wider Erwarten doch regnen, steht der kleine Saal des Kongresszentrums zur Verfügung. Der Catering-Service bringt morgen die Menüvorschläge. Die Firma Grossmann kann ihrem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum beruhigt entgegensehen.«

    Der Chef nickte zufrieden.

    »Und die Hochzeit Warneke? Hat es mit dem ›Lindeneck‹ geklappt?«

    Julia zeigte auf den Hörer in der Hand. Dann suchte sie auf ihrem Tisch eine Mappe heraus und reichte sie Georg.

    »Ist alles geklärt. Schau es dir bitte selbst an!«

    Nun war sie wieder für ihren Kunden da.

    »Natürlich richten wir den fünfundsiebzigsten Geburtstag ihrer Mutter gern aus. Wie viele Personen werden etwa erwartet?«

    Eine Eventagentur ist wie ein Bienenstock. Es geht sehr rege, doch geordnet zu. Drinnen gibt es jede Menge Arbeit, und wenn die Mitarbeiter ausschwärmen, erwartet sie am Auftragsort wieder Arbeit. So war es auch hier. Oft kam Julia abends nach Hause und war erschöpft von der Arbeit. Doch sie hatte Freude daran, wenn sie den Kunden ein unvergessliches Ereignis bereiten konnte. Als sie sich für diesen Beruf entschied, hatte sie keine Vorstellung, welche Vielzahl an verschiedenen Partnern sie zu manchen Veranstaltungen koordinieren musste, damit alles perfekt lief. Gastronomische Versorgung, kulturelle Ausgestaltung, Lokalitäten, Dekorationen, Fahrdienste, Ämter und Behörden – die Liste ließe sich weit fortsetzen. Bis jetzt hatte sie ihre Entscheidung nicht bereut.

    Carsten Gärtner hatte, gleich nachdem er nach Hause gekommen war, ein Bier aus dem Kühlschrank genommen und sich damit in seinen geliebten Sessel versenkt. Die heutige Zeitung lag auf dem Tisch. Das abendliche Lesen des Blattes bei einem Glas erfrischenden Gerstensaft war für ihn eine Art Ritual, der Abschluss eines langen Arbeitstages.

    Carsten war Immobilienmakler und als solcher pendelte er zwischen dem Büro und den angebotenen Häusern und Wohnungen. In diesem Punkt glichen sich die Tätigkeiten von ihm und seiner Frau Julia. Und bei beiden erstreckte sich die Arbeitszeit oft weit über das übliche Maß hinaus. Das war der Preis für ein Leben in gehobenem Standard.

    Gerade war er bei der Sportseite angelangt, als Julia zur Tür hereinkam. Sie streifte die Schuhe ab, stellte ihre Tasche auf die kleine Kommode im Flur und betrat das Wohnzimmer.

    »Hallo Schatz! Hattest du einen guten Tag?«

    »Wie man’’s nimmt. Zwei Abschlüsse, dazu ein neues Angebot. Das Schlimmste ist immer die Erstellung dieser Portfolios. Wie ich die Computerarbeit hasse!«

    »Wäre es dir lieber, wenn du alles in die Schreibmaschine tippen dürftest, um dich dann bei jedem Fehler zu ärgern? Ich mag den ganzen Bürokram auch nicht, bin lieber draußen vor Ort. Doch das eine gibt es ohne das andere nicht.«

    »Du hast ja recht. Und wie war dein Tag heute?«

    »Mein Chef geht mir seit Wochen mit diesem Grossmann-Firmenjubiläum auf die Nerven. Hoffen wir nur, dass das Wetter so schön bleibt. Sonst gibt es noch Stress in letzter Minute.«

    Julia ließ sich auf die Couch fallen.

    Carsten schaute seine Frau an.

    »Du siehst müde aus. Wir sollten am Wochenende mal etwas richtig Schönes unternehmen.«

    »Geht nicht. Da ist doch dieses verflixte Jubiläum. Erstens muss ich wegen der Koordination dort sein, und zweitens hat mich Grossmann persönlich eingeladen. Bliebe also nur der Sonntag.«

    Julias Mann runzelte die Stirn.

    »Du rackerst dich für deine Agentur ab, bis du nicht mehr kannst. Du solltest etwas kürzer treten.«

    Sie konterte: »Das muss mir ausgerechnet einer wie du sagen. Einer, der seine angebotenen Wohnungen besser als die eigene kennt. Du hättest es genauso nötig.«

    Carsten nickte bedächtig. Er wusste, dass etwas mehr Ruhe beiden wohltun würde. Doch die musste man erst einmal erstreiten. Je höher man in einer Firma wie diesen angebunden war, desto weniger Zeit blieb am Ende für einen selbst.

    »Also, nur Sonntag. Was hältst du von einem Essen im ›Hubertus‹? Zarter Rehrücken? Und anschließend Shiatsu? So eine Massage wird dir gut tun.«

    Julia winkte ab: »Ich weiß nicht. Diese Knochenbrecher? Du fühlst dich hinterher doch nur entspannt, weil der Schmerz nachlässt.«

    »Dann schlag du etwas vor! Sag, was du möchtest!«

    »Wie wäre es mit einer Bootsfahrt? Einfach raus auf den Kranichsee und dann die Seele baumeln lassen.«

    »Wenn es dich glücklich macht«, brummte Carsten.

    Julia kannte diesen Ton.

    »Du scheinst nicht besonders begeistert zu sein. Ich glaube, wir beide haben einigermaßen unterschiedliche Vorstellungen von Erholung.«

    »Ehrliche Antwort?« Er fragte, obwohl das vollkommen überflüssig war. Julia war immer für absolute Offenheit.

    »Du kennst meine Ansicht darüber«, war dann auch die Erwiderung.

    »Ich verbringe so viel Zeit am Schreibtisch, dass ich es sehr entspannend finde, mich mal richtig zu verausgaben. Seinen Körper spüren, wenn er belastet wird. Ein Tennismatch, oder Schwimmen. Meinetwegen auch Golf. Das bringt mich runter von der Arbeit.«

    Seine Frau konnte das verstehen. Doch es war eben nicht ihre Welt.

    »Ich habe so viel Lauferei am Tag. Da brauche ich keinen zusätzlichen Sport. Ein schönes Buch lesen, sich kreativ betätigen – malen oder …« Sie unterbrach ihre Gedanken, als sie den Ausdruck von Desinteresse auf Carstens Gesicht sah.

    Eine Weile blieb es still. Es gab ab und zu solche Momente, in denen jeder seinen eigenen Vorstellungen nachhing. Die beiden hatten vor fünf Jahren geheiratet, obwohl sie damals schon feststellen mussten, dass sie nicht das klassische Liebespaar waren, welches sich findet und nur noch zusammensein möchte. Carsten war dreißig gewesen, ein attraktiver Mann von fast athletischem Äußeren. Sein volles dunkles Haar, die braunen Augen – das verlieh ihm einen südländischen Ausdruck. Und Julia, zu der Zeit sechsundzwanzig, hatte gerade ihr Studium beendet und suchte einen Job als Eventmanagerin. Grünäugig mit einer langen Lockenmähne in Brünett, das leicht ins Rötliche schimmerte, musste sie jedem Mann auffallen. Sie erweckte den Eindruck einer Frau, die weiß, was sie will, und die das auch durchzusetzen versteht. Und genau diese Willensstärke hatte Carsten fasziniert. Eine Katze, die schmusen kann, aber im nächsten Moment ihre Krallen ausfährt.

    Das war über fünf Jahre her. Bereits nach sechs Monaten hatten sich die beiden zur Hochzeit entschlossen. Sie kalkulierten damals wohl schon ein, dass es momentan sehr schön war, so zusammenzugehören, dass dies aber nicht für alle Zeiten sein müsste. Bisher hatten sie sich auch noch nicht für ein gemeinsames Kind entscheiden können. Einer hätte dann seine Arbeit aufgeben müssen, wobei Julia sich ihren Carsten schlecht in der Rolle des treusorgenden Vaters vorstellen konnte.

    Und nun saßen beide im Wohnzimmer und schwiegen sich an. Näherten sie sich jetzt schon dem Punkt, an dem es gemeinsam nicht mehr weiterging? Waren ihre Auffassungen von dem anderen so verschieden geworden, dass dies für die Zukunft zu zweit nicht mehr reichte?

    »Wie wäre es mit Reiten?«

    Julia hatte einen Kompromiss gesucht und war zu diesem Ergebnis gekommen.

    »Wir könnten doch in den Nachbarort fahren. Dort gibt es einen Reiterhof. Das ist sportlich, aber gleichzeitig entspannend. Was meinst du?«

    Carsten konnte dem Gedanken einiges abgewinnen.

    »Also gut – reiten wir.«

    Julia stand auf.

    »Ich brauche jetzt erst einmal ein Bad. Ich bin total durchgeschwitzt. Danach gibt es Abendessen.«

    Kurz darauf hörte man das Plätschern von Wasser, während Carsten sich Bier nachschenkte.

    Georg Hassethal hatte schlechte Laune. Der DJ, der bei der Hochzeit der Warnekes für die musikalische Unterhaltung sorgen sollte, war verhindert. Er hatte einen Radunfall, bei dem es zu einer Karpaltunnelklemmung gekommen war. Damit konnte er für die nächste Zeit keine Platten mehr auflegen.

    Als Julia das Büro betrat, sah sie dem Chef den Missmut schon von weitem an. Oje, dachte sie, wenn er so drauf ist, gibt es wieder zusätzliche Arbeit. Und damit lag sie vollkommen richtig.

    »Julia, der Warneke-DJ hat eine kaputte Hand. Wir brauchen dringend Ersatz.«

    Die junge Frau setzte sich an ihren Arbeitsplatz und holte sich die Datei mit den Musikunterhaltern auf den Monitor. Verflixt – die meisten waren auf Wochen verbucht. Wo sollte sie jetzt etwas Gleichwertiges herbekommen? Die Hochzeitsfeier war nächste Woche Samstag, es musste schnell eine Lösung gefunden werden.

    Plötzlich kam ihr eine Idee. Ihre Schwester Jenny hatte von einem ehemaligen Klassenkameraden berichtet, der mit Freunden eine Band gegründet hatte. Viel konnte so eine Gruppe angehender Musiker nicht kosten – es kam nur darauf an, wie ihr Repertoire war.

    »Julia, hast du was gefunden? Wer kann die Sache übernehmen?« Georg steckte voller Unruhe. ›Dein Leben möchte ich nicht geschenkt bekommen‹, dachte Julia für sich. Laut sagte sie: »Ich muss noch mal nachfragen, aber ich denke, ich kann’’s richten.«

    Sie sah auf die Uhr. Es ging auf halb neun. Jenny war Lehrerin an einer Grundschule. Halb neun war kleine Pause. Sie musste es versuchen.

    Julia stützte den Kopf mit den Händen. In letzter Zeit hatte sie häufig das Gefühl, sich abzumühen und dennoch nicht von der Stelle zu kommen. Dann überkam sie eine lähmende Müdigkeit. Nicht die normale, bei der einem die Augen irgendwann zufallen – nein, ihr Körper fühlte sich schwer und träge an, jede Bewegung erforderte Kraft. Vielleicht sollte sie sich einmal untersuchen lassen?

    Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch. Es war drei nach halb neun. Julia griff zum Telefon, wählte die Nummer ihrer Schwester.

    »Hallo Schwesterherz! Ich habe einen kleinen Anschlag auf dich vor.«

    Am anderen Ende der Leitung lachte Jenny.

    »Aus welchem Grund rufst du mich um diese Zeit an? Das machst du doch nur, wenn die Hütte am Brennen ist.«

    Bei dem Ausdruck musste auch Julia schmunzeln.

    »Jenny, du hast mir doch einmal von einem deiner Klassenkameraden erzählt, der jetzt in einer Band spielt.«

    »Ach, du meinst Harry! Ja, der ist Gitarrist bei ›Harry & The Handicaps‹. Das sind vier Jungs, die so richtig losrocken.«

    »Was spielen sie denn so für Musik?«

    Jenny merkte, worauf die Sache hinauslief.

    »Du suchst wohl eine Band? Und das sollen ausgerechnet die Jungs sein?«

    »Na ja, wir hatten einen DJ für eine Hochzeit. Doch der ist ausgefallen. Und alle anderen, die in Frage kämen, sind ausgebucht. Also sag schon, was für eine Richtung haben sie drauf?«

    »Ist das Brautpaar in guter Verfassung? Harry ist Vollblut-Rock-’’n’’-Roller. Keine Musik, bei der sich die Tanzpaare aneinander festhalten.«

    Julia schaute in ihre Unterlagen.

    »Ich glaube, sie sind Mitte zwanzig. Das dürfte gelenkig genug für eine heiße Sohle sein.«

    »Und wann brauchst du sie?«

    »Nächste Woche Samstag, so gegen Mittag. Fragst du sie bitte? Und ruf mich gleich an, wenn du mit ihnen gesprochen hast!«

    »Oh, Mist! Jetzt haben wir die gesamte Pause verquatscht. Ich muss los. Tschüss, Schwesterchen.«

    Julia legte das Telefon zur Seite.

    »Georg! Wie stehst du zu Rock ’’n’ Roll?«

    Der Chef schaute von seinen Papieren auf.

    »Machst du Witze? Was soll die Frage?«

    »Ich kann als Ersatz für den DJ wahrscheinlich eine junge Rock-’’n’’-Roll-Band bekommen. Wenn das die Hochzeitsgesellschaft aushält …«

    »Wo hast du die denn aufgetrieben? Aber frag lieber selbst nach! Du hast doch die Nummer.«

    »Das hätte ich sowieso getan. Ich warte nur noch auf die endgültige Zusage.«

    »Ach, das ist noch nicht sicher?« Georg rutschte wieder etwas in sich zusammen.

    »Es sind private Kontakte. Da muss ich erst nachhaken. Meine Schwester kennt die Leute.«

    »So so, deine Schwester. Sag mal, die ist doch meines Wissens auch noch nicht verheiratet. Richte ihr aus: Wenn sie die Sache hinbekommt, erhält sie zu ihrer Hochzeit die Musik gratis!«

    »Oh, wie nobel. Wie lange gilt der Deal?«

    Julia wandte sich wieder lachend ihrer Arbeit zu.

    »Wir haben hier eine offene Maisonette-Wohnung mit einhundervierundzwanzig Quadratmetern. Die Küche ist in den Wohnraum integriert, das Bad natürlich separat. Die Treppe führt zum halboffenen Obergeschoss, von dem Schlaf- und Kinderzimmer abgehen. Dazu ein zweites Bad. Nun, wie gefällt Ihnen das, Frau Dr. Lehnert?«

    Die Angesprochene war eine äußerst attraktive Frau Mitte dreißig – eine blonde Schönheit mit Pagenkopf. Dr. Simone Lehnert, Psychologin – das stand auf ihrer Visitenkarte, die sie Carsten übergeben hatte. Der Makler hoffte, einen richtig großen Fisch am Haken zu haben. Solche Wohnungen verkauften sich nicht jeden Tag. Und die Dame machte einen sehr zufriedenen Eindruck.

    »Doch, die Wohnung hat etwas. Ich liebe diese Weite. Nichts ist schrecklicher als ein Flur mit einem halben Dutzend Türen nach beiden Seiten. Hier hat man alles im Blick.« Sie stieg die Treppe hinauf.

    »Schön, sehr schön. Einmal der Blick nach unten in den Wohnbereich, und dann der schöne Ausblick von der Sitzecke hier oben nach draußen.« Sie ging ans Fenster.

    Carsten öffnete die Zimmertüren, um die Räume zu zeigen. Beim Kinderzimmer erklärte die Psychologin nach einem prüfenden Blick: »Das wird mein Arbeitszimmer. Wissen Sie, an Kinder kann ich im Moment noch nicht denken. Ich bin beruflich sehr engagiert, da bleibt wenig Zeit für Familie.«

    ›Noch so eine Überstrapazierte‹, dachte Julias Mann. ›Die Welt scheint nur noch aus Berufsidealisten zu bestehen.‹

    »Also nehmen Sie die Wohnung?«, stellte er die entscheidende Frage.

    »Aber ja! Solch ein Angebot erhält man nicht oft. Bereiten Sie die Papiere vor. Das Geschäft steht.«

    Sie hielt ihm ihre schlanke Hand hin.

    »Dann gilt das Geschäft.« Carsten besiegelte den Deal mit einem galanten Händedruck.

    »Ach, Herr Gärtner. Wie wäre es, wenn wir auf den erfolgreichen Abschluss ein Gläschen miteinander trinken würden? Sagen wir – acht Uhr in der ›Orion‹-Bar? Passt es Ihnen?«

    Carsten wurde auf einmal heiß. Die kühle Blonde hatte doch nicht etwa Absichten? Andererseits gehörte es für sie anscheinend zum Geschäft dazu. In diesem Fall konnte er schlecht nein sagen.

    »Ja, ich denke, das lässt sich einrichten«, versicherte er der Dame. Jetzt bloß nicht kleinlich sein. Hier ging es um eine Menge Geld. Julia würde das sicher verstehen.

    Carstens Frau wartete zuhause. Sie wartete auf den Anruf ihrer Schwester. Die Sache war zu wichtig, als dass sie langen Aufschub duldete. Normalerweise versuchte Julia, keine Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Doch das hier war eine Privatinitiative.

    Es war jetzt nach sechs Uhr. Wo ihr Mann nur blieb? Um diese Zeit war er meist da, und kam doch etwas dazwischen, rief er wenigstens an. Sie hatte auf dem Heimweg Brathähnchen für das Abendessen mitgebracht. Falls er noch lange ausblieb, musste sie das Geflügel erst wieder aufbacken.

    Na endlich! Die Wohnungstür öffnete sich. Carsten gab Julia, die gerade in die Küche gehen wollte, einen Kuss.

    »Wo warst du nur so lange? Ich habe Hähnchen zum Abend. Die werden kalt.«

    Carsten hatte sich schon eine Antwort zurechtgelegt.

    »Du, ich habe ein großartiges Geschäft in Aussicht. Ein Käufer für die Maisonette in der Hollmannstraße. Der Deal ist fast perfekt. Wir wollen uns heute Abend noch einmal besprechen und alles festhalten.«

    »Heute Abend? Ist das nicht eine ungewöhnliche Zeit? Könnt ihr das nicht auch morgen aushandeln?«

    »Der Käufer hat mich eingeladen. Was sollte ich machen? Dafür bringe ich dir einen richtig guten Abschluss mit.«

    Julia schaute ihren Mann an. Es schien ihm wirklich wichtig, diesen Verkauf möglichst schnell abzuwickeln.

    »Na gut. Aber lass solche späten Ausflüge bitte nicht zur Gewohnheit werden! Der Arbeitstag ist lang genug. Und ich möchte doch auch noch etwas von meinem Mann haben.«

    Sie lächelte und gab ihm den Kuss zurück.

    Während sie in der Küche die Hähnchen zurechtmachte, Brot aufschnitt und für sich einen Tee aufgoss, zog sich Carsten ins Wohnzimmer zurück. Die Zeitung konnte er heute nur überfliegen, mehr Zeit war nicht.

    Julia brachte ihrem Mann ein Bier vorbei.

    »Ach, übrigens – Peter hat angerufen. Er fragt, ob du am Freitag zum Bowling kommst. Sag ihm doch bitte Bescheid!«

    Carsten schaute von der Zeitung hoch.

    »Peter! Ich hab’’s glatt verschwitzt. Er hatte sich vorgestern schon gemeldet. Ich ruf ihn sofort an. Danke, mein Schatz.«

    »Kommst du dann zum Essen! Du hast wenig Zeit.«

    Peter war ein alter Freund von Carsten. In ihren Sturm- und Drangjahren hatten beide zusammen mit anderen die Straßen auf ihren Motorrädern unsicher gemacht. Das war fast zehn Jahre vor Julias Bekanntschaft. Die Gang gab es nicht mehr, doch die Freundschaft der beiden hatte die Zeit überstanden.

    Gleich nach dem Essen meldete sich Carsten bei seinem Freund.

    »Peter, entschuldige, ich hatte dich total vergessen. Natürlich komme ich am Freitag. Gleiche Zeit, gleicher Ort. Wir brauchen doch beide ein bisschen Ausarbeitung.«

    »Das musst gerade du sagen. Wer von uns beiden spaziert denn andauernd von einem Haus zum anderen? Ich sitze ja nur am Computer vor meinen Plänen und Modellen.«

    »Dann wird es erst recht Zeit, dass du in Bewegung kommst. Also dann, bis übermorgen.«

    Julia rief aus der Küche: »Carsten, schau zur Uhr!«

    Verdammt! Es ging schon auf halb acht zu. Er musste sich noch umziehen, ein wenig Toilette machen. Zum Glück war es nicht weit bis zum ›Orion‹.

    Das Thema sollte er mal mit Peter besprechen. Peter Frantz kannte sich mit den kleinen und größeren Ausreden aus. Schließlich hatte er, nicht ganz unschuldig, schon eine Ehe hinter sich.

    Carstens Augen mussten sich einen Moment lang anpassen, als er von der Helligkeit der Straße in die abgedunkelte Atmosphäre der Bar trat. Hier herrschte immer dieses Dämmerlicht, welches die Erscheinung der Besucher aufs Angenehmste aufbesserte. All die kleinen Unzulänglichkeiten, die jedem Einzelnen eigen waren, verschwammen, lösten sich gleichsam auf. Der Alkohol tat sein Übriges dazu, und so kam die große Ernüchterung meist erst am nächsten Morgen.

    Carsten schaute sich um. Zuerst glaubte er, dass er zu früh sei, doch dann entdeckte er seine Verabredung an einem Tisch im Halbdunkel der Tiefe des Raumes. Er rückte die Krawatte zurecht, dann ging er auf den Tisch zu.

    »Es tut mir furchtbar leid, dass Sie warten mussten«, versuchte er eine Entschuldigung. Doch Frau Lehnert winkte ab.

    »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich bin schon vor der Zeit hier gewesen. Entgegen aller Anstandsregeln bevorzuge ich es, mich vor so einer Verabredung etwas mit der Lokalität vertraut zu machen. Aber nehmen Sie doch Platz!«

    Er setzte sich auf einen Stuhl, welcher sein Gesicht dem Anblick eintretender Gäste verbarg. Es konnte ja sein, dass sich jemand hier einfand, der ihn kannte.

    Carsten wollte gerade etwas sagen, als die Dame der Bedienung ein Zeichen gab, worauf diese zu ihnen eilte.

    »Sie trinken doch auch ein Glas Champagner?«

    Diese Frage war rein rhetorisch gestellt, denn sie bestellte die Getränke im gleichen Moment. Dann wandte sie sich an den Makler: »Es ist sehr nett hier. Genau der richtige Rahmen für den gegebenen Anlass.«

    Carsten hörte die Zweideutigkeit der Bemerkung heraus. Schnell versuchte er, die Situation zu entschärfen.

    »Ja. Große Abschlüsse sollte man wohl in gehobener Umgebung feiern.«

    Der Champagner kam. Frau Lehnert nahm das Glas und ging auf das eben Gehörte ein.

    »Auf ein gutes Geschäft.«

    »Auf Ihre neue Wohnung, Frau Doktor.«

    Sie schaute ihn ermunternd an.

    »Nun lassen Sie den Doktor beiseite! Simone.«

    »Carsten.« Die Antwort entfuhr ihm automatisch, war so gar nicht gewollt. Er musste höllisch aufpassen, um sich nicht im Handumdrehen von ihr einwickeln zu lassen.

    Beide tranken, sie mit Genuss – er, weil seine Kehle trocken war. Im Hintergrund spielte schmeichelnde Musik. Simone hatte sich eine Zigarette angezündet und blies die kleinen Rauchwölkchen in das Licht der Kerze auf dem Tisch. Sie bestellte noch zwei Gläser Champagner.

    »Wissen Sie, Carsten – ich habe nicht oft solche Abende, an denen ich mich von allen Problemen lösen kann, die ich einfach nur genieße. Vor einem Jahr habe ich meine eigene Praxis eröffnet. Vorher war ich in einem Therapiezentrum. So ein Schritt bringt zwar Freiheiten, verlangt jedoch eine große Selbstdisziplin. Wenn Sie sich da gehen lassen, sind Sie ganz schnell wieder raus. Auf diese Weise bin ich zu einem ganz ordentlichen Patientenstamm gekommen, doch privat blieb nicht viel übrig. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich musste die Gelegenheit einfach wahrnehmen, einmal wieder auszubrechen. Und da schien mir der heutige Anlass gerade richtig.«

    Ihr Gegenüber versuchte es mit Ehrlichkeit.

    »Simone – Sie als Psychologin kennen doch sicher die tiefere Bedeutung dieses kleinen Ringes hier?« Er zeigte seine rechte Hand.

    »Oh ja, den habe ich schon in der Wohnung bemerkt. Dabei ist die Ehe nur die logische Fortsetzung der Zuneigung, später der Liebe. Es ist einfach eine Willensbekundung, sich ausschließlich einem Partner zu widmen. Das Verlassen der freien Wildbahn, könnte man sagen. Wissen Sie, was das Seltsame an der Sache ist? Männer machen sehr gern auf diese Bindung aufmerksam, sind aber letztlich die, denen der ›Jagdtrieb‹ immer noch innewohnt. Wenn Frauen nicht auf unüberwindliche Hindernisse stoßen, fühlen sie sich lange bei ihrem Partner geborgen. Männer sind weit weniger auf eine Partnerin fixiert. Sie sondieren, testen – nennen Sie es, wie Sie wollen. Eine genetische Erbsünde.«

    Carsten hörte sich den Vortrag an. Wollte ihn die Frau gegenüber ermuntern, einen kleinen Fehltritt zu begehen? Fast klang es, als ob sie ihm psychologische Absolution für einen geplanten Seitensprung erteile.

    »Sie wollen also sagen, dass wir - wenn es zu einer ›Entgleisung‹ kommt, gar nichts dafür können. Also eine Art eheliche Unzurechnungsfähigkeit?«

    »Ein sehr guter Ausdruck. Ja, den sollte ich mir merken. Eheliche Unzurechnungsfähigkeit. Kommen Sie! Ich möchte tanzen.«

    Was blieb Carsten übrig? Als er der Verabredung zusagte, musste er mit mehr als einem Dank in Form von Champagner rechnen. Vor allem musste er sich eingestehen, dass diese Simone ihre Reize hatte – und sie spielte mit ihnen. Die Art, wie sie das tat, brachte Männer wirklich dazu, eine Dummheit zu begehen und sich dessen nicht einmal bewusst zu sein.

    Er erhob sich und hielt der Dame seine Hand hin. Beide gingen zur Tanzfläche, auf der die Lichtpunkte einer altmodischen Spiegelkugel ihre Bahn zogen. Es ist schon eigenartig, wie dieses Relikt aus der Disco-Ära der siebziger Jahre auf Menschen wirkte – auch heute noch. Diese Illusion von Sternenhimmel hatte etwas Romantisch-Verklärtes. Etwas, dass es viel leichter machte, sich dem anderen zu nähern.

    Jetzt erst sah Carsten Simones Kleid genauer. Es war nicht einfach ein schwarzes Cocktailkleid. Von der linken Schulter zog sich ein gesticktes Ornament herab und umspielte das Dekolleté. Der Blick folgte automatisch diesen Ranken bis zum Ausschnitt. Da die Stickerei ebenfalls schwarz war, fiel sie nur aus der Nähe richtig auf.

    Simone ließ sich gut von ihrem Tanzpartner führen. Sie hatte ihre Hand auf seine Schulter gelegt und wiegte sich im Rhythmus der Musik. Und das konnte sie so gut, dass es keinen Mann kalt ließ. Der Tanz mit ihr war wirklich ein Erlebnis.

    Dann wechselte die Musik. Ein verträumt-langsames Lied erklang. Und auf einmal lagen ihre Arme um seinen Hals. Sie lehnte sich an seine Schulter, so dass er das glatte blonde Haar mit seiner Wange berührte. Seine Hände umfassten ihre Taille, ein warmer Schauer durchrann ihn. Er kam sich vor, wie das hypnotisierte Kaninchen vor der Schlange. Wehrlos ließ er alles zu.

    »Es ist schön mit dir«, hauchte Simone. »Halt mich fest!«

    Seine Hände streichelten ihren Rücken, er lehnte seinen Kopf gegen ihren.

    »Ja, es ist ein wunderbarer Abend.«

    Simone sah zu ihm hoch. Er senkte den Blick, und dann fiel er in diese Augen die auf ihn schauten – tiefer und tiefer. Die Welt um ihn herum rückte in weite Ferne, er suchte ihren Mund und küsste sie.

    »Du bist sehr schön«, flüsterte er ihr zu. Er war berauscht von dem Augenblick, befand sich in einer Welt, die niemanden duldete außer sie beide. Unter dem Einfluss dieser Sinnesdroge bemerkte er nicht einmal, dass die Musik bereits verstummt war.

    2

    Julia fühlte sich nicht besonders erholt, als sie am Morgen erwachte. Sie hatte gestern vergeblich auf einen Rückruf ihrer Schwester gewartet und war – als Carsten auch ausblieb – gegen zehn Uhr zu Bett gegangen. Einmal wurde sie wach, es musste nach Mitternacht gewesen sein. Da lag ihr Mann schlafend neben ihr. Sie schlief auch wieder ein, hatte jedoch einen bösen Traum. In dieser Vorstellung war sie unterwegs zu Carstens Büro. Sie sah ihn aus dem Haus kommen und winkte, damit er sie bemerke. Er aber überquerte die Straße, wo auf der anderen Seite eine junge Frau wartete. Sie lächelte ihm zu, er trat an sie heran und küsste sie. Dann gingen sie gemeinsam fort. Julia blieb unbemerkt stehen.

    Carstens Frau sagte sich an diesem Tag wiederholt, dass es nur ein Traum gewesen sei und man für sein Unterbewusstsein nichts könne. Doch es machte sie verrückt, dass sie den Traum gerade in der Nacht hatte, als ihr Gatte abends lange wegblieb. Es gab nur zwei Wege, damit fertigzuwerden. Entweder sie gab nichts auf ihre Schlafgedanken und bemühte den Zufall als Auslöser der Hirngespinste. Oder sie glaubte an eine Art Vorsehung, was zur Folge hätte, dass sie Carsten nach dem gestrigen Abend befragen müsste.

    Georg bemerkte, dass Julia nicht recht bei der Sache war.

    »Alles in Ordnung bei dir?«

    »Ja. Wieso fragst du?«

    »Du siehst so abwesend aus. Als ob dir irgendetwas Sorgen bereitet.«

    »Ach nein. Es ist nur, weil ich immer noch auf den Rückruf meiner Schwester warte. Sie hat sich gestern nicht gemeldet.«

    Ihr Chef zeigte aufs Telefon.

    »Dann ruf du sie an! Vielleicht hat sie es vergessen.«

    Julia schüttelte den Kopf.

    »Vergessen? Nein. Das passiert Jenny nicht. Wenn sie sich noch nicht gemeldet hat, dann hat sie noch keinen Bescheid von der Band.«

    »Mir ist gleich, ob du oder sie. Aber komm bitte mit deinen Gedanken auf die Erde zurück, hier in dieses Büro!«

    ›Okay‹, dachte Julia. ›Dann muss ich es eben noch einmal versuchen.‹ Sie griff zum Telefon und wollte gerade die Verbindung suchen, als es klingelte. Jenny rief an.

    »Meine liebe Jenny, du hast mich ganz schön sitzen lassen. Der Chef wartet ungeduldig auf eine Zusage, und ich wollte eben selbst bei dir anrufen.«

    »Und ich bin dir zehn Sekunden zuvorgekommen! Nein, im Ernst. Es könnte klappen, wenn deine Hochzeitsgesellschaft bis zwei Uhr warten kann. Die Jungs sind vormittags unterwegs, müssen dann noch abbauen, zu euch kommen und alles wieder aufstellen. Sag mal, wo findet die Festlichkeit überhaupt statt?«

    »Kennst du das ›Lindeneck‹ draußen in der Vorstadt?«

    »Natürlich. Dort hatte ich doch meinen Abiball. Erinnerst du dich nicht mehr?«

    »Ja, stimmt. Also dort im Saal ist die Feier. Ich frag mal schnell, ob zwei Uhr recht ist. Ich ruf dich zurück.«

    Georg hatte das Gespräch zum Teil gehört und schaute nun fragend auf seine Mitarbeiterin.

    Julia bemerkte trocken: »Wenn die Gesellschaft sich bis zwei Uhr anders unterhalten kann, klappt es mit der Band.«

    »Na ja, vorher wird wohl nicht viel Musik gebraucht. Erst die Trauung, dann Glückwünsche, Mittagessen. Frag aber die Auftraggeber persönlich!«

    »Bin schon dabei.«

    Simone hatte den Makler zum Vertragsabschluss in ihre neue Wohnung gebeten. Also erschien Carsten mit Aktenkoffer und einem Blumenstrauß in der Hollmannstraße. Das Gebinde kam vom Maklerbüro, eine Aufmerksamkeit beim Kauf größerer Objekte.

    Er schloss die Tür auf und betrat die noch leeren Räume. Da es keine Möglichkeit zum Sitzen gab, streifte er durch die Wohnung, um alles auf seinen ordnungsgemäßen Zustand zu überprüfen. Er hätte sich das schenken können, da es sowieso seine Pflicht war, vor dem Kauf mit der neuen Besitzerin alle Räumlichkeiten zu inspizieren, um eventuelle Mängel aufzunehmen.

    Als er sich gerade im oberen Bereich befand, stoppte ein Wagen vor der Tür. Carsten schaute aus dem Fenster auf die Straße. Simone fuhr ein schnittiges Sportcabrio, ein Traum für alle Autofans ohne Familie. Sie war heute ganz Geschäftsfrau – ein cremefarbenes Kostüm mit Blazer unterstrich diesen Auftritt. Dazu trug sie einen braunen Seidenschal und eine Sonnenbrille. Sie sah sich kurz um, blickte zu den Fenstern hoch und betrat das Haus.

    Der Makler ging zur Wohnungstür, öffnete und wartete. Die Schritte im Treppenhaus wurden lauter, bis Simone schließlich vor ihm stand.

    »Guten Tag Simone.«

    Sie hatte die Sonnenbrille abgenommen und sah ihn mit erwartungsvollen Augen an.

    »Hallo Carsten! Schön, dich zu sehen.«

    Er trat zur Seite, um sie einzulassen. Dann holte er seinen Koffer und ging zum Fenster im Wohnbereich.

    »Der einzige Platz, um etwas abzulegen«, entschuldigte er sich.

    Simone verfolgte sein Tun mit Gelassenheit. Sie hatte Zeit, viel Zeit.

    »Ich konnte den Termin heute kaum erwarten. Ging es dir ebenso?«

    Sie schien gewillt, den gestrigen Abend fortzusetzen. Und er konnte nicht behaupten, diese Verabredung sei spurlos an ihm vorübergegangen. Nein, diese Frau hatte etwas, das Lust auf mehr hervorrief, eine geheimnisvolle Anziehungskraft.

    »Kommen wir erst einmal zum Geschäftlichen. Wir schauen uns noch einmal die Wohnung an, und du prüfst, ob alles seine Ordnung hat.«

    Er deutete an, dass sie ihm folgen möge. Raum für Raum arbeiteten sie sich durch die ganze Maisonette. Am Ende standen nur einige Kleinigkeiten auf Carstens Checkliste.

    Sie begaben sich wieder zum Fenster. Carsten holte den Kaufvertrag hervor.

    »Wenn jetzt keine weiteren Probleme bestehen, unterzeichne bitte hier!«

    Er zeigte mit dem Stift auf die betreffende Stelle. Simone nahm das Schreibgerät und signierte beide Ausführungen.

    »So, damit wäre das jetzt meine Wohnung.«

    »Genau. Ich gratuliere dir zu deinem neuen Zuhause.« Er bemerkte sein Versäumnis, lief noch einmal Richtung Tür und kam mit den Blumen zurück.

    »Als kleine Aufmerksamkeit.«

    Carsten überreichte ihr den Strauß. Sie hielt lächelnd die Hand auf.

    »Die Schlüssel, bitte!«

    Der Makler holte mit fahrigen Bewegungen den Schlüsselbund aus der Tasche.

    »Natürlich. Entschuldige.«

    Es musste ihr auffallen, dass er nicht bei der Sache war, und das war ihm jetzt schrecklich peinlich. Doch Simone schmunzelte nur über die Panne.

    »Komm! Hilfst du mir?«

    Sie holte ein Messingschild mit ihrem Namen aus der Tasche und gab es Carsten.

    »Das kleben wir jetzt an die Tür.«

    Beide gingen zum Eingang. Er öffnete die Wohnungstür.

    »Wo möchtest du es hin haben?«

    Simone stellte sich etwas zurück, um sich ein Bild zu machen. Dann deutete sie etwa in Schulterhöhe auf den Punkt, wo das Namensschild sitzen sollte. Carsten zog den Schutzstreifen vom Klebeband ab, postierte sich und nahm Maß, damit alles waagerecht saß.

    »So?«

    »Perfekt!«

    Er drückte das Schild kräftig an die Tür.

    »Das wäre es dann.«

    Er machte Anstalten, seine Aktentasche zu holen, doch sie hielt ihn an der Schulter fest.

    »Du wirst doch jetzt nicht gehen? Zuerst weihen wir die Wohnung ein.«

    Simone zog eine Flasche Champagner aus der Tasche, dazu zwei Partygläser, unzerbrechlich.

    »Machst du sie bitte auf!« Sie reichte ihm die Flasche.

    Er entkorkte den edlen Tropfen, und als der überschäumte, hielt sie schnell die Gläser hin.

    Beide stießen an.

    »Auf deine neue Wohnung.«

    »Auf uns.«

    Carsten schaute sie verwirrt an.

    »Auf uns? Wie meinst du das?«

    Da war wieder dieser entwaffnende Blick von ihr.

    »Nun, ich habe meine Wohnung, du deinen Abschluss. Das meine ich. Wir haben heute beide einen guten Tag.«

    Die Erklärung war mehr als doppeldeutig – was immer für Frau Dr. Lehnert ein guter Tag sein mochte.

    »Was wirst du jetzt tun? Ziehst du gleich ein?«

    »Als erstes werde ich mir von einem Küchenstudio die Einbauküche

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1