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Das willst du gar nicht wissen
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eBook229 Seiten2 Stunden

Das willst du gar nicht wissen

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Über dieses E-Book

Ein Kind, das nicht mehr mit seinen Eltern spricht und deshalb mehrere Psychotherapeuten beschäftigt; sein älterer Bruder, der seine Familie verlässt und zum zweiten Mal der Sohn einer anderen Familie wird; und der Kontakt dieses jungen Mannes zu einer dritten Familie bilden die Handlungsgrundlage für ein Verwirrspiel aus Wahrheit und Lüge, Schuld und Schicksal, Einsamkeit und Zugehörigkeit, Flucht und Suche.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum16. März 2017
ISBN9783745035438
Das willst du gar nicht wissen

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    Buchvorschau

    Das willst du gar nicht wissen - Helfried Stockhofe

    Kapitel 1

    In der Oberpfalz

    In der Oberpfalz analysieren die Psychotherapeuten Gedichte, eine Familie und selbstverständlich auch sich selbst.

    1

    „So Jonas, jetzt haben wir beide unsere Depressionen hinter uns!" Mit diesen Worten empfing mich meine Schwester, als ich aus der Klinik entlassen wurde. Ihr Wort in Gottes Ohr, dachte ich mir, obwohl ich es eigentlich mit Gott nicht so habe. Aber man sagt es halt so. Manche sagen Dein Wort in Gottes Gehörgang, was auch andeutet, dass sie es mit Gott nicht so ernst nehmen wollen. Die Gehörgangs-Formulierung wird nämlich als despektierlich empfunden, obwohl sie es nicht ist. Die Verwendung dieser Sprüche zeigt, dass wir nicht glauben, alles selbst unter Kontrolle zu haben. Und bei meiner Schwester und mir geht es da konkret um die psychische Gesundheit, also darum, eigenverantwortlich gesund bleiben zu können oder schuldhaft erneut krank zu werden. Es liegt nicht in unserer Macht sagen die Gläubigen.

    Überhaupt diese Sprüche!

    Meine Patienten verwenden gerne solche Sprüche. Und ich als Psychotherapeut kann sehr oft daraus etwas ableiten. Aus allem kann ich etwas ableiten! So sagen jedenfalls meine Kollegen und grinsen dabei. Besonders diejenigen, die nicht zu meiner Fraktion der Tiefenpsychologen gehören. Sogar aus Namen kann ich etwas ableiten. Natürlich auch aus meinem eigenen Namen. Ich heiße Jonas, mit vollem Namen: Jonas Weber. Jonas hat man mich genannt, weil meine Mutter in der Schwangerschaft so dick war, nachdem ich mich in ihr so breit gemacht hatte wie Jonas im Wal. So war mein Scherz früher. Nachdem ich aber erfuhr, was mit meiner Mutter bei der Geburt meiner jüngeren Schwester passiert ist, ist mir das Scherzen vergangen. (4)

    Aber zurück zu den Sprüchen meiner Patienten! Und zu den falschen Ausdrücken, die manchmal natürlich auch mit dem Bildungsstand zusammenhängen, aber eigenartigerweise oft ein ganzes Leben lang beibehalten werden, trotz besseren Wissens! Oft sind es Verwechslungen, die zeigen, dass der falsch angewandte Ausdruck zwar gekannt, aber nicht verstanden wird. Wer hat nicht schon folgende Beispiele gehört:

    Arrangieren statt engagieren, integrieren statt intrigieren, Effekt statt Affekt, Stadion statt Stadium, professorisch statt provisorisch und so weiter. Aus diesen Fehlern lässt sich psychologisch wenig ableiten, schon eher aus Neuschöpfungen wie diesen hier:

    Trottur statt Tortur, es herrscht heiteler Sonnenschein, übers Ohr gezogen, steter Tropfen ölt den Stein, aufs Tablett schmieren, von Sodom zu Gomorrha gehen, die Kuh beim Schwanz fangen (statt: das Pferd von hinten aufzäumen – aber wer weiß, vielleicht hat sich die Redewendung mit der Kuh bei unseren Milchbauern längst durchgesetzt), ein strenges Register führen, Pik und Bello, nicht über meine Leiche.

    Manches davon wird hoffähig, weil es von vielen Menschen fälschlicherweise so ausgedrückt wird. Die Verwechslung Tablett/Tapet wäre ein Beispiel dafür. Wer kennt heutzutage noch ein Tapet?

    Aber es gibt auch richtige Freudsche Versprecher – und da weiß natürlich gleich ein jeder, was dahintersteckt – und jedes Psychologenherz jubelt:

    absamen statt absahnen,

    pinkelig – oder pimmelig - statt pingelig,

    murmelig statt mulmig,

    nachhacken statt nachhaken,

    aufgeflaut statt aufgeflammt,

    traktieren statt taktieren,

    marode statt Marotte,

    aufdoktruieren statt aufoktruieren.

    Wenn mir meine Patienten solch gelungene „Freudsche Fehlleistungen" mitbringen, wird eine ausführliche Besprechung fällig...

    Das Wort meiner Schwester sollte also in Gottes Ohr eindringen. Was mit der Hoffnung verbunden ist, dass Gott, wenn er das hört, auch wirklich wohlgesonnen seine schützende Hand über uns hält und uns nie mehr depressiv werden lässt. Nein, bei mir als überzeugtem Atheisten wird er den Teufel tun... Upps...

    Ich muss mich also selbst um mich kümmern, schauen, dass weder die Depression, noch die Zwänge mich jemals wieder beherrschen! Nun, ganz allein bin ich ja nicht! Jetzt meine ich aber nicht meine Schwester, sondern meine Psychotherapeutin, also die Kollegin, die sich immer schnäuzt, wenn ich ihr zu nahe komme. (4)

    Ich werde ihr gelegentlich einen Besuch abstatten. Ach, auch in eine Selbsthilfegruppe könnte ich gehen. Und beruflich kürzer treten! Das sowieso.

    In meiner Praxis stapelt sich nicht die Arbeit. Das geht zum Glück nicht bei uns Psychotherapeuten. Da stapelt sich nichts. Ich werde vorerst keine neuen Patienten aufnehmen und bei den alten langsam wieder einsteigen. Es muss nicht jeder wöchentlich zu mir kommen. Ich kann die Termine etwas strecken.

    2

    Als Jonas in unsere Intervisionsgruppe kam, in der wir unter Kollegen unsere Fälle besprechen, war ich mir etwas unsicher. Aber ich hatte vor den anderen so getan, als wäre es gut, noch einen Mann aufzunehmen. Damit ich nicht mehr der einzige bin! Drei „Mädels und ein Mann, da war ich vorher der Hahn im Korb. Aber nein, das Geschlecht spielt eigentlich keine besondere Rolle unter uns Kollegen. Dazu sind auch die Frauen zu unterschiedlich. Ich spürte weder ein Sich-Verbünden der Frauen gegen mich, noch wurde mir eine besondere Rolle als Mann angetragen, etwa im Sinne von „Hahn im Korb. Später fragte mich Jonas einmal: „Sag mal, Max, hast du etwas mit der Alina?"

    Natürlich verneinte ich das! Klar, unsere Kollegin Alina und ich sind außerhalb der Intervisionen manchmal auch privat zusammen, unternehmen etwas miteinander. Aber wir „haben nichts miteinander. Aber seit dieser Frage von Jonas ist seine Anwesenheit in unserer Gruppe irgendwie ein wenig störend. Vielleicht „habe ich doch etwas mit Alina – und fürchte um meine Stellung bei ihr! Womöglich fragte mich Jonas auch nur, um sein Terrain zu sondieren!

    Nun passe ich jedenfalls immer auf. Die Unbefangenheit ist mir etwas verloren gegangen. Ich überlege oft, wie ich etwas ausdrücken soll, zügele meine spontane und lockere Art. Aber eigentlich braucht es das nicht. Jonas ist doch eher ein Langweiler, was Frauen anbetrifft. Der überlegt zehn Mal mehr als ich, was er sagt. Und besonders humorvoll kommt es dann auch nicht rüber.

    Ich hielt ihn anfangs für ziemlich gestört. Ein Zwängler par excellance. Erst, als er mich einmal zu sich einlud, wurden wir warm miteinander. Er wollte meinen Rat und das machte ihn etwas sympathischer. Er gönnte mir auch meine Überlegenheit bei den Computerfragen. Und diesbezüglich war und bleibe ich auch im Team die Nummer eins!

    Dann kam seine Depression. Die machte ihn auch sympathischer. Ich musste ihn nun ganz und gar nicht mehr fürchten. Damit meine ich nicht nur ihn fürchten als „Mann", sondern auch, was die fachliche Qualifikation anbetrifft. Aber das ist ohnehin schwer vergleichbar. Er ist halt ein Tiefenpsychologe und arbeitet doch ganz anders als ich. Obwohl es immer heißt, alle Verhaltenstherapeuten und Tiefenpsychologen würden sich im Verlauf der Zeit angleichen – wenn sie älter werden. Vielleicht sind wir nicht alle.

    Ob ich auch einmal depressiv werden könnte? Die Tiefenpsychologen wüssten darauf eine Antwort. Von wegen Kindheitstraumata und so. Ich glaube nicht, dass ich einmal depressiv werden könnte. Oder gar schizophren. Außerdem hatte ich ja auch keine Vorfahren, die diesbezüglich aufgefallen wären.

    Man merkt, ich bin im Verlauf meiner Psychotherapeutentätigkeit immer mehr dazu gekommen, auch den erblichen Faktoren einen großen Einfluss zuzuschreiben. Die Analytiker und Tiefenpsychologen gehen immer von Mehrfachdeterminierung aus. Sie finden also immer irgendwelche Ursachen, viele Ursachen, für die psychischen Erkrankungen, brauchen meist nicht das Erbe bemühen. Besonders unsere schlaue Ilona, die Psychoanalytikerin. In was rede ich mich da wieder rein? Die Ilona ist in Ordnung! Überhaupt sind alle in Ordnung! Sonst würde es ja auch gar nicht so gut funktionieren in unserer Intervision. Auch die Inge ist in Ordnung! Fachlich ist sie mir zu sehr ein Gutmensch. Keine knallharte Verhaltenstherapeutin. Da ist mir die Alina schon lieber. Trotz ihres tiefenpsychologischen Ansatzes. Aber vermutlich denke ich da gar nicht so sehr an die fachlichen Qualitäten...

    Hab ich vorhin bei Jonas gedacht, dass seine Depression die fachliche Qualität verringert? Das war Quatsch!

    3

    Mein Gott, der Max! Ich weiß nie, wann ich ihn ernst nehmen kann. Mal erscheint er mir oberflächlich, dann wieder tiefsinnig. Wie ist er wirklich? Obwohl ich ihn nun schon lange kenne, überrascht er mich oft – im Positiven, wie im Negativen.

    Jonas ist da berechenbarer. Ob das daran liegt, dass er auch ein Tiefenpsychologe ist. Nein, es liegt wohl eher an seiner Art, etwas unflexibel, zwanghaft, eben berechenbarer. Warum fühle ich mich dann trotzdem zu Max mehr hingezogen? Alina, pass auf! Muss wohl etwas zwischen Mann und Frau sein. Ein Mann ist Jonas nämlich überhaupt nicht für mich.

    Da fällt mir Walter ein. Warum nicht mein Bernd? Vielleicht ist es etwas ganz anderes. Bernd ist mein Ehemann und Max und Walter sind...? Ja, was sind die eigentlich? Gute Freunde? Freunde? Wirklich?

    An Walter, meinen blinden Freund, muss ich oft denken.(1) Wir sehen uns viel zu selten. Hab ich gerade sehen formuliert? Wir treffen uns viel zu selten, wäre richtiger. Das liegt wohl auch daran, dass er nun eine Familie hat. Ob er seiner Partnerin von mir und meinen Annäherungen erzählt hat? Damals dachte ich noch, er wäre auch hinter mir her. Falsch gedacht. Nun ist er ein Freund. So wie Flinker? Wenn ich an Walter denke, kommt mir auch „mein Kommissar" in den Sinn. Aber das mit Flinker ist anders. Der ist ja auch um einiges älter.

    Was hab ich nur mit den Männern? Zu meiner Entschuldigung kann ich sagen, dass alle Männer gerne meine Gesellschaft suchen. Also nicht umgekehrt. Oder? Was fühlen denn die anderen Frauen?

    Ich merke, dass ich zu wenig intime Frauenfreundschaften habe. Auch nicht mit meinen Intervisionskolleginnen Inge und Ilona. Selbst der Kontakt zur Berliner Kollegin Sarah ist nur spärlich.(3) Ab und zu einmal eine Nachricht auf dem Smartphone oder ein Telefonat, ein langes Telefonat allerdings. Wie oft nehme ich mir vor, meine Kontakte besser zu pflegen!

    Mit Walter wird es nun bald etwas werden. Ich meine das mit dem Kontakt. Ich habe nämlich einen glänzenden Anlass!

    Es ist eine Patientin von mir, Lisa, die mir den Anlass bietet. Sie bringt mir in die Sitzungen Gedichte mit. Und wer anders als Walter kennt sich mit Gedichten aus!

    ist es gut?

    wenn die wälder hinter dem schnee verschwinden

    wenn das geplapper der menschen verschluckt wird

    wenn der fuß ins leere tritt

    und in der hand der schnee treibt

    dann laufe ich

    dann laufe ich

    ich laufe über steine

    ich laufe über straßen autos und häuser

    ich laufe über regenwürmer und nullfolgen

    ich laufe und höre meinen atem

    ich laufe und keuche

    ich laufe im takt meines herzens

    4

    „Lies es mir bitte noch einmal vor!"

    „Walter, jetzt habe ich es doch schon drei Mal vorgelesen! Es war nur eine gespielter Tadel, den Alina mit einem leisen Aufseufzen verband. Und Walter antwortete mit einem Schmunzeln: „Aber, Alina, du weißt doch, ich höre deine Stimme so gerne!

    Zunächst zögerte Alina, denn für einen Blinden bedeutet die Stimme wirklich schon fast alles. Dann aber sah sie sein Grinsen. „Walter, du bist ein Schmeichler!"

    „Nein, Alina, das meine ich nicht als Kompliment! Ja, schon auch als Kompliment. Aber ich bin manchmal etwas traurig darüber, dass wir uns so selten sehen."

    Wieder zögerte Alina. Sie hatte sich in der Kommunikation mit dem blinden Walter angewöhnt, vorsichtig mit den Worten umzugehen. Und jetzt sprach Walter selber so locker das Wort „sehen" aus. Vermutlich war für ihn diese Redewendung ganz normal. Er war ja schließlich nicht seit seiner Geburt blind. Erst seit seinem Autounfall vor 17 Jahren.

    „Ja, die Umstände eben, sagte Alina und suchte damit eine Erklärung für den seltenen Kontakt. „Man kann nicht immer, wie man will.

    „Spielst du auf meine Partnerin an?"

    „Nein! - Ja. Auch. Aber vor allem darauf, dass wir beide so beschäftigt sind."

    „Und dass ich als Blinder nicht so mobil bin..."

    „Vielleicht auch... Aber interessant finde ich ja, dass du nicht davon ausgehst, dass zu den Umständen auch meine eigene Partnerschaft gehört."

    „Na ja, Alina, die hat dich doch noch nie abgehalten!"

    „Jetzt wirst du aber frech!"

    „Entschuldige! Ich wollte dir nicht zu nahe treten!"

    Beide dachten an ihre „Bettgeschichte" zurück. (1)

    Ja, damals wäre es fast passiert – wenn Walter nicht im letzten Moment einen Rückzieher gemacht hätte. Seine Figur hat er gehalten, bemerkte Alina. Trotz des vielen Weins. Aber vielleicht muss ein Sommelier gar nicht selber trinken. Er wird wohl auch fleißig Fitness betreiben. Die Muskeln kommen ja auch nicht von ungefähr.

    „Also zurück zum Thema!, mahnte Alina Walter, aber noch mehr sich selbst. „Was sagst du zu diesem Gedicht?

    „Mmh. Ich kenne es nicht. Klingt ein wenig nach Walt Whitman."

    Sie runzelte die Stirn. „Dem Amerikaner?"

    „Ja. Walt Whitman, einer aus dem 19. Jahrhundert."

    „Meinst du?"

    „Nein, Alina, ich sage doch nur, es klingt so. Was ist denn eine Nullfolge?"

    „Keine Ahnung."

    „Und du sagst, dass du dieses Gedicht von einer Patientin bekommen hast?"

    „Ja. Aber angeblich ist es von ihrem Sohn."

    „Ihrem Sohn? Wie alt?"

    „14 Jahre."

    „Wie 14 klingt das aber nicht!"

    „Nun, alles ist klein geschrieben und ohne Satzzeichen."

    Walter war erstaunt: „Ja, das musst du mir aber sagen! Aus deiner Stimme höre ich das nicht heraus!"

    Alina

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