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Rakna: Das Geheimnis der Trauerweide
Rakna: Das Geheimnis der Trauerweide
Rakna: Das Geheimnis der Trauerweide
eBook528 Seiten7 Stunden

Rakna: Das Geheimnis der Trauerweide

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Über dieses E-Book

Als Rakna und ihre Freunde sich den Anweisungen ihrer Eltern widersetzen und alleine in den Wald gehen, geschieht das Unglück. Rakna gelangt durch ein magisches Portal in eine sagenumwobene Welt voller fremdartiger Wesen. Dort lauert ihr ein grausiges Geschöpf auf und versetzt ihr das Mal des Bösen. Sie wird gerettet und kann zurück in ihre Welt gelangen. Doch von nun an muss sie ein riskantes Leben führen. Niemand darf erfahren, dass sie in der Elfenwelt war. Bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr kann sie ihr Geheimnis verbergen. Doch dann passiert das, was Rakna in ihren schlimmsten Albträumen nicht erwartet hätte!

Eine Pforte, die seit Jahrhunderten verschlossen war.
Ein Menschenkind, welches das Mal des Bösen trägt.
Und ein Kampf, der nur mit vereinten Kräften gewonnen werden kann.
Wird Rakna es schaffen, zwei Welten zu vereinen?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum15. Juli 2020
ISBN9783752908428
Rakna: Das Geheimnis der Trauerweide
Autor

Josephine Becker

Josephine Becker wurde 1994 in Thüringen geboren und arbeitet nun überwiegend mit Kindern, in einer Praxis für Ergotherapie. Doch wenn die Türen der Praxis geschlossen sind schreibt sie Fantasy-Abenteuer zum mitfiebern für Jung und Alt. Einschlafschwierigkeiten brachten sie dazu, sich eine facettenreiche Fantasiewelt zu erdenken – so entstand Raknas Welt und ein Abenteuer, welches man nicht so schnell vergessen kann. Nach „Rakna – Das Geheimnis der Trauerweide“ geht die Reise jetzt weiter.

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    Buchvorschau

    Rakna - Josephine Becker

    Prolog

    Josephine Becker

    Rakna

    Das Geheimnis der Trauerweide, Band 1

    Grafik 7

    Rakna

    Das Geheimnis der Trauerweide

    Josephine Becker

    graphics1

    Impressum

    Texte: © Copyright by Josephine Becker

    Umschlag: © Copyright by Josephine Becker

    Illustration: © Copyright by Josephine Becker

    Verlag: Josephine Becker

    Semmelweisstraße 4

    98724 Neuhaus am Rennweg

    JosiBecker@gmx.net

    Druck: epubli, ein Service der

    neopubli GmbH, Berlin

    Printed in Germany

    Überarbeitete Version

    An alle, die daran glaubten,

    während ich an mir zweifelte.

    graphics2

    Der Tag neigte sich dem Ende, als ein finster dreinblickender Mann eilig seine letzten Geschäfte abwickelte. Die Menschen dieses Dorfes, welches direkt an einem großen See errichtet worden war, bereiteten sich auf die laue Sommernacht vor. Viele trafen, bei den verbleibenden Strahlen der Abendsonne, alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen für den dunklen Tagesabschnitt. Denn Sicherheit stand hier an oberster Stelle. Die Menschen, die am Rande des Waldes wohnten, verriegelten ihre Häuser sogar mehrfach, da von dort einst das Übel gekommen war. Genau an diesem Ort lebte der Mann namens Burk, welcher sich nun schnellen Schrittes dorthin aufmachte. Er wohnte zusammen mit seiner kleinen Tochter in der alten Langhütte. Sie hatte kaum zehn Winter durchgemacht, doch war schon jetzt mutig wie fünf Männer. Er liebte diese Wesensart an ihr. Aber genau jene Eigenschaft, übermäßig mutig zu sein, erschwerte ihm sein Leben oftmals. Es war damals ohnehin kompliziert für ihn gewesen, eine Erklärung für den plötzlichen Tod seiner Frau zu finden. Die Menschen des Dorfes hatten ihm lange Zeit nicht geglaubt, aber es war ihm in den letzten Jahren gelungen, sich eine gleichrangige Position unter den Leuten zu erarbeiten. Es war hart und die Bewohner tauschten ihre Ernte nicht so reichlich mit ihm, wie mit anderen, aber es bewahrte sie vor dem Hungertod. Das gesamte Dorf war gläubig und den Sternengöttern wurden regelmäßig Feste und Opfergaben dargebracht - jedem einzelnen Sternbild, zu jener Zeit, wenn es am höchsten am Himmel stand. Oft hatte er zu den Göttern gebetet, ihm einen Aufschub zu gewähren und Nahrung und ein warmes Zuhause zu senden. Aber nachdem ihre Situation jedes Mal nur noch unerträglicher wurde, hatte Burk den Glauben an sie verloren. Seine Tochter wusste von all den Schwierigkeiten nichts und nach einem weiteren Geschäft mit dem Dorfältesten, war es den Menschen, die in den unzähligen Langhäusern lebten, verboten worden, das Kind darauf anzusprechen. Ihr Oberhaupt war ein gescheiter Mann, auch wenn er die Angewohnheit besaß, sich von dem Hauptmann vorschnell fehlleiten zu lassen. Burk war der Meinung, und dies dachte er erneut grimmig, dass Farghas ohne den Anführer der Wache besser dran wäre. Natürlich war es dienlich, dass man in seiner Position unnachgiebig und bedrohlich wirkte, doch der Hauptmann übertrieb es ein wenig damit. Als vor einigen Jahren das Schwert des Oberhauptes verschwunden war und es bei dem Sohn der Kräuterfrau gefunden wurde, stimmte er dafür, das Kind zu verstoßen. Es war so alt gewesen, wie Burks Tochter jetzt. Der Junge war dem Verlangen nachgegangen, die Klinge einmal in den Händen zu halten und beging damit den Fehler. Noch heute erinnerte sich Burk an die mit Tränen gefüllten Augen des Kindes und wie er erzählt hatte, wie hell das Metall in der Sonne geglänzt hatte. Nur deshalb habe er es an sich genommen. Damals hatte Farghas den Hauptmann abgewiesen und ein faires Urteil gefällt. Burk empfand die Strafe des Ältesten sogar als lehrreich, denn der Junge war von nun an verpflichtet, das Schwert zu bewachen, damit so etwas nicht noch einmal geschah. Bis heute trat der Bursche von damals, jeden Tag die Wache an, obwohl er jetzt ein Erwachsener war. Seither war er nie wieder in krumme Machenschaften verwickelt worden.

    Abrupt hielt Burk in seinem schnellen Marsch inne. Etwas hatte ihn aus der Erinnerung gerissen. Ein schriller Frauenschrei durchbrach die Stille. Erschrocken fuhr er herum. Der Aufschrei war direkt aus dem offenen Fenster des Langhauses gekommen, vor dem Burk jetzt stand. Einen Moment verharrte er und seine Gedanken rasten, während er überlegte, ob es klug war, einzuschreiten. Auch andere warfen neugierige Blicke in die Richtung, aus welcher der Lärm kam. Als ein zweiter noch markerschütternder Jammerlaut erklang, fühlte sich Burk gezwungen, nach dem Ursprung des Geschreis zu sehen. Die Laute kamen aus dem Langhaus, in dem die Familie Eisenfuß lebte. Ihre älteste Tochter war im selben Jahr wie seine eigene geboren worden und sie spielten oft zusammen. Burk klopfte drei Mal an die Tür, als sich eine barsche Männerstimme unter die Rufe mischte.

    „Sei endlich still oder du bringst uns noch ins Grab", schrie Peadair, doch wen er damit meinte, wusste Burk nicht. Die Tür wurde aufgerissen und ein kreidebleicher Mann sah ihn an. Als er Burk erblickte, schien sich seine Anspannung merklich zu verringern.

    „Du bist es! Um ehrlich zu sein, ist das heute nicht der richtige Tag für einen Besuch."

    Ohne die Worte abzuwarten, trat Burk ein und schloss die Tür hinter sich.

    „Was ist hier los, Peadair? Die Leute denken, bei euch wird ein Schwein geschlachtet. Sie sind schon ganz unruhig."

    „Es ist meine Gattin, irgendetwas stimmt nicht."

    Alarmglocken schellten in Burks Kopf. Peadairs Frau Maidread war schwanger. War etwas mit dem Kind?

    „Ist was mit dem Baby? Wäre es besser, wenn ich Slaine hole? Sie hat schon vielen Säuglingen bei der Geburt geholfen!"

    „Nein, das ist nicht das Problem. Komm und sieh selbst!" Peadair führte ihn mit zitternden Knien in das Schlafgemach. Dort lag Maidread mit ihrem Neugeborenen auf dem Arm. Als sie die Kammer betraten, ertönte von neuem das Geschrei.

    „Lasst mein Baby! Verschwindet! Ich lasse nicht zu, dass ihr unserem Kind etwas antut!" Sie hatte die Bettdecke über das Neugeborene gezogen und es war nur noch ihr angstverzerrtes Gesicht zu sehen. Peadair verfiel bei diesem Anblick in Rage und schrie nun aus Leibeskräften. So hatte Burk seinen alten Freund noch nie erlebt.

    „Wir dürfen es nicht behalten! Es ist nicht lebensfähig. Es wird niemals akzeptiert."

    Diese Worte aus dem Mund von ihm zu hören, war erschreckend. Peadairs Nachwuchs war sein ganzer Stolz und er hatte sich so auf die Geburt ihres dritten Kindes gefreut. Doch jetzt war er nur noch ein Nervenbündel, das herumschrie und wild mit den Armen fuchtelte.

    „Zeigt es mir! Zeig mir dein Baby." Sagte Burk, doch sein Freund wurde bei diesen Worten zornig. Aber Maidread beruhigte sich etwas. Als Burk näher an das Bett herantrat, erwartete er schon das Schlimmste. Er stellte sich ein verkrüppeltes Kind vor, mit einem Arm, mit vollkommen verzerrtem Kopf oder Gliedmaßen. Aber als sie die Bettdecke hob, um es ihm zu zeigen, war er überrascht. Das kleine Mädchen, welches sie in den Händen hielt, war hübsch. Es hatte gesunde Arme und Beine und einen normal geformten Körper. Nur ihr Haar war anders. Der dicke, kurze Flaum war vollkommen weiß.

    „Wir haben eine alte Frau geboren! Sie ist eine Missgeburt. Sie kann nicht bleiben!", schrie Peadair erneut. Er hatte endgültig die Fassung verloren. Sein Blick war wahnsinnig und er raufte sich dicke Büschel blonden Haares heraus. Seine Verzweiflung ließ er an dem Schrank aus und schlug auf ihn ein, bis seine Hände blutigrot wurden. Burk zog ihn nach draußen in den Flur, doch sein Freund wehrte sich heftig. Als Peadair sich nicht beruhigte, verpasste Burk ihm eine saftige Ohrfeige. Für einen Moment war Peadair zu perplex, als dass er in der Lage war, zu reagieren. Er war gebändigt. Burk nutzte den kurzen Augenblick, um sorgsame Worte an seinen Freund zu richten.

    „Hör zu! Auch wenn es anders aussieht, so ist es dennoch dein Kind. Du bist der Vater! Falls du nicht kühlen Kopf bewahrst, wird diese Familie zu Grunde gehen. Sicher hast du recht damit, dass es nicht akzeptiert werden wird. Deshalb ist es deine Aufgabe, es irgendwie zu ermöglichen. Reiß dich zusammen."

    Peadair sah Burk fassungslos an. Dann senkte er den Blick demütig. Er schien sein Schicksal zu akzeptieren.

    „Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das Kind von mir ist!", sagte er und ließ den Kopf hängen. Es war nicht undenkbar, aber letztendlich kam es nicht darauf an.

    „Selbst wenn es das nicht ist, wird es zu dem werden, mit jedem Tag, an dem es sich in deiner Gegenwart aufhält! Los jetzt, geh zu Maidread!" Burk wandte sich ab, um die Familie zu verlassen. Als er die Eingangstür hinter sich schloss, wurde er von jemandem unangenehm überrascht.

    „Kein Wunder, dass ich Euch hier antreffe! Was ist hier los?", fragte eine scharfe Stimme. Es war der Hauptmann. Er war der Letzte, den er jetzt sehen wollte.

    „Maidread ist krank. Sie fühlt sich nicht wohl. Ich war gerade auf dem Weg zur Kräuterfrau, um Hilfe zu holen!", antwortete Burk. Er wollte weitergehen, aber der Hauptmann hielt ihn zurück.

    „Sie ist krank? Was ist mit ihr?", fragte er mit zusammengekniffenen Augenbrauen. Eine seltsame Aura der Nervosität umgab ihn. Wusste er vielleicht etwas?

    „Sie leidet unter Fieberwahn!", schwindelte Burk, ohne richtig darüber nachzudenken was er da von sich gab. Er musste ihn unbedingt davon abhalten, in dem Langhaus der Eisenfuß´ herumzuschnüffeln.

    „Fieberwahn? Ich sollte nach dem Rechten sehen!", antwortete der Hauptmann überraschend besorgt für seine sonst so harte Art.

    „Nein!", warf Burk etwas zu laut ein, doch der Hauptmann schien es nicht merkwürdig zu finden, als er hinzufügte:

    „Sie reagiert nervös auf Männer. Deshalb hole ich die Kräuterfrau. Sie kann sicher zu ihr durchdringen."

    Wieder sah der Hauptmann ihn skeptisch an, doch dann glätteten sich seine Gesichtszüge.

    „Nun gut, ich werde Slaine holen. Ihr solltet jetzt Euren eigenen Geschäften nachgehen. Burk, das ist ein Befehl!"

    Widerwillig nickte Burk und begab sich auf den Heimweg. Er hoffte zutiefst, dass die Kräuterfrau kühlen Kopf bewahrte und den Hauptmann nicht mit ins Haus nahm. Sie war eine kluge Frau. Außerdem hasste sie den Anführer der Wache, nachdem, was er ihrem Sohn antun wollte. Doch irgendwann würden die Leute erfahren, was mit der jüngsten Tochter der Familie Eisenfuß nicht stimmte. Hoffentlich hatte sich Peadair bis dahin einen guten Plan einfallen lassen. Jetzt drängte sich seine eigene Tochter in sein Bewusstsein und er bereute es, sich eingemischt zu haben. Wieder war er in seltsame Geschehnisse verwickelt, die keiner zu erklären vermochte. Das würde ein ungutes Licht auf seine ohnehin nur geduldete Familie werfen. Zu allem Übel war das älteste Kind der Eisenfuß-Familie, die beste Freundin von Burks Mädchen. Warum war ausgerechnet sie mit seiner Tochter befreundet? Dabei hatte er die letzten Jahre nur daraufhin gearbeitet, die Schmach, die auf ihrer Familie lag, endgültig auszumerzen. Er würde es nicht zulassen, dass dies irgendjemand wieder zerstörte. Vor allem durfte seine Tochter nichts von dem Geheimnis ihrer Mutter erfahren! Niemals!

    Die Trauerweide

    Genau dieses kleine Mädchen spielte in jenem Augenblick mit zwei Freunden an ihrem Lieblingstreffpunkt. Er lag mitten im Wald und war deswegen streng genommen verboten. Aber aus besagtem Grund waren sie dort am liebsten. Nie kam jemand hierher, um sie zu stören. Es ergoss sich oranges Licht über den mit Moos bedeckten Waldboden, als die kleine Gruppe von Kindern die Köpfe zusammensteckte. Ihre Stimmen überschlugen sich, während sie aufgeregt miteinander plauderten. Ein Mädchen, dessen blondes Haar in dem Licht der untergehenden Sonne wie fließendes Gold erschien, erhob das Wort. Sie sprach zu einem Jungen, der deutlich kleiner als sie wirkte. Seine braunen Augen, welche feine goldene Einschlüsse durchzogen, hatte er weit aufgerissen. Spannung und Nervosität waren ihm unverkennbar anzusehen. An der Ähnlichkeit erkannte man eindeutig, dass die beiden Kinder Geschwister waren. Ein weiteres Kind saß in der kleinen Runde und lauschte aufmerksam den Worten des blonden Mädchens. Sie hatte helle Haut und hellbraunes Haar, das in leichten Locken bis zu ihren Schultern reichte. Eine einzelne Strähne hing ihr ins Gesicht und überdeckte eines ihrer leuchtend grünen Augen. Sie hörte wachsam zu, während das Mädchen sprach. Allerdings wirkte sie weniger ängstlich als interessiert.

    „Ich hab es genau gehört, glaubt es mir! Das haben sie gesagt, wirklich!", sagte das blonde Mädchen. Ihr glänzendes Haar wippte wild hin und her, während sie aufgeregt mit dem Kopf nickte. Sie dämpfte ihre Stimme, als ob sie sonst Jemand belauschen würde.

    „Als unsere Eltern Kinder waren, sind manchmal Wesen im Wald erschienen. Unter dem verfluchten Baum sind sie aus dem Nichts gekommen."

    Während das Mädchen sprach, richteten sie ihre Blicke erschrocken in Richtung des besagten Baumes.

    „Sie sind einen Kopf größer als der mächtigste Mann im Dorf. Ihre Ohren sind lang und spitz und die Schritte lautlos. So schlichen sie sich an ihre Beute heran. Aber das Schlimmste und Gefährlichste war ihr Geflüster, welches die schrecklichsten Dinge passieren ließ. Kamen sie einmal ins Dorf, war alle Hoffnung vergebens. Sie haben die Kinder zu sich geholt und keines von ihnen wurde je wiedergesehen. Deswegen ist es uns verboten, dort zu spielen. Meine Mutter würde verrückt vor Sorge, wenn sie wüsste, dass wir alleine im Wald herumspazieren. Die Erwachsenen haben alle Angst, dass sich das Tor erneut öffnet und die Geschöpfe uns mit sich nehmen."

    Mit jedem Wort seiner Schwester hatte sich der Atem des Jungen beschleunigt und seine Augen waren nun groß wie Murmelsteine.

    „Dann lasst uns schnell nach Hause rennen! Was ist, wenn es heute Nacht passiert, wenn sie jetzt kommen?" Er stand hastig auf und während er es aussprach, stolperte er einige Schritte rückwärts.

    „Aber wieso sind unsere Eltern noch da, wenn sie alle Kinder aus dem Dorf geholt haben? Das ist doch merkwürdig, oder?", meldete sich das Mädchen mit dem hellbraunen Locken. Marthas Blick wurde hinter ihren blonden Haaren kurze Zeit starr und sie wirkte für den Moment entwaffnet. Dann schien sie neuen Mut gefasst zu haben, denn sie erwiderte:

    „Das ist doch klar, Rakna. Sie haben sich nur bestimmte Kinder ausgesucht, um sie in eines von ihnen zu verwandeln."

    Während sie es aussprach, war in der Nähe ein leises Rascheln zu vernehmen und die Köpfe der Drei zuckten in Richtung des Geräusches. Sofort schnellte der Junge herum und schrie seine große Schwester an:

    „Ich will Heim, Martha! Jetzt gleich! Lass uns verschwinden."

    Getrieben von ihrer eigenen Schauergeschichte schaute Martha ebenfalls mit bangem Blick zu der Stelle. Ein weiteres lautes Scharren ertönte und alle drei waren auf den Beinen. Vollkommen überstürzt rannten sie in verschiedene Richtungen.

    Eigentlich hatte Rakna nie an die Geschichten von Martha geglaubt. Denn sie hatte eine blühende Fantasie und nutzte sie gern, um anderen Angst einzujagen. Aber es hatte sich auch noch nie etwas so lautlos an sie herangeschlichen, ohne dass sie es bemerkt hätte. Raknas Gehör war ausgesprochen fein ausgebildet, was ihr schon oft den Hals gerettet hatte. Einmal schlich sich Ulrich - ein Junge, der mit seiner Familie in dem prachtvollen Langhaus im Dorf lebte, von hinten an sie heran, um ihr Froschlaich über den Kopf zu schütten. Doch sie hatte die plumpen Schritte längst aus der Ferne vernommen und sich blitzschnell umgedreht. Mit einem gezielten Schlag stieß sie das Glas weg, sodass sich der gesamte schleimige Inhalt auf die Hose des Jungen ergoss. Obwohl Rakna normalerweise mutig war, erschreckte sie die Vorstellung eines bösartigen Geschöpfes mit langen, spitzen Ohren dennoch. So rannte sie, ohne sich umzudrehen oder einen Moment innezuhalten. Erst als das Dickicht des Waldes kaum noch Licht hindurch ließ, und ihr immer wieder Äste ins Gesicht schnippten, verlangsamte sie ihren Schritt. Schließlich blieb sie stehen und wandte sich zögerlich um. Nichts war zu sehen. In tiefen Zügen strömte kalte Waldluft in ihre Lungen und ihre Brust schmerzte bei jedem Atemzug. Sie wusste nicht wie weit und wohin sie gerannt war. Von der Sonne sah sie nur noch einen schmalen roten Streifen am Horizont. Sonst waren da nur Bäume und Sträucher. Panik kroch in ihr hoch. Hektisch sah sie umher, in der Hoffnung Martha oder ihren kleinen Bruder Tharas zu erblicken. Sie lauschte, doch da war nichts außer Stille. Durch die Zweige der Fichten erkannte Rakna in der Ferne eine Lichtung. Sie lag auf einem Hügel und der Weg dorthin war lang, sogar länger als sie vermutet hätte. Immer wieder war sie gezwungen innezuhalten, um sich zu vergewissern, ob sie in die richtige Richtung lief. Langsam, aber allmählich wurde es dunkler um sie herum. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie ihr Ziel. Doch ihre Hoffnung wurde jäh zerschlagen, denn auch von der Lichtung aus war nichts als Blattwerk und Nadelbäume zu sehen. Ein dicker Kloß schnürte Rakna die Kehle zu. Ihre Lippen zitterten wie Espenlaub. Sie wagte es nicht, nach ihren Freunden zu rufen, aus Angst, Feinde auf ihre Fährte zu locken. In Gedanken versuchte sie sich zu beruhigen. Immer wieder sagte sie zu sich selbst:

    „Du musst Ruhe bewahren. Wenn du jetzt den Kopf verlierst, findest du nie mehr nach Hause." Und so atmete sie tief durch und richtete ihren Blick in die Ferne. Es war schwer, bei der Dunkelheit etwas zu erkennen. Die Umrisse der Bäume verschmolzen miteinander, sodass sie kaum zu unterscheiden vermochte, was Stamm und was Weg war. Nicht einmal der Mond spendete ihr Licht, denn heute Nacht war das Himmelszelt von einer dichten Wolkendecke verschlossen. Aus dem Nichts heraus flackerte ein Schimmer am Horizont auf und blieb wie ein Leuchtsignal im Dunkel hängen. Erschrocken und freudig zugleich erspähte sie es. War das jemand aus ihrem Dorf? Suchten sie vielleicht schon nach ihr? Zweifellos war das ihre einzige Hoffnung. Mit strauchelnden Schritten stürmte sie auf den winzigen Punkt in der Ferne zu. Wieder und wieder stürzte sie, wegen des unebenen Bodens, auf die Knie. Jedes Mal rappelte sie sich hoch und stolperte so schnell sie ihre Beine trugen vorwärts. Sie flehte zu den Göttern, dass das rettende Licht nicht erlosch, bevor sie es erreichte. Und sie schienen Rakna erhört zu haben, denn es verschwand nicht. Sie schaffte es aus dem Dickicht auf eine weitere, größere Lichtung. Abermals erhob sich ein kleiner Hügel vor ihr. In dem Zentrum, auf der höchsten Stelle, wuchs ein ausladender alter Baum. Seine Äste und Zweige hingen in geschwungen Bögen zu Boden und unter dem Laub flackerte das rettende Licht. Doch der Anblick des riesigen, schützenden Baumes ließ das Mädchen erneut vor Angst erschaudern. Es war die Trauerweide mit ihren knorrigen, langen Ästen. Rakna dämmerte es, sie war genau auf das verfluchte Gewächs zugelaufen, den Schreckensbaum aus der Geschichte, die Martha vor wenigen Stunden erzählt hatte. Das Licht, das unter den Zweigen hervorstrahlte, wirkte nicht bedrohlich. Es leuchtete in einem angenehmen Orange, wie die Flammen einer Fackel. Für einige Augenblicke blieb sie wie angewurzelt stehen. In ihrem Kopf ratterte es. Die Kälte der Nacht kroch ihr langsam an den Beinen hoch und das dünne Leinenkleid schützte sie nur wenig. Vielleicht hatte sich ein Wandersmann in diese Gegend verirrt und genau wie sie Zuflucht vor der Dunkelheit gesucht. So leise es ihr möglich war, schlich sie sich auf ihren nackten Füßen den Berg hinauf und versuchte etwas zu erspähen. Das Wispern des Windes schreckte sie immer wieder auf. Bibbernd vor Kälte entschloss sie sich, einen Blick unter die dicken Äste des Baumes zu werfen. Da sie weit und breit nichts entdeckte und eine wohlige Wärme zwischen den Zweigen hervortrat, schien es ihr letztlich sicherer, inmitten der Blätter Schutz zu suchen. Wohl war ihr bei dem Gedanken nicht, dennoch schob sie mit ihrer bleichen Hand das Blattwerk zur Seite. Sie musste sich durch das enge Laub zwängen, um den Stamm zu erreichen. Dort war niemand. Das pulsierende Leuchten schien direkt aus den Wurzeln des Baumes zu kommen, als wäre es sein Herzschlag. Erneut kam Furcht in Rakna auf. Sie war schon einige Schritte rückwärts geschlichen, als sich plötzlich ein Rinnsal aus Harz aus dem Stamm ergoss, genauso leuchtend wie die Sonne. Ihr blasses Gesicht wurde von dem gleißenden Licht erhellt und ihre Angst wich. Es wirkte vertraut und spendete Wärme, goldgelb wie ein kleiner Lavastrom. In ihrem ganzen Leben hatte Rakna nie so etwas überwältigend Schönes gesehen. Sie blieb stehen und starrte auf die helle Stelle. Zögerlich wagte sie sich ein paar Schritte an den Stamm heran und streckte eine Hand aus, um das flüssige Gold zu berühren. Ihre schlanken Finger hatten die zähe Masse fast erreicht, als ein Ast der Weide sich schlagartig zu einem hohen Bogen verflocht und wie ein Torbogen vor ihr aufgerichtet zum Stehen kam. Vor Schreck fiel sie über ihre eigenen Füße und landete auf dem Rücken. Für ein paar Sekunden war sie unfähig zu reagieren. Vom Boden aus beobachtete sie, wie das flüssige Gold sich wie ein Schleier zwischen dem Bogen ausbreitete und dieser so einem Spiegel glich. Zögerlich stemmte sie sich von der Erde hoch, um in das neue Gebilde zu schauen. Statt sich selbst zu erblicken, wie es bei einem Spiegel üblich war, schaute sie auf eine weite Wiese, die durch und durch vom Sonnenlicht erhellt war. Fremdartige Blumen wuchsen dort in Farben, so vielseitig, dass Rakna sie nicht zu benennen wusste. In der Ferne waren Laubbäume mit tiefen, kräftigen Wurzeln zu erkennen. Zwischen den hohen, weiten Baumkronen erblickte sie kleine urige Häuser. Davor erhoben sich Torbögen, lange Treppen und Fenster und das in schwindelerregenden Höhen. Die Häuschen waren reich verziert und die geschwungenen Äste zu feinen Mustern geflochten worden. Es war, als blickte Rakna durch ein Portal in eine unbekannte Welt. Behielt Martha recht und unter dem mysteriösen Baum kamen wahrhaftig Wesen aus fremden Welten hervor? Und waren diese wirklich hinter den Kindern ihres Dorfes her? Dann musste dort oben jemand leben. Misstrauen hielt sie davon ab, sich an das seltsame Gebilde heranzuwagen. Sie tat nichts weiter, als die Landschaft zu betrachten.

    Unerwartet schoss eine langfingrige Hand mit dunklen, spitzen Nägeln aus dem goldenen Schleier hervor und packte das Mädchen vorne am Kleid. Es spannte sich aschfahle Haut über das schmale Handgelenk, darunter waren deutliche schwarze Adern zu erkennen. Mit unmenschlicher Kraft riss es das Kind von den Füßen und direkt durch den Schleier hindurch. Rakna kniff die Augen zusammen und erwartete einen harten Zusammenprall mit der glatten Oberfläche. Doch wie die körperlose Hand glitt ihr Leib mühelos durch den Spiegel hindurch. Als Rakna die Lider öffnete, fand sie sich auf der bunten Blumenwiese wieder. Es roch hier wunderbar süßlich, wie ein in voller Blüte stehender Rosenstrauch. Allerdings war der Genuss nicht von langer Dauer, denn die eben noch körperlose Hand zerrte sie ein weiteres Mal von den Füßen und zeigte jetzt, dass sie zu einem ebenso grässlichen Körper gehörte. Vor ihr stand ein grausig aussehendes Wesen, in Gestalt einer Frau, mit schwarzem Haar und gräulich weißer Haut. Ihre Augen waren pechschwarz und von dunklen Ringen umgeben, als hätte sie viele Jahre das Tageslicht nicht gesehen. Zum großen Schrecken von Rakna schwebte die Frau mit ihren nackten Füßen einige Zentimeter über dem Boden. Ihre Zehennägel waren dunkel verfärbt und liefen zu einer scharfen Spitze zusammen. Um sie herum wand sich ein zerrissenes, schwarzes Kleid. Manche Fetzen schwebten um ihren Kopf und ihren Leib, als führte sie ein unsichtbarer Fadenzieher. Ihre Haare wirbelten wild um ihr bösartig lächelndes Gesicht, obwohl kein Windhauch das Gras und die Bäume erfasste. Raknas angsterfüllte Augen, die sich mit Tränen gefüllt hatten, führten dazu, dass das grausige Wesen breiter grinste und schwarze, spitze Zähne sich zwischen ihren Lippen zeigten. Rakna wurde von dem Geschöpf näher herangezogen. Sie erkannte deutlich, dass ihr Gebiss, wie bei einem Hai, in doppelter Zahnreihe angelegt war. Der widerliche Anblick des Wesens nahm ihr fast den Atem. Als es dann zu säuseln begann, war das Mädchen gelähmt vor Angst und Abscheu.

    „Solch ein hübsches Kind hab ich seit Jahrhunderten nicht mehr erblickt. Was für ein glücklicher Zufall, dass du gerade jetzt auf unsere Lichtung gekommen bist."

    Die pechschwarzen Augen wurden zu Schlitzen, sodass nur die Pupillen zu erkennen waren.

    „Aber sag mir, wie heißt du, mein Kind?" Die übermächtige Furcht ließ nicht zu, dass Rakna irgendein Wort über die Lippen brachte. Sie stammelte nur unverständliche Laute vor sich hin und das Geschöpf drang unerbittlich weiter auf das Mädchen ein.

    „Ich merke, meine Herrlichkeit und mein überragender Einfluss haben dir die Zunge verschlungen. Es stört mich nicht, Kind. Schon tapfereren Kriegern erging es so wie dir. Und was macht es, wenn ich einmal nicht den Namen meines Morgenmahles kenne. Für dich werde ich eine Ausnahme machen."

    Auf diese Worte hin folgten viele Dinge zugleich. Das bösartige Gesicht riss seinen Mund zu einem gewaltigen Schlund auf und vergrub die unzähligen Zähne in der Schulter des Kindes. Rakna spürte, wie sich die spitzen Hauer schmerzhaft in ihr Fleisch versenkten und warmes Blut an ihrem Schulterblatt herunterlief. Hinter ihr ertönte ein lauter Schreckensschrei und Rakna wurde mit einem kräftigen Ruck zu Boden gerissen. Der Schmerz des Aufpralls übermannte sie und vernebelte ihr die Sicht. Doch bevor sie die Sinne verlor, erblickte sie verschwommen eine schlanke Gestalt über sich. Ein leises Surren, begleitet von einem silbrigen Schweif schwang durch die Luft. Dann wurde es um sie herum vollkommen dunkel und sie wurde ohnmächtig.

    Lynthriell

    Das Erste was Rakna vernahm, war, wie der Schmerz in ihrer Schulter langsam nachließ. Sie vermochte es nicht zu erklären, wieso. Lag es daran, dass sie im Sterben lag? Und war es so, dass im Tode eine leise Stimme in einer fremden Sprache vor sich hinmurmelte, bis der Schmerz nachgelassen hatte? Aber war es überhaupt möglich, im Tod noch etwas zu spüren? Rakna bemerkte, wie etwas Nasses auf ihre Stirn gelegt wurde. Wie merkwürdig! Nein, das konnte nicht sterben sein. Sie versuchte, ihre Augen zu öffnen und sich aufzurichten, aber sie war zu schwach und so gelang es ihr nur, durch ihre zusammengepressten Augenlider hervor zu spähen. Sie erkannte eine Frau vor sich. Doch diese wirkte nicht angsteinflößend. Sie besaß ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht mit langem, geschmeidigem, schwarzem Haar, das ihr bis zur Brust reichte. An beiden Seiten der Stirn hatte sie eine dünne geflochtene Strähne, welche sich am Hinterkopf verband. Ihre Augen waren von einem strahlenden Blau und von vollen langen Wimpern umgeben. Die Fremde, war deutlich größer als alle Frauen, die Rakna kannte. Sie trug ein weißes, transparentes Kleid über einem sonnengelben Unterkleid, welches eng um die Brust geschnürt worden war. Die Ärmel verliefen nach unten zu einer weiten Öffnung und zarte Hände ragten darunter hervor. Sie tupfte mit einem Tuch Raknas schweißnasse Stirn ab. Als sie bemerkte, dass das Kind wach war, sprach sie zu ihr mit besorgter Stimme:

    „Du hast wirklich großes Glück gehabt. Wäre ich einen Moment später gekommen, hätte ich dir nicht mehr helfen können."

    Rakna versuchte sich aufsetzen, doch die Frau drückte sie mit sanfter Gewalt wieder zurück auf das Kissen.

    „Du solltest dich ausruhen! Wir haben heute einen anstrengenden Tag vor uns. Es ist wichtig, dass wir dich in deine Welt zurückbringen."

    Endlich hatte das verwirrte Kind die Stimme wiedergefunden. Zu Beginn fiel es ihr schwer, einen Ton hervorzupressen, doch dann sprach Rakna zögerlich und brüchig:

    „Wer seid Ihr? Und wer war diese schreckliche Frau?"

    „Mein Name ist Lynthriell und ich gehöre zum Luftvolk des Elfenlandes. Die Kreatur, der du armes Kind begegnet bist, war keine Frau. Sie ist eine Dämonenfürstin und ihr einziges Ziel ist es, dir deine Lebenskraft zu entziehen. Wenn ich sie nicht aufgehalten hätte, nicht auszusprechen, was dann mit dir geschehen wäre." Die sanftmütige Frau sah zu Boden und schüttelte leicht ihren hübschen Kopf. Ihr Blick wurde ernst:

    „Leider gibt es etwas, was ich dir sagen muss. Der Biss der Fürstin bringt grausame Begleiterscheinungen mit sich. Wird das Opfer dabei nicht getötet, so wird es doch mit dem gefährlichen Gift infiziert. Hindert man es nicht an seiner Ausbreitung, wird jedes Geschöpf, das damit befallen ist, in Ihresgleichen verwandelt. Ich habe es geschafft die Infektion in deiner Schulter einzuschließen, sodass sie sich nicht weiter ausbreitet und die Seele nicht verdirbt. Aber das Gift hat schon sein Mal hinterlassen und dagegen vermag ich leider nichts zu tun." Im selben Moment, als sie ihren Satz beendete, klopfte es laut an der Tür. Erschrocken wandte sie ihr elegantes Haupt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Dann schaute sie wieder zu Rakna und legte einen Finger auf ihre Lippen, zum Zeichen, dass sie sich still verhalten sollte. Lynthriell schlich leise aus dem kleinen Raum und schloss die Tür hinter sich. Plötzlich wurde eine andere Tür aufgerissen und eine laute, tiefe Stimme ertönte. Sie sprach im strengen Ton:

    „Es wurde ein Fremdling aus dem Menschenreich aufgespürt. Die höchste Alarmstufe wurde ausgerufen. Ist Euch irgendetwas aufgefallen? Ihr wisst, wir müssen sie auslöschen, bevor Schlimmeres passiert." Mit kräftiger, bestimmter Stimme antwortete Lynthriell:

    „Nein Herr, selbst wenn mir etwas ins Auge gefallen wäre, hätte ich gleich mit der Gebieterin gesprochen und nicht mit Euch. Ich kenne Euch! Ihr hättet, egal ob Freund oder Feind, Eure Lanze in den Menschen gebohrt! Das ist nicht meine Art, Valgas."

    „Nicht so vorlaut! Ihr steht schon unter Beobachtung. An Eurer Stelle würde ich mich zurückhalten!" Mit einem gewaltigen Krachen wurde die Eingangstür zugeschlagen und schnelle Schritte verrieten der ratlosen Rakna, dass jemand auf dem Weg zu ihr war. Lynthriell kehrte zurück und ihr Gesicht war in tiefe Sorgenfalten gelegt.

    „Beeilen wir uns! Sie verstärken schon die Wachen. Leider kannst du dich nicht länger ausruhen. Wir müssen dich hier wegbringen. Sonst ...", sie unterbrach sich. Rakna verstand gar nichts mehr. Wieso erlaubte sie ihr nicht, hierzubleiben – hier bei ihr in Sicherheit? Warum versuchten alle, ihren Tod herbeizuführen? Sie hatte doch niemandem ein Leid zugefügt. Die Angst ergriff wieder von ihr Besitz. Die schöne Frau schien ihre Gedanken zu lesen, denn sie sagte:

    „Hab keine Sorge, ich werde dir helfen. Die Elfen meines Volkes sind von Furcht geplagt. Sie haben Angst vor Veränderung die mit Fremden einhergeht und kein Vertrauen in die, die von einem Dämon gebissen wurden. Diese werden von hier verbannt, nicht auszusprechen, was sie dir antun würden. Ich aber habe dein Innerstes gesehen und du trägst nichts Böses in dir, auch wenn du ein Mensch bist."

    Als sie endete, fragte sich Rakna, was dies zu bedeuten hatte? War es so wichtig, woher sie kam? Ja, es gab einige feindselige Leute wie Ulrich, denen es Spaß bereitete, andere zu quälen und dabei Genuss empfinden. Aber das war einer von einem ganzen Dorf. Doch, um weitere Fragen zu stellen, blieb keine Zeit mehr. Rakna hörte hektische Stimmen und irgendeine davon sagte Lynthriell etwas, denn mit einer schnellen Handbewegung ihrerseits schlossen sich wie von Zauberhand alle Fensterläden im Raum und eine Bodenluke öffnete sich. Darunter offenbarte sich eine hölzerne Leiter, welche nach unten führte.

    „Steh auf. Uns bleibt keine Zeit mehr." Sie half Rakna auf die Beine und stützte sie, bis sie die Leiter erreicht hatte. Beide stiegen die vielen Stufen bis zum Boden hinab. Niemand konnte sie von hier aus sehen, denn dickes Blattwerk umgab sie, wie eine schützende Wand. Lynthriell schlich voraus und schaute, ob die Luft rein war. Dann wies sie Rakna mit einem Wink an, ihr zu folgen. War es klug einer Fremden nachzulaufen? Doch welche Wahl hatte sie sonst? Sie hatte die Möglichkeit ihr zu vertrauen und tiefe Enttäuschung zu erfahren oder sie wurde gleich vom Rest des Elfenvolkes abgeschlachtet. Ihre letzte, verbleibende Hoffnung lag darin, dass die freundliche Art der fremden Frau keine Täuschung war. Also folgte sie ihr und sie liefen am Waldrand entlang durch das schützende Dickicht der Blätter. Während sie sich abhetzten, spürte Rakna, wie ihr die Sinne wieder schwanden. Sie blieb an einem großen Stein gestützt stehen. Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Die Gefährtin bemerkte ihre Schwäche, sie umfasste das kleine Mädchen an der Hüfte und trug sie vorwärts. Zurück auf der riesigen, herrlich duftenden Blumenwiese entdeckte Rakna etwas, das sie zuvor nicht gesehen hatte. An die Wiese schloss sich ein weites Feld aus dichtem, hohem Schilf an. Es war dunkler als in der Menschenwelt und deutlich enger. Direkt davor war das geöffnete Tor zu sehen. Hinter den beiden waren laute Stimmen und schnelle Schritte zu vernehmen. Lynthriell drehte sich nicht um, beschleunigte ihren Gang und zog Rakna jetzt geradewegs über die offene ungeschützte Wiese in Richtung des Tors. Erstaunlich rasch erreichten sie das Portal. In der Ferne waren die ersten Elfen zu erkennen, doch diese schienen sie nicht zu sehen. Lynthriell umklammerte fest den Arm des Mädchens. Bevor sie Rakna durch das Tor schob, sprach sie noch einmal im ernsten Ton:

    „Sprich mit keinem über das, was heute passiert ist. Zeige niemandem das Dämonenmal! Halte es immer bedeckt, sonst werden die Menschen dich jagen. Vertraue keiner Menschenseele! Hier ..." Mit diesen Worten streckte Lynthriell Rakna ihrer Handfläche entgegen.

    „Nimm meinen Ring. Es liegt ein Zauber darauf. Wenn du in Schwierigkeiten steckst, wegen eines Menschen oder etwas anderem, reibe an dem eingelassenen weißen Stein und es wird Hilfe zu dir eilen. Das Leuchten, welches erscheint, gibt dem Träger des zweiten Ringes das nötige Zeichen, um dir Beistand zu leisten."

    Lynthriell hob ihre Hand und Rakna sah genau denselben goldenen Ring an ihrem Finger.

    „Jetzt geh." Die Elfenfrau versuchte Rakna durch das Portal zu schieben, als sich das kleine Mädchen nochmals zu ihr umdrehte.

    „Ich heiße Rakna. Ich bin aus dem Hause Wolfshaut, das ist der Name meiner Familie."

    Zum ersten Mal sah sie Lynthriell lächeln. Es ließ sie umso strahlender erscheinen.

    „Ich hoffe, wir treffen uns eines Tages abermals, Rakna aus dem Hause Wolfshaut."

    Somit schritt das Mädchen durch das goldene Portal und fand sich unter den geschwungenen Ästen des Weidenbaumes wieder. Erneut dämmerte es zur Nacht, aber dieses Mal erhellte der Mond den Himmel. So schnell sie ihre zitternden Beine trugen, rannte sie den vom Vollmond erleuchteten Weg nach Hause. Als sie endlich die Brücke zu ihrem Dorf erreichte, schlich sie auf leisen Füßen bis zur Tür ihres Heimes und öffnete sie lautlos. Es brannte Licht im Inneren, aber niemand war zu sehen. Sie durchquerte den Hauptraum und spähte in die längliche Küche. Ein warmes Feuer loderte in der Feuerstelle und der angenehme Duft einer Gemüsesuppe hing in der Luft. Rakna konnte ihr Glück kaum fassen. Nachdem sie geglaubt hatte, nie wieder ihr Dorf zu sehen, geschweige denn ihren Vater, war sie jetzt in ihrem vertrauten Heim und alles würde so sein wie früher. Wie sehr sie sich irrte. Hinter ihr schlug die Tür zur Schlafkammer auf und Burk stand auf der Schwelle. Rakna stieß einen lauten Freudenschrei aus und rannte auf ihren vollkommen schockierten Vater zu. Sie umarmte ihn stürmisch. Zuerst kam keine Reaktion. Plötzlich packte er sie grob am Handgelenk und zog sie vom Fenster weg, in den Schatten des Hauses. Er begann mit zutiefst besorgter Stimme zu sprechen:

    „Rakna? Wo kommst du her? Wo bist du gewesen?" Seine Worte klangen hart und doch angsterfüllt, wie sie es niemals zuvor von ihm erlebt hatte.

    „Aber Vater, freust du dich gar nicht, dass ich wieder da bin?" Als sie in das bestürzte Gesicht schaute, bemerkte sie erstmals, dass er schrecklich alt geworden war. Tiefe Augenringe umgaben seine braunen Augen und Furchen von Sorge zeichneten die Stirn.

    „Wir dachten alle, du seist tot, Rakna. Seit einigen Monden hat dich niemand mehr gesehen. Wir haben gedacht, du wärst wilden Tieren zum Opfer gefallen oder Schlimmeres. Keiner wusste, wohin du verschwunden bist. Jetzt, nach so langer Zeit, kommst du plötzlich wieder? Ohne einen Kratzer? Sag mir, Rakna, wo bist du gewesen?" Die ernsten und eindringlichen Worte ihres Vaters bereiteten ihr mehr Angst als all das, was sie bisher erlebt hatte. Seit vielen Monden schon, sagte er? Wie war das möglich? Sie hatte sich ihres Wissens nach, nur einen Tag in der Elfenwelt aufgehalten. Burk, ihr Vater, war so besorgt und entgeistert über ihr plötzliches Erscheinen, dass sie das Gefühl hatte, es wäre besser gewesen, sie wäre auf ihrer Reise gestorben. Diese Erkenntnis traf sie so hart, dass ihr urplötzlich die Tränen kamen. Sie erzählte in Begleitung von markerschütterndem Schluchzen, was passiert war. Wie sie sich in den Wald geschlichen hatten, wie sie überrascht worden waren und davongelaufen sind. Wie sie Zuflucht unter dem Baum gesucht hatte und angezogen durch das Licht, in die andere Welt gekommen war. Sie erzählte von dem Biss der Dämonenfürstin und dass ein weiteres, gutartiges Wesen sie heilte und wieder hierher zurückbrachte. Nur den Ring erwähnte sie nicht. Rakna schaffte es keinen Augenblick länger, ihre Gefühle zu verbergen, und sie weinte sich an der Schulter ihres Vaters aus. All ihr Leid, was sich bis dahin aufgestaut hatte, brach jetzt aus ihr heraus. Er streichelte tröstend ihr Haar und hielt sie ganz fest, sodass sich Rakna beruhigte. Dann sagte er mit unumstößlichem Willen:

    „Ich werde mir etwas ausdenken, was wir den anderen erzählen. Mach dir keine Sorgen. Niemand wird dir ein Leid antun."

    Von Menschen und Kindern

    Fast acht Jahre waren nach diesen Geschehnissen vergangen. Das kleine Dorf hatte sich kaum verändert. Noch immer leuchtete es jeden Abend in den orangen Strahlen der untergehenden Sonne. Die Trauerweide bäumte sich nicht weit von der Brücke entfernt, auf der großen Lichtung ausladend in die Höhe. Die Menschen, die in diesem Dorf lebten, hatten sich jedoch deutlich gewandelt. Einige Zeit war vergangen und die kleine Martha war fast volljährig. Ihre Hochzeit mit Erik Ebertöter stand kurz bevor. Auch Rakna war erwachsen geworden. Sie hatte allerdings andere Pläne als ihre Freundin. Seit der Nacht, in der Rakna dem Tode so nahegestanden hatte, schwor sie zu lernen, wie sie sich selbst verteidigte. Und genau das hatte sie in den letzten Jahren umgesetzt. Da war keine Zeit für Liebesgeschichten. Sie wusste ohnehin nicht, wie sie jemals das Mal an ihrer Schulter erklären sollte. Ihr Vater verschaffte ihr durch gute Verbindungen, wie er es immer nannte, eine Ausbildung zur Wache. Aber Rakna hatte sich fast bis zum Oberhaupt der Wachen hochgearbeitet. Bald würde ihr von der Ältesten mit dem entscheidenden Ritual der neue Ehrentitel verliehen werden. Rakna war jetzt kein Kind mehr und ihre Ängste hatte sie längst abgelegt. Auch wenn diese Nacht vor acht Jahren ihr die Kindheit genommen hatte, brachte sie ihr einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Doch das meiste verdankte sie ihrem Vater. Er zog sie nicht nur nach dem Tod ihrer Mutter allein groß, sondern erdachte eine lückenlose Geschichte, wie Rakna es zwei Mondzyklen lang auf sich alleingestellt im Wald überlebt hatte. Er überzeugte alle, dass sie von einem kleinen Wandervolk festgehalten und versorgt worden war. Später gelang ihr die Flucht und sie war mit Reisenden ins Dorf zurückgekehrt. Keiner zweifelte bis heute an dieser Geschichte und niemand außer ihr und ihrem Vater, wusste was in Wirklichkeit geschehen war. Das Mal auf ihrer Schulter verdeckte sie immer gewissenhaft. Doch das war nicht so leicht, denn es hatte sich von der Bissstelle aus in dicke, dunkle Streifen gespalten und in alle Richtungen ausgebreitet - fast wie eine Ranke. Die Stelle war handgroß und hob sich deutlich von ihrer weißen Haut ab. Der viele Stoff, den sie deswegen meist trug, war bis zum Hals hoch geschnitten und ließ sie zugeknöpft und streng wirken. All das war ihrem Plan, die oberste Wache zu werden, durchaus zuträglich. Wegen all dieser Geschehnisse genoss sie heute hohes Ansehen im Dorf. Ihre vernünftige, strebsame Art gefiel den Leuten und doch wusste keiner, was der wirkliche Grund dafür war. Ihre Vorsicht und Distanz hatte aber auch zur Folge, dass Rakna einsam wurde. Der Gedanke sich jemandem zu öffnen, ängstigte sie. Selbst ihr Vater berührte niemals das Mal an ihrer Schulter. Wenn er ihre geschundene Haut sah, zeichnete sich in seinem Gesicht deutlich Abscheu ab. Doch Rakna konnte es ihm nicht verdenken, die Bissstelle widerte sie ebenfalls an. Einige Male dachte sie sogar, das Mal würde sich unter der Haut bewegen, meist wenn sie aufgewühlt war. Aber sobald sie nachsah, fand sie keine Veränderung vor.

    Es verblieben nur noch wenige Tage bis sie endlich zur Anführerin der Wachen ernannt werden würde. Täglich trainierte sie mit den anderen und oft war Rakna es, die zur Wachsamkeit aufrief. Aber heute war ihr freier Tag. Heute war sie nur Rakna. Diese Zeit nutzte sie, um sich unweit der alten Trauerweide auszuruhen und dabei zu beobachten, ob sich dort irgendetwas regte. Oft hatte sie sich gewünscht, Lynthriell wiederzubegegnen, um sich für ihre Rettung zu bedanken. Insgeheim träumte sie davon, irgendwann in das fremde Land zurückzukehren, um es mit dem schrecklichen

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