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Die Studie: Teil 1
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eBook408 Seiten5 Stunden

Die Studie: Teil 1

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Über dieses E-Book

Greta ist unzufrieden mit ihrem Liebesleben. Früher glaubte sie, Mister Right würde irgendwann an ihrer Haustür klingeln, doch allmählich gibt sie die Hoffnung auf.
In einem verzweifelten, letzten Versuch meldet sie sich in einem Forum im Internet an und trifft dort auf Henry. Doch der ist nicht an einer Beziehung interessiert, nicht einmal an Sex mit ihr.
Henry sucht Frauen, die einwilligen, an seiner Studie teilzunehmen: Prostitution in der Nachbarschaft!
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum12. Juli 2017
ISBN9783742781338
Die Studie: Teil 1
Autor

L. Renegaw

Bei dem Namen L. Renegaw handelt es sich um ein Pseudonym.

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    Buchvorschau

    Die Studie - L. Renegaw

    Von Primaballerinas und Partnervermittlungen

    Habe ich eigentlich irgendwo Popel hängen? Oder steht Loserin auf meine Stirn geschrieben und ich hab’s noch nicht gemerkt? Demonstrativ lege ich den Kopf auf den Tisch.

    Nadya tätschelt mir mitfühlend den Arm.

    Ach Süße, vergiss ihn doch endlich. Du bist sowieso viel zu gut für den.

    Ich hebe den Kopf und blicke sie finster an. So ein Klischee. Du bist zu gut für ihn. Er weiß gar nicht, was er verpasst… Floskeln!

    Das ist nicht wirklich hilfreich, grummle ich.

    Nadya seufzt und steht auf, um die leeren Schachteln vom Chinaimbiss in den Müll zu werfen.

    Wie lange bist du jetzt in ihn verknallt?, fragt sie resigniert und ich höre aus ihrer Stimme heraus, dass ich sie jegliche Geduld koste. Fast tut sie mir leid. So oft muss sie dafür herhalten, wenn ich mich über René ausheulen will.

    Weiß nicht, murmle ich und denke kurz nach. Vor über zwei Jahren habe ich mein Studium abgeschlossen und auf der Graduierungsfeier habe ich mich zum ersten Mal mit ihm unterhalten. Da muss es in etwa losgegangen sein. Nur dass er meine Gefühle in all der Zeit nicht erwidert hat. Nein, er betrachtet mich nach wie vor nur als Freundin. Er erzählt mir von seinen Verabredungen, von den Frauen mit denen er ins Bett geht. Nicht einmal darauf ist er bei mir gekommen. Dass er mit mir schlafen könnte. Nein, im Grunde behandelt er mich wie einen seiner Kumpel.

    Du musst das endlich abhaken, Greta!

    Das sagt sich so leicht, schmolle ich und stehe ebenfalls auf. Ich wasche mir die Hände an dem immer schmutzigen Waschbecken im Pausenraum und nehme zwei Blatt von der Küchenrolle, anstatt das bakterienverseuchte Handtuch zu benutzen.

    Ja, verdammt. Aber der Kerl will nichts von dir und dein Leben ist auch kein Liebesfilm, bei dem plötzlich alles anders wird. Er wird nicht irgendwann die Augen öffnen und sehen, was er an dir hat. Der Kerl ist ein Arsch, Greta. Schieß ihn endlich ab und lerne andere kennen! Und wenn du dich in einem dieser Flirtforen anmelden musst.

    Ich schnaube und überspiele damit, wie sehr sie den Nagel auf den Kopf getroffen hat.

    Ist das dein Ernst? So ein Forum für die ganz verzweifelten Fälle?

    "Du bist ein ganz verzweifelter Fall", sagt Nadya und grinst mitleidig. Ich ziehe einen Schmollmund und stehe auf.

    Und du bist blöd.

    Sie lacht und umarmt mich.

    Das hast du schon das ein oder andere Mal erwähnt.

    Ich lächle gequält.

    Komm schon, wir müssen wieder ran, sagt sie und ich folge ihr aus dem Pausenraum.

    Die meisten Menschen denken, dass Maskenbildner den ganzen Tag Künstler vor ihren Auftritten schminken. Das stimmt jedoch nur bedingt. Zwar gehört auch das zu unserem Aufgabengebiet, doch die meiste Zeit verbringen Nadya und ich in einer kleinen Kammer, ganz am Ende eines Kellerganges, noch hinter den Schneidereien und der Schusterei. Dort sitzen wir beinahe jeden Tag und stellen Perücken her. Und weil wir dort fast immer alleine sind, haben wir viel Zeit zum Reden.

    Während wir in den vergangenen zwei Jahren Haar um Haar an Netze auf Styroporköpfen knüpften, redeten wir über alles und jeden. Mittlerweile kennen wir einander in- und auswendig und vertrauen uns gegenseitig unsere tiefsten Geheimnisse an. Aber wir tauschen uns auch über den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Ensemble aus.

    Heute Morgen haben wir zum Beispiel über den neuen Schauspieler geredet, den unser Intendant gerade erst für das Staatstheater gewonnen und gestern durch die Werkstätten geführt hat. Nadya zufolge ist er ein echter Hingucker. Ich habe jedoch nicht weiter darauf geachtet und erinnerte meine Freundin daran, dass sie verheiratet ist. Darauf verdrehte sie die Augen und kommentierte, dass sie ja wohl wenigstens gucken dürfe und dieser Elijah ziemlich attraktiv sei.

    Ich wollte da nicht weiter drauf eingehen, denn ich war mit den Gedanken bei René. Den Rest des Vormittages sprachen wir dann auch über ihn, bis wir in die Mittagspause gingen.

    Eigentlich mag ich meine Arbeit, doch an Tagen wie heute, an denen es mir schlecht geht, ich deprimiert bin und am liebsten alle Welt anfauchen würde, wäre ich mit Begeisterung dabei, mich einfach in meinem Bett zu verkriechen und erst wieder daraus hervorkommen, wenn mein Traumprinz vor der Tür steht. Aber Nadya hat vermutlich recht. Mein Leben ist kein Liebesfilm und der perfekte Kerl wird nicht an meiner Haustür klingeln.

    Wahrscheinlich liegt meine verquere Vorstellung daran, dass ich mir als Teenager eine Liebesschnulze nach der anderen reinzog und glaubte, dass das Leben genau so laufen müsse. Und jetzt bin ich 27, arbeite für einen mittelprächtigen Lohn (einem recht guten Lohn im Vergleich zu dem der meisten Schauspieler) im Staatstheater in Kassel und hatte in meinem ganzen, verdammten Leben erst einen einzigen Freund.

    Vielleicht bin ich auch einfach hässlich. Oder da klebt doch ein dicker (für mich unsichtbarer) Popel unter meiner Nase, der die Männerwelt davon abhält, sich mir auf weniger als einen Meter zu nähern.

    Ausgerechnet heute Nachmittag sind wir nicht in unserer Kammer, sondern mit einigen anderen in der Maske und schminken und frisieren die Balletttänzer und ‑tänzerinnen für die Abendaufführung. Ausgerechnet heute, wo ich lieber dasitzen und Haar um Haar an die neue Perücke knüpfen würde, die ich gestern angefangen habe. Ich stehe also hinter einer Primaballerina, bürste ihr Haar mit kräftigen Strichen und ignoriere ihre arroganten Blicke im Spiegel.

    Es gibt zwei Arten von Künstlern. Jene, die sich wie dieses blonde Klappergestell aufführen, uns als minderwertig ansehen und nie ein freundliches Wort für uns übrig haben, die ihre Nase in die Luft gereckt tragen und die mich dummerweise einschüchtern. Oder jene, wie die Frau, die vor Nadya sitzt und sich freundlich mit ihr unterhält.

    Gibt es denn irgendetwas, das man sich unbedingt ansehen sollte, wenn man schon mal in Kassel ist?, fragt sie gerade und schließt ihre Augen, damit Nadya den Lidstrich auftragen kann.

    Naja, der Herkules ist sicher immer einen Besuch wert, sagt Nadya. Aber was mögen Sie denn gerne? Besonders groß ist Kassel ja nicht.

    Was ist der Herkules?, fragt die Ballerina interessiert.

    Das ist praktisch unser Wahrzeichen. Eine Statue im Bergpark. Allerdings wäre es dort oben im Sommer wesentlich schöner, sagt Nadya. Und so unterhalten sich die beiden immer weiter, während meine Primaballerina und ich uns anschweigen. Hin und wieder spüre ich ihren Blick im Spiegel, ihre Arroganz und Oberflächlichkeit und denke im Stillen, dass Menschen wie sie wohl nur auf der Bühne wirklich glücklich sind.

    Als wir endlich fertig sind und die Tänzerinnen die Maske verlassen, um sich für die Aufführung warm zu machen, muss ich kurz die Augen schließen und tief durchatmen. Das ist einfach nicht mein Tag.

    Geh nach Hause, Liebes!, sagt Nadya da. Ich hebe den Kopf und blicke meine beste Freundin und Kollegin an. Sie hat mit einem einzigen Blick meinen gesamten Gemütszustand erfasst und bietet mir nun die Möglichkeit zu fliehen. Wie dankbar ich ihr bin, kann ich kaum in Worte fassen.

    Bist du sicher?, frage ich, weil ich sie eigentlich nicht mit dem Unrat allein lassen will.

    Klar, ich räume hier auf und gehe dann auch. Pauline und Hanna werden während der Vorstellung für Korrekturen und Änderungen zuständig sein.

    Ein Glück, sage ich und Nadya lächelt mich aufmunternd an. Dann drückt sie mich fest und flüstert mir noch einmal Vergiss ihn! ins Ohr.

    Es ist nicht so, dass ich noch nie versucht hätte René zu vergessen. Doch er macht es mir nicht gerade leicht. Während ich in Richtung Friedrichsplatz laufe, vibriert mein Handy in der Hosentasche und als ich darauf blicke, sehe ich seinen Namen auf dem Display. Ich nehme den Anruf an, unterdrücke ein Seufzen, das mit einem freudigen, kleinen Salto meines Magens einhergeht, und halte mir das Smartphone ans Ohr.

    Hey, sage ich und versuche fröhlich zu klingen. Das versuche ich immer, wenn ich mit ihm spreche, denn niemand mag Trauerklöße.

    Gretaaaa, antwortet er und lacht.

    Was gibt‘s?, frage ich betont heiter und stelle mich innerlich darauf ein, von ihm enttäuscht zu werden. Denn so läuft es immer.

    Ähm, also ich könnte da deine Hilfe bei etwas gebrauchen.

    Das da wäre?

    Es könnte vielleicht sein, dass mich so eine fiese Stalkerin nicht in Ruhe lassen will. Du weißt schon, Ellie, diese Blonde, von der ich dir gestern erzählt habe.

    Ich verdrehe die Augen, überquere den Friedrichsplatz und bleibe an der Tramhaltestelle stehen. Ich muss an gestern denken, als wir nachmittags zusammen in der Stadt waren um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Nachdem unsere Geldbeutel beträchtlich leerer waren und an unseren Armen viele Tüten baumelten, setzten wir uns mit zwei Kaffees im Starbucks an einen der hinteren Tische. Dabei breitete er wieder einmal vor mir aus, welche Tussis er in letzter Zeit aufgerissen hatte.

    Und wie kann ich dir da helfen?, frage ich nun.

    Naja, ich dachte, wenn ich ihr erzähle, du seist meine Freundin, lässt sie mich vielleicht endlich in Ruhe.

    Ich kann nichts dagegen tun, dass ich mich geschmeichelt fühle. Es ist absurd, aber dieser schlichte, dumme Vorschlag seinerseits lässt mein Herz schneller schlagen und die Hoffnung in meinem Innern pulsieren.

    Wenn du meinst, das bringt was, tu dir keinen Zwang an, sage ich und gebe mir alle Mühe, lässig zu klingen.

    Danke, Greta, du bist ein Schatz, sagt er und schon wimmelt er mich wieder ab.

    Kaum, dass ich das Handy wieder in die Hosentasche habe gleiten lassen, höre ich Nadyas Stimme in meinem Ohr:

    Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank? Nennst du das etwa abhaken?

    Verdammt, sie hat sowas von recht.

    Ich bin so dumm wie ein Brot.

    Die Bahn ist um diese Uhrzeit immer vollgestopft bis unter’s Dach. Ich steige ein und bin gezwungen mit einem älteren Herrn auf Tuchfühlung zu gehen. Dabei frage ich mich, warum es nicht einmal laufen kann, wie im Film und sich dieser ältere Herr in einen jungen, dynamischen, erfolgreichen, gutaussehenden und vielleicht sogar reichen Mann verwandelt, der rein zufällig auch noch Single ist und großes Interesse an der Frau hegt, die wohl oder übel genötigt ist, ihm auf die Pelle zu rücken. Stattdessen bin ich froh, als ich aus der Bahn aussteigen und den kurzen Fußweg zu meiner Wohnung hinter mich bringen kann.

    Die Tram 1 fährt fast bis vor meine Haustür. Ich muss bloß aus der Bahn aussteigen, ein paar Minuten laufen und kann schon meinen Schlüssel rauskramen. Besser geht es kaum.

    Ich gehe die zwei Treppen hinauf in den ersten Stock, schlüpfe aus meinen Schuhen, die ich immer im Flur stehen lasse und schließe meine Wohnung auf. Beim Eintreten schiebe ich meine beiden Katzen zur Seite, die sich immer ganz besonders freuen, mich wiederzusehen wenn ich am Abend heimkomme. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass es ihnen dabei hauptsächlich darum geht, dass ich die nächste Nassfutterdose öffne. Sie maunzen jedoch begeistert und so gebe ich mich der Illusion hin, dass wenigstens sie zu Hause freudig auf mich warten, wenn da schon kein Freund ist.

    Eine eigene Wohnung zu haben ist zwar wundervoll, doch ich komme aus einer großen Familie aus Gudensberg, einer Kleinstadt in der Nähe von Kassel. Früher herrschte bei uns eigentlich immer Remmidemmi. Deshalb musste ich mich ziemlich umstellen und habe mir schließlich zwei Mitbewohner aus dem Tierheim geholt, um nicht ganz so alleine zu sein.

    Mein erster Weg führt in die Wohnküche, in der ich meine Tasche abstelle und mit wenigen Handgriffen eine frische Dose Katzenfutter auf einen Teller gebe. Maunzend streichen die zwei Fellknäule dabei um meine Knöchel, bis ich ihnen ihre Abendration hinstelle. Einen Moment beobachte ich die beiden dabei, wie sie die ersten Happen herunterschlingen und denke an René und seinen Anruf. Ich bin wirklich dumm. Wieso nur lasse ich mich von ihm so benutzen? Er muss doch nur mit dem Finger schnipsen und ich komme angelaufen. Und jetzt geht doch tatsächlich mein Traum in Erfüllung: Wir sind ein Paar. Haha. Dass ich nicht lache. Ironie off.

    Ich schließe die Augen, lehne mich an die Arbeitsplatte und spüre dieses beklemmende Gefühl in meiner Brust aufkommen, das mir nur allzu vertraut ist. Wieso nur schaffe ich es nicht, ihn zu vergessen? Warum kann ich keinen Haken an diese Sache machen, wie Nadya gesagt hat?

    Frustriert presse ich die Lippen zusammen, atme tief durch und nehme dann meinen Laptop. Damit setze ich mich auf die Couch, fahre ihn hoch und öffne den Internetbrowser.

    Wahrscheinlich hat Nadya recht. Ich bin einer dieser verzweifelten Fälle, die in solchen Internetforen an der richtigen Adresse sind. Und gab es nicht schon einige Menschen in meinem Umfeld, die es darüber geschafft haben, den Partner fürs Leben zu finden? Ja, eine Freundin meiner Mutter zum Beispiel. Und auch eine ehemalige Klassenkameradin. Soweit ich informiert bin, lebt die nun in Berlin, hat letztes Jahr geheiratet und ist nun schwanger mit ihrem ersten Kind.

    Meine Finger schweben über der Tastatur und ich frage mich, wie man nach so etwas sucht. Was soll ich eingeben?

    Die große Liebe finden, tippen meine Finger. Wahrscheinlich viel zu kitschig, aber das kriegt ja keiner mit. Mir wird eine Reihe von Ergebnissen angezeigt, unter anderem Partnervermittlungen, die man aus der Werbung kennt, die aber oft Geld kosten. Das sehe ich nicht ein. Ich scrolle weiter, finde Foren und einen Haufen Informations- und Ratgeberseiten. Schließlich wähle ich einfach eine Plattform aus, die damit wirbt, dass ein lockerer Austausch rund um das Thema Liebe, Beziehungen und Partnerschaft stattfinden soll. Vielleicht nicht ganz das, was ich suche, doch wer weiß, vielleicht treffe ich Mister Right ja genau dort?

    Ich melde mich an, erstelle mir ein Profil und scheitere schließlich daran, ein Bild auszuwählen. So gebe ich auf, schelte mich einen Dummkopf, weil ich wirklich geglaubt habe, dass das vielleicht eine gute Idee wäre und fahre den Laptop wieder herunter.

    Vielleicht gehöre ich einfach zu den Menschen, die dazu verdammt sind, ihr Lebtag allein zu fristen.

    Rosige Aussichten.

    Von Bartstoppeln und Nussknackern

    Ich erwache mit einer Pfote im Gesicht. Schnurrend beschnüffelt Akina meine Wange und denkt, ich möchte sie streicheln, obwohl ich nur versuche sie wegzuschieben. Schließlich kriecht sie unter meine Bettdecke und rollt sich an meinen Füßen zusammen.

    Toll. Jetzt bin ich wach.

    Ich blinzle auf die Uhr und seufze. In einer halben Stunde klingelt mein Wecker. Wenn ich jetzt noch einmal einschlafe, werde ich gleich nur umso müder sein. Also taste ich nach meinem Handy und sehe, dass René mir gestern spät abends noch geschrieben hat.

    Sie ist beleidigt :D Ziel erreicht.

    Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, wen er meint. Dann will ich zurück schreiben, doch augenblicklich habe ich wieder Nadyas Stimme im Ohr.

    Sei keine Idiotin!

    Ich seufze, schlage die Bettdecke zurück und knipse die Nachttischlampe an. Akina blinzelt und blickt mürrisch drein. Wie kann ich es auch wagen, das Licht einzuschalten? Unwillkürlich muss ich grinsen und werde dann auf Schritt und Tritt verfolgt. Während ich dusche sitzen die zwei Katzen interessiert auf dem Toilettendeckel und beäugen mich anschließend misstrauisch, als ich mit nassen Haaren um mich spritze. In der Wohnküche werde ich meine Schatten dann kurzfristig los, indem ich ihnen ihr Frühstück hinstelle. Die Zeit nutze ich, um selbst eine Schale Müsli zu verspeisen und weil ich ohnehin noch Zeit habe, schalte ich den Laptop ein. Kurz muss ich wieder an das Forum denken und öffne gedankenverloren die Seite aus meinem Verlauf.

    Ich habe kein Stück damit gerechnet, dass ich ohne Profilfoto Anfragen oder gar Nachrichten bekommen würde, doch da ist tatsächlich eine. Ein gewisser Henry hat mir einen Blumenstrauß geschickt - was immer das auch heißt - und eine kurze Nachricht, in der er mich im Forum willkommen heißt. Er hat selber kein Foto hochgeladen, wie ich bei einem Blick auf sein nahezu nacktes Profil feststelle. Ich tippe eine ebenso kurze Dankesnachricht zurück und frage mich gerade, ob ich mich nicht einfach wieder löschen soll, als sich ein Chat-Fenster öffnet, weil Henry mir einen Smiley geschickt hat.

    Henry: :)

    Henry: So früh schon auf?

    Greta: Ja… Ich muss gleich zur Arbeit.

    Henry: Was arbeitest du?

    Ich atme tief durch, bin mir nicht ganz sicher, ob ich auf dieses Gespräch eingehen möchte. Aber dieser Henry... wer weiß, wer er ist. Vielleicht Mister Right? Wahrscheinlich nicht, aber man kann nie wissen. Also tippe ich.

    Greta: Ich bin Maskenbildnerin

    Henry: Wow! Auf den Beruf trifft man nicht jeden Tag.

    Greta: Stimmt. Und was machst du?

    Henry: Ich bin Forscher

    Greta: Auch das begegnet einem nicht jeden Tag. Was erforscht du?

    Henry: Die menschliche Natur ;)

    Greta: Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?

    Henry: Bisher noch zu keinem. Ich suche noch Leute für meine Studie. Und die wird sicher einige Zeit in Anspruch nehmen.

    Greta: Und worüber führst du deine Studie?

    Henry: Du, sorry. Ich muss off. Wir können gerne später wieder schreiben.

    Greta: Ok, ich muss auch zur Arbeit.

    Henry: Bis dann.

    Greta: Ja, einen schönen Tag.

    Ich blicke auf den Bildschirm, frage mich, ob das mein Ding ist, mit fremden Menschen zu chatten und nur das über sie zu erfahren, was sie auch preisgeben wollen. Ich komme aber zu keinem Entschluss und schalte schließlich den Laptop aus. Lola hockt schon wieder neben mir und fordert ihre Streicheleinheiten, während ich nachdenklich auf meiner Unterlippe kaue. Vielleicht sollte ich Nadya bitten, mich für ein Foto in Szene zu setzen. Es kann schließlich nicht schaden, seine Vorteile ein wenig auszunutzen. Und Nadya ist eine wahre Künstlerin. Sie könnte mich mit Sicherheit schön erscheinen lassen und damit mein Selbstbewusstsein stärken.

    Ich stehe auf und habe es plötzlich eilig zur Arbeit zu kommen. Rasch mache ich mich fertig und bin früher an der Straßenbahnhaltestelle als sonst. Während ich auf die nächste Bahn warte, kommt mir plötzlich ein Gedanke. Nicht nur dieser Henry hat die Möglichkeit sich so darzustellen, wie er will, nein. Auch ich kann mich so präsentieren, wie ich bin oder ich verändere mein Auftreten in witzig, anzüglich, adrett oder was immer mir gerade beliebt. Es liegt in meiner Hand, was ich schreibe. Niemand kann anhand meiner Mimik erkennen, dass ich unsicher bin oder für gewöhnlich nur selten anzügliche Kommentare mache. Und wenn ich jemanden verschrecke oder ein User aufdringlich wird, ist das auch nicht so schlimm. Schließlich hat man in solchen Foren doch immer die Möglichkeit, Leute zu blockieren oder nicht?

    Ich steige in die Bahn und muss sogar lächeln. Okay, ich werde es versuchen.

    Nadya ist noch nicht da, als ich komme. Ich grüße auf dem Weg nach unten die Kollegen, die mir begegnen. Die meisten, die jetzt schon an der Arbeit sind, gehören zum Handwerkerteam. Das Ensemble wird erst ab zehn Uhr aufschlagen und dann zu den Proben gehen. Ich dagegen gehe in unsere Kammer am Ende des Kellers, in der uns so gut wie nie jemand besucht und lege meine Tasche neben meinem Arbeitsplatz ab. Die unfertigen Perücken, besonders die mit langen Haaren, wirken immer etwas gruselig. Doch obwohl das Knüpfen von Perücken ab und an etwas eintönig wird, mag ich meinen Job. Besonders natürlich wegen Nadya. Sie kommt herein, als ich gerade das erste Haar anknüpfe, und heute ist sie an der Reihe, mir ihr Leid zu klagen. Nadya und ihr Mann Tobias haben immer die gleichen, kleinen Streitereien, über die sie sich jedes Mal bei mir auslässt.

    Doch weil sie das für mich auch tut, sich immer das Gleiche anzuhören, gehört der Vormittag ganz ihr. Sie erzählt mir von den leeren Milchtüten, die Tobi zurück in den Kühlschrank stellt, den auf links gedrehten Socken im Wäschekorb und den Bartstoppeln im Waschbecken. Schließlich erklärt sie das Gespräch von sich aus für beendet, weil sie keine Lust mehr hat, sich aufzuregen.

    Was ist mit dir? Hast du dich im Love-Chat angemeldet?, fragt sie und setzt ein Grinsen auf.

    Ehrlich gesagt, ja, gestehe ich. Daran wie meiner besten Freundin die Gesichtszüge entgleiten, merke ich, dass sie nicht wirklich daran geglaubt und ihren Vorschlag gestern vielleicht nicht einmal ernst gemeint hat.

    Nicht dein... Echt jetzt? Und hast du schon jemand Interessantes kennengelernt?, will sie wissen.

    Einen vielleicht. Aber ich wollte dich noch um Hilfe bitten. Ohne ein gescheites Profilfoto komme ich da nämlich nicht weit, sage ich. Nadya grinst.

    Aber natürlich, Süße. Wie möchtest du gerne aussehen? Wie der Nussknacker? Wie Dornröschen oder doch lieber wie das Phantom?

    Ich lache und schüttle den Kopf.

    Der Nussknacker bitte.

    Als ich nach Hause komme, habe ich zum ersten Mal seit langem richtig gute Laune. Beschwingt von diesem Gefühl und in dem Wunsch, es noch eine Weile länger festzuhalten, fahre ich den Laptop hoch und ziehe das Foto, das Nadya in der Mittagspause von mir geschossen hat, auf den Desktop. Im Forum lade ich es als mein Profilfoto hoch und bestaune noch ein bisschen, wie schön Nadya mich hat aussehen lassen. Ich habe auf dem Bild nicht nur hellbraunes Haar, nein es ist kupferfarben und meine Augen sind nicht einfach nur grün, sondern glänzend und tief. Nadya ist eine wahre Künstlerin. Vielleicht sollte sie in Erwägung ziehen auf der Documenta 14 auszustellen. Irgendein Lebendkunstwerk.

    Der Gedanke lässt mich grinsen.

    Kaum, dass ich auf speichern gedrückt habe, öffnet sich auch das Chatfenster und Henry ist wieder da. Er lobt mein Foto und fragt mich wie mein Tag war und nachdem ich ihm davon erzählt habe, frage ich nach seinem, erhalte jedoch nur eine recht knappe Antwort. Dieser Henry hat schon etwas Seltsames an sich. Trotzdem ist er der Einzige, der mich bisher kontaktiert hat.

    Wir chatten den ganzen Abend und am Ende habe ich das Gefühl, ihm meine ganze, klägliche Lebensgeschichte erzählt zu haben, aber kaum etwas von ihm zu wissen. Sogar von René habe ich ihm erzählt und er reagierte angemessen sauer auf den Typen, dem ich seit einer halben Ewigkeit nachhänge, der aber nichts davon bemerkt.

    Als ich schließlich im Bett liege, ist mein letzter Gedanke bevor ich einschlafe, dass auch ich allmählich Wut auf René empfinde. Wut ist besser. Leichter zu ertragen, als diese elende, unerwiderte Sehnsucht.

    Von Selbstvertrauen und mütterlichen Müttern

    Das Klingeln meines Handys reißt mich aus dem Schlaf. Zuerst denke ich, dass es sich dabei um meinen Wecker handelt, doch dann fällt mir ein, es ist Samstag und eine ungerade Woche. Also muss ich nicht arbeiten. Ich taste nach dem vibrierenden Gerät, kneife die Augen vor dem hellen Displayleuchten zusammen. Erst einen Moment später schaffe ich es, den Namen zu erkennen, der mir angezeigt wird. René ruft mich an. Was will er, mitten in der Nacht?

    Hallo? Verdammt klinge ich verschlafen. Mein Hals ist trocken und meine Stimme hört sich an, als hätte ich ein Reibholz verschluckt.

    Gott sei Dank, du bist wach. Er nuschelt. Ist er betrunken?

    Kannst du runterkommen?

    Was? Vielleicht träume ich.

    Ob du runter kommen kannst. Er klingt leicht ungeduldig.

    Was, aber...

    Oh, nun komm schon, Greta.

    Bist du hier?

    Ja, was denkst du denn?

    Ich seufze und schüttle nur den Kopf über ihn.

    Warte...

    Du bist die Beste, sagt er und legt auf. Ich taumle zu meinem Kleiderschrank und ziehe eine dicke Jacke mit Innenfutter heraus, während Akina um meine Beine streicht, doch ich ignoriere sie, fahre aber kurz mit den Fingerspitzen über Lolas Kopf, die am Fußende meines Bettes geschlafen hat. Ich gehe ins Bad, sehe mein Spiegelbild und seufze erneut. Ausgerechnet so muss ich René unter die Augen treten? Ich richte schnell das Schlimmste, spüle mir den Mund aus und nehme mir im Flur zwei Tic Tacs, bevor ich in meine Chucks schlüpfe und mit dem Wohnungsschlüssel in der Hand nach unten gehe. Schon als ich die Haustür öffne, kriecht mir die Kälte unter die Jogginghose. Innerhalb der letzten paar Wochen hat sich das Wetter vom Herbst verabschiedet und dem Winter den Vorzug gegeben.

    Greta, endlich.

    René tritt aus dem Schatten in das Licht der Flurlampe, die den Vorgarten erhellt. Er kommt auf mich zu und ich weiß, dass die Wut, die ich heute Abend auf ihn empfunden habe, nur ein Anfang war. Ein sehr schwacher Anfang, der sofort von diesen nervigen Gefühlen davongeschwemmt wird, als er mich umarmt. Ich nehme seinen vertrauten, herben Duft wahr, seine breiten Schultern und würde mich am liebsten nie wieder aus dieser Umarmung lösen, doch das übernimmt er für mich.

    Komm, lass uns spazieren gehen!, sagt er und dabei fällt mir auf, dass sein Atem nach Alkohol riecht. Er ist also tatsächlich betrunken. Aber nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe.

    Spazieren gehen? René, es ist... Ich will auf mein Handy spähen, um ihm vorzuhalten, wie spät es ist, doch offenbar habe ich es oben liegen gelassen.

    Drei Uhr morgens, ich weiß. Aber du musst doch morgen nicht arbeiten, oder?

    Nein...

    Na, dann lass uns spazieren gehen.

    Können wir nicht lieber rein gehen? Es ist sau kalt.

    René seufzt, dann fasst er mich bei den Schultern.

    Greta... Ich sage dir das nur ungern, weil ich nicht will, dass du mich für einen noch größeren Penner hältst, als du es sowieso schon tust...

    Ich halte dich nicht für einen...

    Lass mich ausreden, würgt er mich ab. Ich bin betrunken, Greta. Und du bist die einzige meiner Freundinnen, mit der ich keinen Sex hatte. Und ich will dass das so bleibt, klar?

    Augenblicklich schießt mir die Röte ins Gesicht und das Verlangen in alle Glieder. Allein die Vorstellung...

    Also komm, lass uns spazieren gehen.

    Aber ich will doch genau das!

    Trotzdem sage ich nichts mehr, folge seiner Bitte und gehe neben ihm her durch die dunklen Straßen von Kassel-Wilhelmshöhe. Wir schweigen beide und ich frage mich, warum zum Henker er mitten in der Nacht vor meiner Haustür aufkreuzt, wenn nicht Sex der Grund ist. Aber vielleicht sieht er wirklich keine solche Frau in mir. Keine, mit der er eine schnelle Nummer schieben kann. Dumm nur, dass ich dazu jederzeit bereit wäre. Ich würde alles nehmen, was er mir anbietet.

    Erschrocken über meine eigenen Gedanken vergrabe ich die Hände tiefer in den Taschen.

    So bist du doch eigentlich gar nicht... Du bist keine Frau, die einfach nur Sex mit einem Kerl haben möchte...

    Danke..., murmelt René. Wir erreichen gerade den Bergpark, folgen den geschotterten Wegen.

    Wofür?, frage ich irritiert.

    Er lacht leise.

    Ich glaube, du bist die Einzige, zu der ich nachts gehen kann, ohne dass sie voll an die Decke geht.

    Ich schnaube und habe keine Lust, näher auf dieses Thema einzugehen. Wenn er fragt, warum das bei mir so ist... Ich weiß nicht, ob ich ihn anlügen könnte.

    Ich habe eine kennengelernt...

    Fast bleibe ich stehen, doch ich kann mich gerade noch zusammenreißen. Er hat was?

    Schon wieder?, frage ich betont beiläufig, tue so, als würde ich den veränderten Klang in seiner Stimme nicht wahrnehmen.

    Ne, ich meine richtig. Also sie ist keine Bitch oder so. Wie immer... René kann sich wirklich nicht besonders gut ausdrücken. Oder ist er verlegen?

    Wie heißt sie?, frage ich mit trockener Kehle.

    Jessica.

    Ich schweige, kann nicht fragen. Nicht spielen, dass ich mich für ihn freue. Aber ich muss. Und wollte ich ihn nicht so oder so abschreiben? Was macht es also für einen Unterschied, wenn er sich in eine andere verliebt? Im Gegenteil, vielleicht sollte ich mich geschmeichelt fühlen, dass er mir genug vertraut, um mir davon zu erzählen.

    Seid ihr zusammen?, will ich wissen.

    Noch nicht.

    Aber?

    Ich habe sie doch gerade erst kennengelernt.

    Ich grinse ihn an, was mich all meine Kraft kostet.

    "Dann scheint es ja wirklich ernst zu sein, wenn sogar du auf die Bremse drückst."

    Auch er grinst entschuldigend.

    Ich weiß, dass ich ein ziemliches Arschloch sein kann.

    Ja, aber im Grunde ist dir das egal. Das sagt er mir so oft, dass ich seine Worte mitsprechen könnte.

    Genau. Aber ich brauche trotzdem deine Hilfe.

    Okay, jetzt kommen wir also dem Grund für seinen nächtlichen Besuch näher. Aber wobei sollte ich ihm schon helfen können?

    Es gibt da nämlich ein kleines Problem...

    Das da wäre?

    Jessica ist die beste Freundin von Ellie.

    Und wer bitte schön ist jetzt schon wieder Ellie? Glaubt er allen Ernstes, dass ich bei seinen Frauengeschichten noch durchblicke oder mir irgendwelche Namen merken könnte?

    Na, die, der ich gesagt habe, du wärst meine Freundin.

    Oh, gebe ich ziemlich geistreich von mir und allmählich dämmert mir, warum er mir von Jessica erzählt.

    Und jetzt denkt die, auf die du wirklich stehst, du hättest eine Freundin?

    Genau.

    Und wo ist das Problem? Mach doch einfach Schluss mit mir, sage ich und klinge dabei bitterer als beabsichtigt. Glücklicherweise ist er zu betrunken um solche Feinheiten aus meinem Tonfall herauszuhören.

    "Nein, das wäre zu einfach. Du musst mit mir Schluss machen, damit sie Mitleid mit mir hat."

    Mir entfährt ein Schnauben.

    Du solltest dir nicht so viele Hollywood-Komödien reinziehen.

    Aber das funktioniert bestimmt, sagt er und klingt fast begeistert. Glaubt er das wirklich? Ich schüttle genervt den Kopf, was er nicht sehen kann, weil es im Bergpark fast stockdunkel ist. Nur Renés Handytaschenlampe spendet etwas Licht.

    Ich kann schon wieder Nadyas Stimme in meinem Kopf hören, wie sie mich anschreien würde, wenn ich diesem dummen Vorschlag zustimme.

    Das Blöde ist, ich ziehe es tatsächlich in Erwägung. Denn vielleicht - ganz vielleicht - erkennt René irgendwann, was er an mir hat.

    Ich seufze leise.

    Und wie genau stellst du dir das vor?

    René bleibt stehen.

    "Heißt das,

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