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Sternschnuppenzauber
Sternschnuppenzauber
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eBook558 Seiten8 Stunden

Sternschnuppenzauber

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Über dieses E-Book

Mit 18 darfst du dir etwas wünschen.
Und dieser Wunsch wird in Erfüllung gehen - das ist Gesetz.

Die 18-jährige Rida muss plötzlich zwischen ihrem jugendlichen Wahnsinn und zu viel unbeschwerter Party eben diesen Wunsch einlösen. Doch mit ihrer Formulierung entgleitet ihr auf einmal ihr altes, eckenfreies Leben.
Und dann findet sie sich mit einer speziellen Gabe ganz woanders wieder und stellt am meisten sich selbst in Frage.
Sie muss herausfinden, wo sie hingehört, bevor es jemand anderes für sie entscheidet.

Doch wer ist eigentlich gut und böse?
Wer sind ihre wahren Freunde?
Und was hat es verdammt nochmal mit dem gutaussehenden und geheimnisvollen Niro auf sich?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Dez. 2015
ISBN9783732368044
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    Buchvorschau

    Sternschnuppenzauber - Albana Kelmendi

    Eins

    Als ich klein war, habe ich gedacht, die Welt bestünde bloß aus zwei Orten. Der Ort, in dem ich lebte und der für den Rest der Welt. Und überall gab es Eis und Zuckerwatte. Ich dachte, ich könne diesen anderen Ort mal besuchen, wenn ich alt genug dafür war und hätte damit die ganze Welt gesehen und alle Menschen kennengelernt, die es gab. Doch irgendwie sterben Illusionen mit zunehmendem Alter und die Fantasie, die ich damals für diese Welt aus zwei Orten voller Eis und Zuckerwatte aufbringen konnte, hatte sich alsbald in Schwachsinn gewandelt.

    Heute bin ich das letzte Mal Kind – zum Glück versteht sich. Fest entschlossen und mit schnell schlagendem Herzen denke ich an mein neues, erwachsenes Leben, das schon bald beginnt. Mein neues Ich, das auf mich wartet.

    Morgen bin ich endlich achtzehn. Und mein letzter, lächerlicher Kind-Tag hat doch tatsächlich etwas Magisches an sich. Ich trage ihn wie ein zuckersüßes Verbot auf der Zunge und starre im Sekundentakt auf die Uhr. Womöglich schiebe ich meine heutigen Taten das letzte Mal auf meinen wahnsinnig ausgeprägten jugendlichen Leichtsinn. Diese Ausrede werde ich ziemlich vermissen!

    Okay, Rida, noch acht Stunden bis Mitternacht, aber nur noch drei Stunden bis zu unserer abgefahrenen, super, sensationellen Geburtstagsparty. Das Adrenalin schwirrt in großen Mengen rasant durch meinen viel zu kleinen Körper.

    Fast, aber wirklich nur fast, und in einem merkwürdigen Moment der Schwäche, glaube ich, dass mein kindlicher Gedanke wieder zum Greifen nah ist.

    Zwei Orte.

    In acht Stunden werde ich endlich vom Ort der Kindheit in den des richtigen Lebens katapultiert. Meine Güte, allein diese Tatsache ist eine fantastische Party wert.

    Ich werde achtzehn, ich werde Auto fahren, in jeden Kinofilm dürfen, in alle Clubs kommen, studieren, vielleicht sogar ausziehen.

    Es gibt nur eine Sache, die ich vehement ignoriere. Eine Aufgabe, die mir und allen anderen Achtzehnjährigen bevorsteht.

    „Ich darf meinen Wunsch einlösen.", spreche ich zu meinem Spiegelbild und rolle genervt mit den Augen. Ach, wen interessiert das schon? Okay, zugegeben, ganz vielleicht ist die Wunscheinlösung, die mich zwangsweise erwartet, wirklich die größte meiner Aufgaben mit achtzehn, aber ich weigere mich daran zu denken.

    Ohne diese Tatsache stelle ich mir mein Leben mit achtzehn nämlich wahnsinnig und unbeschreiblich toll vor – wie eben Unmengen an Eis und Zuckerwatte.

    Obwohl der Wunsch, der mir offen steht und von einem der Wunschboten unserer Stadt erfüllt wird, gar keine so schlechte Sache ist. Das weiß ich eigentlich. Schließlich wird wahrhaftig einer meiner Wünsche in Erfüllung gehen – so seltsam das auch klingen mag.

    Ist das nicht ein mega Willkommensgeschenk in die Erwachsenenwelt?

    Naja, wie dem auch sei. Das interessiert mich nun wirklich nicht. Ich muss mich wichtigeren Dingen zuwenden. Meiner Kleiderwahl zum Beispiel. Rotes oder blaues Kleid?

    Beide – verdammt kurze – Kleider liegen auf dem Bett vor mir und weil ich mich nicht entscheiden kann, greife ich prompt nach meinem Smartphone. Das Ding ist mein zweites Ich und erledigt alles, was ich nicht kann. Also nicht ganz so viel, aber einiges.

    Ich lese kurz ein paar Sätze auf verschiedenen Internetseiten und entscheide mich dann schnell für Lebensfreude, Vitalität und Energie. Blau ist mir definitiv zu ruhig und ich bin absolut und unumstritten der festen Überzeugung, dass mein achtzehnter Geburtstag – oder irgendein anderer achtzehnter Geburtstag – kein ruhiger Anlass sein braucht. Alles klar, Rida, wir rocken das heute.

    Ich halte mir das rote Stück Stoff, denn mehr als das ist es wirklich nicht, an den Körper und betrachte mich im Spiegel. Meine langen, dunkelbraunen Haare reichen mir mittlerweile fast bis zum Hintern. Ich werde sie offen tragen, denn die Leute mögen es, wenn ich das tue.

    Doch der Blick in den Spiegel verrät mir heute nicht nur etwas über die Länge meiner Haare. Nein, heute sehe ich so viel mehr darin. Ich sehe mich anders. Ich sehe fast schon durch mich hindurch. Irgendwas ist ungleich und diese Tatsache macht mir Angst.

    Doch ich weiß mich schnell abzulenken. Ich frage mich, wie Lisaj aussehen wird. Meine beste Freundin, die mich seit der ersten Klasse Tag für Tag begleitet. Ich frage mich, ob ihr in ihren 15-Zentimeter Hacken erneut alle Herren der Schöpfung hinterher rennen werden. Sie tun es immer, denn der Engel mit den blonden Locken kann jeden um den Finger wickeln. Ja, sogar mich.

    Lisaj ist die Schwester, die ich nie hatte. Die Zwillingsschwester genau genommen, denn – wie der Zufall es will – haben wir am selben Tag Geburtstag.

    Klar, dass wir da die wichtigste Party unseres Daseins gemeinsam feiern. Das ist ja wie ein unausgesprochenes Selbstverständnis – für uns und unsere Freunde. Sie erwarten eine riesige, hammermäßige Party und genau die würden wir ihnen definitiv geben. Zweihundertvierunddreißig geladene Gäste, gemietete Räumlichkeiten eines alten Fabrikgebäudes zwei Straßen weiter und nur noch zwei Stunden und fünfundfünfzig Minuten.

    Und ich weiß, dass diese Party anders enden wird, als wir es erwarten.

    Ich weiß nur noch nicht wie.

    Lisaj und Papa warten draußen am Auto auf mich, sodass wir gemeinsam die letzten Getränkekisten rüber fahren können. Außerdem fehlt es unserem Partyraum noch an Dekoration.

    Die Gesichtsausdrücke der beiden Personen, die da auf mich warten, sind ein purer Gegensatz an sich. Während meine Freundin freudig lächelt, sieht Papa entnervt in meine Richtung. Er hasst es, dass wir diese Party feiern. Vor ein paar Wochen habe ich mühsam einen Haufen Überzeugung ausgraben müssen, um meinen Eltern – primär Papa – erklären zu müssen, wie wichtig diese Party für mich ist. Und verdammt, sie ist mir wirklich wichtig.

    Als ich die wenigen Treppen unserer Veranda nach unten nehme und zu ihnen renne, fällt mir Lisaj um den Hals.

    „Na, alles klar? Aufgeregt?", sagt sie in ihrer lieblichen Klangfarbe.

    „Ach, geht.", lüge ich lächelnd und entwinde mich schnell ihrer Umarmung, bevor sie meine Lüge entlarven kann.

    Irgendwas in der Luft zwischen und um uns kribbelt eigentümlich, doch ich gebe mir keine Mühe herauszufinden, was das ist.

    Die gesamte Autofahrt über schweigen wir. Ich würde zwar liebend gern mit Lisaj über die bevorstehende Party sprechen, aber ich halte Papa weitestgehend davon ab mit uns in ein solches Gespräch zu steigen.

    Die Liebe zu meinen Eltern ist unendlich. Sie passt in keine Beschreibung dieser Welt, aber doch ist es oft genug so, dass ich mich wie eine richtig miese Tochter fühle. Sie hätten was Besseres verdient, eine bessere Kopie meiner Selbst, die zu ihnen passt, aber in all meiner Komplexität erkenne ich nicht, wie ich etwas an mir ändern kann.

    Ich lüge sie sogar an. Sie haben zum Beispiel keine Ahnung, wie viel Alkohol in dem Fabrikgebäude tatsächlich versteckt ist. Doch Alkohol bleibt auf ewig ein Streitpunkt und geht zu einhundert Prozent auch die tollsten Eltern dieser Welt nichts an.

    Ich fühle mich also auch in diesem Moment, neben ihm im Auto, wie die richtig miese Tochter, die ich nun mal zu sein scheine, aber Mama und Papa würden die Wichtigkeit der Menge niemals verstehen. Demnach bin ich praktisch mehr als gezwungen sie anzulügen und darf nicht daran denken. Jetzt ist die Party wichtig. Ich bin in diesem Moment wichtig, oder nicht? Die Party, ich und die Tatsache, dass am Tag danach jeder darüber reden wird. Perfekt.

    Ups, offensichtlich bin ich nicht nur eine richtig miese Tochter, sondern auch ein absolut fragwürdiger Mensch. Halleluja, was ist denn heute los in meinem Kopf?

    Nach wenigen Minuten Fahrzeit erreichen wir das Fabrikgebäude. Wir steigen aus dem Auto in die frühabendliche Sonne hinein. Papa wartet nicht lange und geht als erster durch die große, hohe Tür ins Gebäude. Die graue Außenfassade ist von unzähligen Lichterketten und bunten Girlanden bedeckt. Kurz versinke ich in die funkelnde Atmosphäre.

    Ich sehe wie Papa außer Hörweite gerät, dann drehe ich mich schlagartig zu Lisaj und sehe sie bittend an. „Das muss eine unvergessliche Nacht werden, ja?"

    Ihr Lachen hallt unsicher in meinem Bewusstsein. „Hast du etwa Zweifel daran?"

    Daraufhin zucke ich bloß leicht mit den Schultern und schlucke. „Nein, eigentlich nicht. Ich habe nur ein komisches Gefühl."

    „Du hast ganz oft komische Gefühle., neckt sie mich. „Komm schon, beruhig dich.

    Doch sie versteht es nicht. Meine beste Freundin versteh mich nicht. Den ganzen Tag über habe ich bereits wie hinter Nebel gelebt. In der Magengegend hat mich ein seltsames Gefühl heimgesucht und nicht mehr losgelassen. Meine typische Gelassenheit trage ich am heutigen Tage nicht bei mir und ich weiß auch nicht, wann sie vorhat mich wieder Heim zu suchen.

    José, unser schwuler Freund und Barkeeper des heutigen Abends, steht bereits hinter der Theke. Galant springt er über diese auf unsere Seite. Dabei ist seine Hose viel enger als all meine Hosen zusammen und die Möglichkeit ausführender Turnaktivitäten scheint gegen Null zu laufen, doch er sieht dabei trotzdem gut aus. Unfair.

    „Habt ihr über Nacht euer Modebewusstsein verloren? Das hier ist eine Party, keine Sonntagspredigt.", sagt er lachend. José kann immer und überall viel erzählen, aber er ist ein Mensch-gewordener positiver Hafen. Ich habe ihn verdammt gern.

    Er ist mehr als einen Kopf größer als ich und überragt sogar meinen Papa. Ich kann mir ein Leben ohne ihn und Lisaj nicht vorstellen, aber in so vielen stillen Momenten meines jungen Lebens sucht mich genau diese Angst Heim. Wieso ist sie am heutigen Tage derart groß? Als José den Arm um meine Schultern legt, fühle ich mich wie ein kleines Kind. Bevor er mit Papa die Getränkekisten schleppen geht, gibt er uns noch schnell freundliche Anweisungen.

    „Die Technikmenschen haben mich grade angerufen. Die sind in zwei Minuten da. Rida macht ihnen die Hintertür auf, während Mr. Devaney und ich wie zwei richtige Männer Kisten schleppen gehen. Lisaj, du wartest hier."

    Als wir ihn etwas kritisch ansehen, fährt er seine kurze Rede fort. „Mädels, jetzt hört auf euch so einen Kopf zu machen. Das ist nur eine Party und ich habe alles im Griff., erklärt er gelassen. „Ihr müsst nur tanzen und gut aussehen. Das könnt ihr doch an den anderen 364 Tagen des Jahres auch, also hört auf Onkel José und tut, was er euch sagt. Damit drückt er mir die Schlüssel in die Hand und verschwindet im Galopp aus dem Raum. Und ich meine wirklich im Galopp. Er ist so verrückt.

    Als ich seine Anweisung befolgen möchte, merke ich, dass die Hintertür klemmt. Und obwohl an Josés Schlüsselbund gerade mal magere drei Schlüssel hängen, werden sie mir zum Verhängnis. Ich finde den richtigen nicht auf Anhieb und tue mich schwer. Kaum habe ich nicht aufgepasst, schwingt die Tür im nächsten Moment schnell und unkontrolliert auf. Ich kann sie nicht aufhalten und dann ist es bereits passiert.

    „Oh.", sage ich erschreckt, als sie unbequem mit einem dumpfen Geräusch gegen den Arm eines kleines Mannes knallt und an ihm abprallt.

    Der Mann schreit auf und hält sich den Arm fest. Er hat einen vernichtenden Blick aufgesetzt, seine buschigen Brauen ziehen sich zusammen und dann fällt ihm die Kabeltrommel aus der Hand und entwindet sich die Straße runter. Erst bleibe ich vor Schreck angewurzelt stehen und weiß nicht, was ich tun soll, doch dann meldet sich mein Gehirn mit der glorreichen Idee zurück das Kabel aufzusammeln.

    „Tut mir leid., murmle ich mehrmals hintereinander und umlaufe den Mann, der aus dem Augenwinkel aussieht wie erst Ende Zwanzig trotz Kahlkopf. „Sorry, echt.

    Er reagiert nicht auf meine Worte, sieht mich bloß durch zusammengekniffene Augen böse an und hält sich immer noch den Arm.

    Fängt ja gut an, denke ich. Es ist bestimmt von Vorteil den Tontechniker noch vor der Party außer Gefecht zu setzen. Ich brodle innerlich und renne viel zu hektisch dem Kabel hinterher, bis ich schlussendlich fast sein Ende erreiche. Ich hocke auf der Straße und muss kurz später bemerken, wie die Sonne verschwindet und ich im Schatten einer zweiten Person stehe. Nein, eigentlich knie ich in seinem Schatten.

    Abrupt blicke ich hinauf. Dann sehe ich in hübsche, schlanke Hände, die das Ende des Kabels samt Trommel halten und ich sehe in ein Gesicht mit strahlend himmelblauen Augen und einem süßen, verwirrten Lächeln.

    „Alles okay bei dir?" Seine Stimme dringt ganz deutlich in mein Ohr. Es ist eine klare, feste Stimme, die mich fast hypnotisiert. Ich hocke noch immer vor dem Jungen mit den dunkelblonden Haaren und versuche zu nicken, aber irgendwelche wichtigen Funktionen meines Gehirns setzen aus. Irgendwas an ihm lässt mich inne halten, lässt mich anders atmen und dann schüttle ich schnell benommen den Kopf. Halleluja, Rida, chill mal.

    „Hast du dir wehgetan?", will er weiter wissen und sieht mich fragend an. Seine Stirn runzelt sich in schmale, regelmäßigen Falten — so, als wären sie gezeichnet.

    „Ne, ne., sage ich leise und erinnere mich daran, dass ich mich zu erheben habe. „Ich habe die Tür… Sie ist aufgeschwungen.

    Dann richte ich mich endlich auf und lasse die blauen Augen vor mir nicht mehr los. Meine Bewegungen werden vollständig gehemmt. Ich bemerke den Blaumann, den er trägt. Somit gehört er also zu dem Kahlköpfigen, der im nächsten Moment unerwartet neben uns steht – noch immer den bösen Blick aufgesetzt.

    Flucht ist an dieser Stelle wohl das richtige Stichwort, aber meine Beine spielen leider nicht mit. Sie heften sich wie Kaugummi an den Boden. Und meine Augen an das Gesicht des Jungen. Was ist denn mit mir los?

    „Entschuldigung., beginne ich hektisch und sammle mich langsam wieder. „Das war keine Absicht, ich hatte bloß Schwierigkeiten mit der Tür., versuche ich mich zu erklären und stolpere über meine eigenen Worte.

    „Schon okay.", schnauft der Kahlkopf verächtlich und sieht mich nicht weiter an. Unsicherheit legt sich in mein Handeln. Mein Gegenüber, der deutlich Jüngere von beiden, der mit diesen wahnsinnigen Augen, sieht mich noch immer solcherart seltsam an.

    „Ihr müsst die Techniker sein., stelle ich mit peinlicher Verspätung fest. „Ich wollte euch die Tür aufmachen.

    „Das hast du geschafft.", sagt der Ältere schnell.

    Die Situation ist irgendwie verwirrend. „Ich bin übrigens Rida." Dann halte ich ihm das Kabelstück hin und versuche zu lächeln.

    „Na, dann Rida, zeig uns mal, wo wir hin müssen." Sein Tonfall erklärt mir, dass er meine Entschuldigung nicht annehmen will und es auch in naher Zukunft nicht wird. Ich nicke schließlich lediglich vor mich hin und belasse es dabei. Daraufhin dirigiere ich die beiden in den Partyraum und bin froh Lisaj zu entdecken.

    Sie reicht beiden die Hand und stellt sich höflich vor. Ihr Blick bleibt beeindruckt an dem dunkelblonden Jungen hängen, aber das ist ihr bei diesem Anblick auch einfach nicht zu verdenken. Alles klar, ab hier übernimmt definitiv sie und vielleicht ist das auch besser so. Ich muss derweilen mein klares Denken wieder auf Vordermann bringen.

    „Pete Becker., stell mein Türopfer sich vor. „Das ist Niro. Er zeigt auf den Jungen, der Lisaj freundlich anlächelt. Keine Ahnung wieso, aber etwas zieht sich in mir zusammen. Kann er nicht vielleicht wieder mich ansehen? Ich merke, wie ich zu spinnen beginne und reguliere schnell meinen Atem.

    Niro. Das ist ein hübscher Name.

    „In zwei Stunden sollte alles so weit stehen., erklärt Lisaj. „Das DJ-Pult soll hier hin, die Musik muss die gesamte Etage erfüllen. Um eure Bezahlung kümmern wir uns morgen früh beim Abbau, richtig?

    Pete nickt und würdigt mich weiterhin keines Blickes. Das war ein Versehen, verdammt nochmal! Er und Niro lassen uns im Zentrum des Raumes stehen und vertiefen sich schnell in ihre Arbeit. Ich sehe ihnen kurz hinterher, natürlich viel eher Niro als Pete und bin abgelenkter, als ich zugeben mag.

    Zeitgleich kommt José mit zwei Kisten Cola herein. „Das sind die letzten. Es ist vollbracht, Ladies."

    Hinter ihm steckt Papa den Kopf durch die Tür. „Rida, ich fahre jetzt wieder. Sollte noch etwas sein, könnt ihr mich anrufen. Bis später."

    Ich laufe zu ihm und drücke ihn kurz. „Danke. Bis gleich.", sage ich schlicht.

    „Benehmt euch, ja?" Sein Blick versucht sich in mein Gewissen zu bohren, aber ich verschließe jegliche Wege dorthin. Dennoch nicke ich und weiß ziemlich genau, dass ich das nicht ernst meine.

    Der Raum gewinnt zunehmend an Atmosphäre und mit jedem Herzschlag ergreift die Freude in mir Überhand, obwohl am Rand doch versteckt ein fader Beigeschmack bleibt, den ich mit keinem positiven Gedanken dieser Welt wegspülen kann. Lisaj und ich sind mucksmäuschen still, als ich die weißen Stehtische in allen Ecken mit einer Tischdecke versehe und sie und José die Decke mit fallenden Girlanden bekleiden. Eine große pinkfarbene 18 aus glänzendem Papierstoff klebt die Thekenwand zu und dann ruft Lisaj meinen Namen.

    „Sieh dir das an. Ist das nicht der Wahnsinn?"

    Ich stehe am anderen Ende des Raumes und drehe mich zu ihrer quiekenden Stimme um.

    „Das ist richtig schön geworden.", sage ich mit einem milden Lächeln im Gesicht. Ich weiß nicht, ob ich es wirklich richtig schön finden soll. Es ist, als habe ich keine Meinung zu der Zahl dort oben, obwohl es genau das ist, worum es hier überhaupt geht. Dennoch verschwimmt meine Gleichgültigkeit in dem Pink vor mir. An jedem anderen Tag hätte ich meiner besten Freundin kreischend zugerufen, wie toll sie war, das hinbekommen zu haben, doch heute… Vielleicht bin ich krank? Vielleicht habe ich mich auf dem Weg hierher irgendwo verloren. Ich muss eine Aspirin schlucken, wenn ich zu Hause bin. Definitiv. Am besten noch etwas stärkeres.

    Lisaj scheint nichts von meinem Kranksein zu bemerken und verschmilzt wieder in das Gespräch mit José. Das komische Gefühl bleibt aber wie Sekundenkleber an mir heften. Heute ist ein Tag, der von Gegensätzlichkeit erfüllt ist. Es ist seltsam wie genau ich das spüre.

    „Wow, das ist ganz schön pink." Eine Stimme neben mir reißt mich mit einem Mal aus dem kleinen Gedankengang. Ich sehe zu Pete hinauf und ziehe fragend eine Augenbraue in die Höhe.

    Er schwingt lässig einen Schraubenzieher in der Hand und betrachtet die Papier-Achtzehn. „Ich mein, ist das hier so ein Mädchen-Sleepover oder werden auch männliche Gäste anwesend sein? Bei dem Anblick weiß ich nämlich wirklich nicht, wie lange die es hier aushalten werden."

    „Keine Sorge, es sind nur weibliche Gäste geladen.", grinse ich ihn sarkastisch an und rolle mit den Augen. Dieser Mann treibt mich mit seiner alleinigen Anwesenheit in den Wahnsinn. In diesem Leben werden wir keine Freunde mehr. Im nächsten und übernächsten aber auch nicht. Dafür würde ich höchstpersönlich für sorgen.

    „Schade, ich wollte fragen, ob ich noch länger hier bleiben darf., sagt er und lacht hässlich. „Um mir euren Kindergarten anzusehen. Pete muss in schlechten Witzen gebadet haben. Wahrscheinlich tut er das jeden Tag.

    „Hast du nichts zu tun?", fahre ich ihn barsch an und rolle die übrig gebliebene Tischdecke verärgert zusammen.

    „Doch, ich muss arbeiten.", sagt er schulterzuckend und entblößt stolz seine gelben Zähne.

    „Dann geh.", schnaube ich verärgert. Was ist bloß los mit ihm? Über Petes Schulter hinweg sehe ich Niro schief lächeln und ärgere mich gleich noch viel mehr über den Tonfall, den ich benutze. Wahrscheinlich hält er mich für eine Zicke. Wahrscheinlich bin ich eine. Obwohl ich immer versuche es nicht zu sein. Oder versuche ich das gar nicht? Oh, verdammt.

    „Hey, Pete., pfeift Niro seinen Kollegen zu sich. „Ich brauch dich hier mal dringend.

    Niros und mein Blick treffen sich für zwei Millisekunden, aber dann drehe ich den beiden den Rücken zu und marschiere zu meinen Freunden. Manchmal aber reichen zwei Millisekunden vollkommen aus um zu wissen, dass etwas ganz anders ist. Aber ich neige wahrscheinlich einfach zu gerne zur Überinterpretation. Am besten mache ich mir sowieso keine Gedanken über ihn. So wie der aussieht hat der nicht nur eine Freundin.

    Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie intensiv genug darüber nachgedacht, welchen Eindruck ich bei Menschen hinterlassen, wenn sie mich zum ersten Mal sehen und als Lisaj und ich ein paar Augenblicke später auf dem Weg nach Hause sind, fange ich an, die Leute auf der Straße nach dem ersten Eindruck zu charakterisieren. Bei meinen Gedanken werde ich nachdenklich.

    Das Mädchen auf der Bank ist schlau, sagen meine Gedanken. Schlau, weil sie eine Brille trägt und nachdenklich schaut und das tun schlaue Menschen oft und in ihrem großen Rucksack sind sicherlich 36 Chemiebücher verstaut. Ich glaube, sie studiert Chemie.

    Die schnell gehende Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat reich geheiratet, sagen mir ihr Lacoste-Shirt und die Louis-Vuitton-Tasche. Sie ist ziemlich eingebildet und arrogant. Als sie plötzlich eine alte Frau nett begrüßt, schämen sich meine Gedanken und ersetzen die Adjektive.

    Der pickelige Junge, der beim Vorbeigehen taktlos und unverschämt meinen Arm streift ist sowas von ungeküsst und spielt den ganzen Tag Videospiele.

    Meine Gedanken rollen ohne Halt durch die Gegend und meine Vorurteile fallen wie Regentropfen viel zu leicht von meinen Schultern. Plötzlich stoppe ich. Ich bleibe mitten auf dem Gehweh stehen, atme tief aus und drehe mich zu dem Jungen um.

    Sorry, denke ich. Das war nicht so gemeint, du bist sicher super.

    Ich beiße mir auf die Lippe. Was stimmt heute nicht?

    Lisaj zupft an meinem Ärmel. „Rida., flüstert sie. „Alles okay?

    Ich halte mir eine Hand gegen die Stirn. „Ja.", sage ich.

    Nein, denke ich. „Hast du dich schonmal gefragt, ob wir nett aussehen?", formuliere ich dann plötzlich. Wir stehen noch immer mitten auf dem Gehweg.

    „Wir sehen fantastisch aus, nicht nett." Sie schwingt ihre blonden Locken über ihre rechte Schulter. Diese Geste scheint meilenweit von mir entfernt zu sein, obwohl ich sie doch nahezu jeden Tag sehe.

    „Nein, ich meine im Sinne von freundlich., erkläre ich ihr. „Glaubst du, die Leute finden uns freundlich, wenn sie uns sehen?

    Sie zuckt mit den Schultern. „Das ist mir doch egal."

    Ich schlucke bei der Härte ihrer Aussage. Ich weiß nicht, wie egal mir das plötzlich ist. Wir setzen unseren Gang fort und schweigen über das Thema. Und vielleicht ist das auch besser so.

    „Schau mal., sagt sie wenige Sekunden später. „Lies, was da steht!

    Ein großes Werbeschild einer Automarke lächelt uns entgegen.

    Wünsch dir das, was dich ans Ziel bringt. Die neue Gwen an deiner Seite.

    „Wie kann man ein Auto bloß Gwen nennen?" Sie versucht mir verzweifelt ein Lächeln zu entlocken, aber sie scheitert. Ich starre das Plakat bloß mit großen Augen an und entdecke die Botschaft, die tatsächlich dahinter steckt. Die Botschaft, die mir persönlich gewidmet ist.

    „Wie kann man sich bloß etwas wünschen, das nur einen selber ans Ziel bringt?", ist damit meine unerwartete, barsche Antwort darauf.

    Lisaj überlegt und lächelt kurz. „Es ist ein Viersitzer, genau genommen bringt es also auch drei weitere Leute ans Ziel." Dann knufft sie mich in die Seite, woraufhin ich schnell und seltsam nach ihrem Handgelenk greife und nicht ganz sanft ihre Hand finde.

    „Überleg doch mal., spreche ich im ernsten Tonfall. „Du ohne mich, ich ohne dich. Das geht nicht. Ich hab dich doch lieb, Lisaj. Pause. Dann: „Wir werden morgen achtzehn, aber an unserer Freundschaft wird sich nichts ändern, richtig? Gar nichts. Wenn wir dann irgendwann innerhalb diesen Jahres unseren Wunsch einlösen, dürfen wir niemals nur an uns denken. Wir müssen einen gewissen Grad der Selbstlosigkeit aussprechen, das hat selbst unsere Grundschullehrerin immer schon gesagt. Ich komme niemals an mein Ziel, wenn ich alleine gehe." Ich halte inne und muss tief ein- und ausatmen.

    Lisajs Stirn runzelt sich im Schneckentempo. „Wir dürfen nicht über den Wunsch sprechen.", sagt sie schlicht, schweigt dann und verformt ihre Lippen zu einem einzigen Strich. Vielleicht ist ihr Schweigen die beste Antwort auf meinen peinlichen Monolog. Ich drücke kurz ihre Hand, dann lasse ich sie los.

    Mama und Papa sind in der Küche, als ich das Haus betrete. Ich laufe zu ihnen und bleibe im Türrahmen stehen. „Ich werd mich jetzt umziehen, dann hau ich ab."

    „Braucht ihr noch etwas?", fragt Mama schnell.

    Ich schüttle den Kopf und bleibe lange angelehnt am Türrahmen stehen. „Sehe ich blass aus? Kannst du vielleicht deine Hand auf meine Stirn legen und mir sagen, dass ich Fieber habe?", frage ich und lache plötzlich unangebracht laut.

    „Soll ich dich etwa ans Bett fesseln und nicht auf die Party des Jahrhunderts lassen?" Papa imitiert meine Stimme, als es um die Party des Jahrhunderts geht, und beißt angesäuert in sein Brot.

    „Vielleicht.", gestehe ich schließlich und kaue auf meiner Unterlippe.

    „Hau schon ab, Rida. Sowas lass ich mir nämlich nicht zwei Mal sagen."

    Ich will grade gehen, da fällt mir noch eine Sache in den Sinn. „Ich nehme den Schlafsack aus der Garage mit. Ihr wisst ja, dass wir da bleiben wollte. Die Techniker werden gegen neun Uhr kommen. Ich rechne mal damit, dass ich inklusive Aufräumen um elf wieder hier bin."

    Mama gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Viel Spaß euch. Genießt den Abend."

    „Schlaft gut.", sage ich und renne in mein Zimmer. Ich springe schnell in die Dusche und schließe unter dem heißen Wasser meine Augen.

    Das wird super, super, ganz super…

    Und auf einmal weiß ich, dass es das nicht wird.

    Ich schlüpfe ins kurze, rote Kleid, setze mich an meinen Schminktisch und vollziehe meine täglichen Schminkschritte, die mir in diesem Moment unfassbar auf meine jungen Nerven schlagen.

    Make-Up, Puder, Concealer, Rouge, zu lang gezogener schwarzer Lidstrich, Wimperntusche, dunkelroter Lippenstift.

    Ich betrachte mein Ergebnis lange und anhaltend im Spiegel. Ich werde erwachsen und fühle mich dennoch nicht bereit dazu. Vielleicht bin ich ja auch gar nicht bereit und brauche noch ein paar Jahre der Sorglosigkeit und Unschuld und Geborgenheit.

    Der Wind bläst schlagartig meine Haare gewaltig zur Seite und ich schrecke hoch. Als mein Blick zu meinem Fenster gleitet, ist es weit aufgerissen. Ich erinnere mich nicht daran, es aufgemacht zu haben und gehe schnellen Schrittes durch mein Zimmer und schließe es zu. Meine Hand verharrt lange auf dem Fenstergriff und ich sehe durch zusammengekniffene Augen hinaus.

    Warum rast mein Herz? Vielleicht sollte ich anfangen an Geister zu glauben, an unsichtbare böse Menschen oder einfach an die Lüge, dass ich das Fenster aufgemacht habe. Ja, ich habe es bestimmt total geistesabwesend aufgezogen.

    Ein letzter Blick fällt in den Spiegel – ich trage einen Umhang der Gänsehaut.

    Zwei

    Lisaj kommt zu spät, aber damit habe ich gerechnet. Sie stöckelt mir in die Arme und bleibt zur Begrüßung nicht stehen. Sie sieht genauso toll aus wie ich erwartet habe.s

    „Los, los.", lächelt sie mich an.

    Als wir das Haus weit hinter uns lassen, greift sie in ihre Jackentasche und nimmt ein kleines Päckchen heraus. Es ist ordentlich in rotes Papier gewickelt und mit einer kleinen goldenen Schleife geschmückt.

    „Wir wollten uns nichts schenken.", sage ich schnell und starre auf das kleine Päckchen in ihrer Hand, was sie nun in meine drückt.

    „Ich weiß, es ist nur eine Kleinigkeit. Aber denk dran, dass du es erst morgen aufmachen darfst."

    Ich nehme es an mich und betrachte es mit einem ehrlichen Lächeln, bevor ich es in meine Jackentasche gleiten lasse. „Ich habe auch etwas für dich."

    Ich entnehme der Innenseite meiner Jacke einen Briefumschlag und schaue hinab auf den schnörkelig geschriebenen Namen meiner Freundin. Es sind zwei Karten ihrer Lieblingsband, die in vier Wochen einen der wenigen Auftritte diesen Jahres in Sheffield hinlegt. Es tut gut einen Eventmanager als Vater zu haben

    „Hier., sage ich und gebe ihr den Umschlag. „Morgen aufmachen.

    „Du bist so süß., sagt sie lächelnd. „Ah, bevor ich es vergesse, ich hab noch was.

    „Noch was?"

    Schmunzelnd beobachte ich wie sie in die Tasche auf der anderen Seite greift und zwei kleine Fläschchen Likör hervorzaubert. Sie schaut über ihre Schulter und erklärt, dass uns keiner sieht und wir nun den Abend einweihen müssen.

    „Auf uns und den Abend und das neue Lebensjahr, in das wir starten werden."

    Ich schraube den Deckel ab und danke ihr verhalten. „Auf uns."

    Dann kippen wir uns das eklige Zeug mit einem Anlauf in den Rachen und erreichen endlich das Fabrikgebäude. Sobald wir unser Bewusstsein in Nebel gelegt haben, wird das schon. Das denken wir. Und langsam zweifle ich an unsrer Intelligenz.

    Am Eingang erkenne ich Lisajs Freund Trick und seinen besten Freund Lio augenblicklich. Sie unterhalten sich aufgebracht mit einem Mann, der am Boden sitzt. Das Geschehen vor mir ist verwirrend, sodass ich erst nah genug heran gehen muss, um zu erkennen, was passiert.

    Der Mann, der im Schneidersitz auf dem Boden vor Trick sitzt, trägt dreckige, zerlumpte Kleider. In seiner linken Hand hält er ein Stück Brot und schaut verängstigt zu Trick hinauf. Ein unangenehmer Geruch, eine Mischung aus Altem und Alkohol, steigt in meine Nase, als ich unmittelbar vor ihnen stehe. Er wird vermutlich obdachlos sein.

    „Was ist hier los?", frage ich erschrocken.

    „Die Hohlbirne soll verschwinden., gibt Trick wütend von sich. „Was fällt dem ein hier zu sitzen?

    „Beruhig dich doch mal.", versuche ich vergeblich seine aufbrausende Art runterzuschrauben. Denn das ist es, was Trick grundsätzlich immer ist – aufbrausend, laut und wahrscheinlich viel zu cool für diese Welt. Lio könnte sein eineiiger Zwilling sein. Sie sehen beide gut aus, vor allem jetzt in ihren weißen Hemden, den Jeans und den schwarzen Fliegen um den Hals, aber es ist auch dieser eingebildete Blick, der manchmal jeglichen Funken Sympathie zerstören kann.

    „Wenn du dich jetzt nicht in drei Sekunden aus dem Staub machst, wird das blaue Auge, das ich dir verpasse, dein geringstes Problem sein." Trick geht noch einen Schritt auf den Mann zu.

    Dieser erhebt sich schließlich langsam und taumelt einen Schritt zurück. „Unfreundlicher Mensch.", murmelt er und greift ungeschickt nach seinem Rucksack. In mir keimt Mitleid auf, aber ich weiß noch nicht, ob es dem obdachlosen Mann oder Trick gebührt.

    „Verpiss dich jetzt." Trick schließt den Abstand zwischen sich und dem Obdachlosen und seine Faust umgreift schließlich das T-Shirt des Mannes kurz unterhalb seines Kinns. Der Obdachlose lässt vor Schreck versehentlich das Stück Brot fallen.

    „Lass dich nie wieder hier blicken.", gibt Trick von sich.

    „Okay, Trick, das reicht., werde ich plötzlich laut und drücke ihn weg von dem Mann. „Er ist doch dabei zu gehen.

    „Besser für ihn." Endlich lockert er den Griff und vergrößert den Abstand zwischen sich und dem Mann. Toller Partystart. Noch immer bin ich irritiert und unsicher. Ich weiß nicht, was ich zu tun habe.

    „Lisaj, schnapp dir jetzt bitte deinen Freund und geht rein.", sage ich mit fordernder Stimme. Ich sehe Lisaj kurz nicken. Sie greift nach Tricks Hand, bevor sie uns alleine lassen.

    Vielleicht fühle ich mich schuldig, weil das meine Party ist oder vielleicht steckt in mir einfach ein bisschen mehr gesunder Menschenverstand als in Trick. Der Mann hat niemandem etwas getan. Er wäre auch mit einer freundlichen Bitte woanders hingegangen. In mir breitet sich Wut, aber in gleichen Mengen auch Traurigkeit aus.

    „Alles in Ordnung bei Ihnen?" Ich höre einen ungewohnten Ton in meiner Stimme, während ich spreche. Er streicht sich das T-Shirt glatt und sieht mir kurz in die Augen. Er hat ein mit Falten besetztes Gesicht, dabei wette ich, dass er nicht so alt ist, wie er zu sein scheint. Ich habe noch mehr Mitleid, als er bitterlich nickt.

    Lio neben mir zündet sich eine Zigarette an und betrachtet uns schweigsam und grinsend. Ich bin ein Abbild dieser Leute, gegenüber welchen ich in diesem Moment enormes Ärgernis verspüre. Das sollte mir doch zu denken geben, oder etwa nicht? Wie kann ich etwas verabscheuen, das ich selber bin? Oder bin ich es nicht? Vielleicht rede ich mir auch nur ein, nicht so zu sein wie sie in diesem Moment.

    „Das grade eben tut mir leid. Ich…", beginne ich, doch er unterbricht mich und wiederholt ständig zwei Worte.

    „Ich gehe, ich gehe, ich gehe."

    „Ich…, beginne ich wieder unsicher. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.

    Dann drehe ich mich weg und schließe zu Lio auf, der mir sogleich ein süffisantes Grinsen schenkt. Ich habe es also nicht hinbekommen ihm mehr als einen schönen Abend zu wünschen. Wow, wirklich beeindruckend.

    „Warten Sie.", höre ich eine andere Stimme. Es erschreckt und verwundert mich zugleich, dass ich diese Stimme auf Anhieb erkenne, obwohl ich sie heute zum ersten Mal gehört habe. Niro tritt durch die Tür hinaus, ignoriert Lio und mich, steuert den Mann an und bleibt mit einem sicheren Abstand vor ihm stehen.

    „Alles okay bei Ihnen?" Seine Stimme gewinnt einen sanften Ton und dennoch gelingt es ihm nicht seine Aufgebrachtheit daraus zu löschen. Er muss mitbekommen haben, wie Trick mit ihm umgegangen ist.

    Niro und er sind ein paar Meter weit weg, ich kann kaum erkennen, was sie bereden. Niro wirkt sicher in seinem Auftreten, freundlich und nahezu beeindruckend. Ich sehe, wie ein Blick des Mannes auf das Brot am Boden fällt. Vielleicht ist es das einzige, was er zu essen hatte. Ich habe einen Kloß im Hals.

    Ich verstehe nicht, was Niro sagt und gehe einen Schritt auf sie zu, doch Lio hält mich zurück. Dennoch bekomme ich mit, wie er sich als Olaf vorstellt und zaghaft ein Lächeln auf die Beine stellt. Schüchternheit umgibt ihn, aber mit irgendwas scheint Niro ihn einzunehmen.

    In Olafs Augen glitzert es kurz.

    Dann wendet Niro sich unerwartet an mich, kommt einen Schritt näher und ändert seine freundliche, zuvorkommende Miene in eine erzürnte. „Dürfen wir zumindest durchs Gebäude zum Hinterausgang?"

    Ich nicke schnell und wippe unsicher auf meinen Beinen. „Ja, klar, natürlich. Ich komme mit."

    Niro dreht sich schneller von mir weg als ich gucken kann. Er tritt über die Türschwelle hinein, während Olaf ihm tatsächlich unsicher folgt.

    „Schneewittchen, was machst du da?" Lio sieht mich mit gerunzelter Stirn an und versucht erneut mich aufzuhalten, doch dieses Mal entwinde ich mich seines Griffes und folge Niro und Olaf hinein. Lio zuckt mit den Schultern, zieht kräftig an seiner Zigarette und bleibt an meiner Seite.

    Sie nennen mich alle Schneewittchen. Wegen meines dunklen Haars, meiner blassen Haut und meiner Jeden-Tag-Rote-Lippen-Phase vor einem Jahr. Ich finde es unter normalen Umständen schön, wenn sie mich so nennen, aber zum ersten Mal stört es mich gewaltig. Ich bin höchstens Schneewittchens Stiefmutter.

    Ein blauer Van, den Niro ansteuert, parkt am Straßenrand am Hinterausgang. Pete sitzt bereits darin und tippt auf den Bildschirm seines Smartphones, als plötzlich sein Blick hochschnellt und er irritiert auf die Konstellation an Leuten vor dem Auto sieht. Niro öffnet die Hintertür des Wagens und bittet Olaf hinein.

    „Ich vertraue einfach.", sagt Olaf leise und gedankenverloren. Dann steigt er ein.

    „Wir sind in 10 Minuten da. Mich interessiert, wie es Ihnen gefallen wird." Niros Stimme wird von einem positiven Faden durchzogen, als er zu Olaf spricht. Dieser nickt bloß, während seine Hände unkontrolliert zittern.

    „Wohin fährst du ihn?", frage ich leise, als Olafs Tür sich schließt und er sich in dem Van interessiert umschaut.

    „Zu einem Obdachlosenheim. Er hatte aufgeschürfte Hände, er kann dort verarztet werden und was essen. Dann darf er sich entscheiden, ob er bleibt oder geht. Das bieten wir allen Obdachlosen in der Stadt an."

    Ich werde aus zweierlei Gründen traurig. Zuerst, weil mir Olafs verletze Hände gar nicht aufgefallen sind und dann aufgrund von Niros Art mit mir zu sprechen. Während ich ihn irgendwie gekränkt anschaue, sehe ich, wie er mich von oben bis unten betrachtet. Ich öffne den Mund um etwas zu sagen, schließe ihn aber schnell wieder. Ich zupfe mein Kleid runter, weil mich plötzlich der Gedanke packt, wie kurz es eigentlich ist. Ich mache den Reißverschluss meiner Jacke zu und verschränke die Arme vor der Brust. Ich will nicht, dass er geht und das ist verdammt seltsam.

    „Ich dachte, du bist Techniker.", sage ich also und zwinge ihm ein Gespräch auf.

    Seine Mundwinkel zucken. „Das ist nur ein Nebenjob."

    „Und die Geschichte mit den Obdachlosen?", frage ich weiter.

    „Ehrenamt. Ich studiere sonst." Sein Tonfall ändert sich mir gegenüber nicht. Er macht die Fahrertür auf und steigt ein.

    „An der State?", frage ich schnell. Er nickt und schließt mit einem Ruck die Autotür. Das Fenster ist zum Glück geöffnet, er zieht eine Augenbraue in die Höhe.

    „Warum bist du denn jetzt böse auf mich?", frage ich verärgert und ehrlich. Ich würde gerne noch einmal den lachenden Unterton in seiner Stimme hören.

    „Ich bin nicht böse auf dich.", sagt er seufzend und schüttelt verständnislos den Kopf.

    „Du kannst jetzt nämlich nicht böse auf mich sein. Ich hab morgen Geburtstag.", kommentiere ich weiter.

    „Na dann, herzlichen Glückwunsch." Er dreht den Schlüssel im Zündschloss und der Motor heult auf.

    „Ey, das bringt Unglück. Nimm das zurück.", sage ich erschrocken.

    Er dreht den Kopf ein letztes Mal in meine Richtung. „Hör mal, Rida, was genau willst du jetzt eigentlich von mir?"

    Er hat sich meinen Namen gemerkt, denke ich und überspiele den unfreundlichen Satz seinerseits. „Ich wünsch dir einen schönen Abend, Niro."

    Er nickt Lio und mir zu, fährt das Fenster hoch und lässt uns gefühlt in der Staubwolke des Vans zurück.

    „Was war das denn für ein Vogel?", holt Lio mich aus meinen Gedanken.

    Ich sehe kritisch zu ihm rüber. Auf einer Party letztes Jahr hat Lio mich geküsst und ich habe keine Anstalten gemacht ihn davon abzuhalten. Wir waren zu viert dort - Lisaj, Trick, Lio und ich und dann kam eins zum anderen. Wir haben getanzt und getrunken und uns mitten auf der Tanzfläche geküsst. Ich bin oft unschlüssig, ob ich das bereuen soll. Zumindest ist es mir gegenwärtig peinlich und jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, dann scheint dieser Moment in meinem Gehirn aufzukeimen. Er hat nach diesem Abend dutzende Male bitterlich versucht seine Lippen noch ein zweites Mal auf meine zu legen, aber ich habe es nie wieder zugelassen und mitgespielt. Zum Glück.

    Lio reicht mir seine Zigarette. „Jetzt holst du tief Luft und entspannst dich."

    Ich sehe über meine Schulter und vergewissere mich, dass der blaue Van wirklich weg ist. Dann umhüllt der Zigarettenrauch mich und meine Gedanken und ich ziehe an Lios Zigarette. Ich bin schon immer ein zwiespältiger Mensch gewesen, doch in diesem Augenblick wird es mir zum ersten Mal richtig klar.

    Die ersten Gäste trudeln ein, die ich lächelnd begrüße und umarme, José mixt die ersten Getränke und unsere drei Thekenkräfte verteilen diese. Der DJ winkt mir zu und spielt einen Partysong nach dem anderen.

    „Rida.", kreischt eine Stimme neben mir. Celine, eine Kindergartenfreundin, fällt mir um den Hals und gesellt sich zu mir. Wir reden, wir trinken und die Gäste neben mir wechseln minütlich. Der Raum wird voll, die Musik lauter, der Durst steigt. Lisaj ist inmitten der Tanzfläche und umzingelt von viel zu vielen Leuten, doch ich schlängle mich zu ihr durch und wirble mit den Händen in der Luft. Sie freut sich mich zu sehen, tanzt noch mehr um sich und mit Trick und so verläuft der gesamte Abend.

    Wir kippen uns zu. Einer mehr als der andere. Wir lassen die Musik in unsere Ohren dröhnen. Lio kommt mir regelmäßig gefährlich nahe, aber ich halte so gut es geht Abstand. Irgendwann stelle ich ihm Celine vor, die sich hier etwas verloren vorkommt. Lio und sie verstehen und beschäftigen sich blendend. Ich genieße die Unbeschwertheit trotz des komischen Tages und versuche mich auf die Lieder einzulassen. Aber es klappt nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Den rund zweihundert Gästen scheint es gut zu gehen, keiner beschwert sich, der erste hat bereits gekotzt, aber mein eigener Kopf scheint keine Nerven für dieses Spektakel übrig zu haben.

    Vielleicht heißt achtzehn werden auch einen anderen Blick auf die eigentlich alltäglichen Dinge werfen. Vielleicht heißt diese Zahl, dass man sich automatisch verändert – eine magische Grenze. Doch wenn ich mich verändere, warum bleibt Lisaj die gleiche Person? Wieso merkt sie nicht auch, dass etwas anders ist? Ich lehne mich mit einem Becher Bier an eine Säule am Rand der Tanzfläche und betrachte minimal benebelt das Geschehen. Ich kenne mehr als die Hälfte der Gäste nicht und frage mich, ob mich diese Tatsache verunsichern oder gar ärgern sollte. Ich führe den Gedanken nicht zu Ende, weil auf der anderen Seite der Säule ein großer, blonder Junge zum Lehnen kommt.

    „Tolle Party., sagt der Unbekannte und deutet auf die Menge. „Ich hoffe, die Gastgeber haben nichts dagegen, dass ich mich eingeschlichen habe. Er dreht den Kopf zu mir und zwinkert.

    Sein Blick fängt meinen und ich muss blinzeln, weil ich nicht glauben kann, was ich sehe. Dieser Junge hat hellrote Augen. Meine eigenen Augen jucken und dann sehe ich schnell hinunter in meinen Becher. Ich bilde mir die rote Iris sicher nur ein. Ganz sicher. Außerdem ist es voll im Trend Kontaktlinsen zu tragen. Aber wir haben doch kein Halloween.

    „Haben sie sicher nicht.", erkläre ich unbeherrscht. Er schaut sich erneut die Menge an und ich ergreife die Möglichkeit ihn zu betrachten. Er ist so groß wie José und deutlich älter als ich. Vielleicht 23 oder 24. Und er ist wirklich verdammt blond und hat jetzt plötzlich… braune Augen. Doch vor ein paar Minuten waren sie doch noch rot. Spinne ich? Es ist zwar immer noch wahrscheinlich, dass er Weltmeister im Kontaktlinsen-Wechseln ist, aber naja, wie groß ist diese Wahrscheinlichkeit?

    „Wie heißt du?", frage ich ungewollt leise.

    Auf einmal grinst er breit und nimmt einen großen Schluck aus seinem Becher. „Hast du was gesagt?", fragt er.

    Dann taucht er genauso breit grinsend in die tanzende Menge und verschwindet aus meinem Sichtfeld. Ich versuche vergeblich ihm fragend hinterherzuschauen, aber er ist weg. Stattdessen läuft Lisaj schnurstracks auf mich zu und schreit mir etwas entgegen, aber ich verstehe sie nicht, weil ich mit meinen Gedanken ganz woanders bin.

    „Was hast du gesagt, Lisaj?"

    Sie rüttelt so stark an mir, dass mir der Becher aus der Hand fliegt und den Boden unter mir nässt.

    „Du musst mitkommen!" Sie umschließt mein Handgelenk und zieht mich in den nächsten Raum.

    Wir finden uns verdammt schnell bei Trick, Lio und zwei anderen Jungen wieder. Sie stehen um einen hohen Tisch herum und schließen uns lachend und voller guter Laune in den Kreis ein. Lio drückt mir direkt den nächsten Becher Bier in die Hand.

    „Endlich, Lisaj, du bist dran.", ruft Trick und stellt einen kleinen Spiegel auf den Tisch. Er streut längs weißes Pulver darauf und drückt Lisaj einen zusammengerollten Geldschein in die Hand. Ich verstehe erst nicht, was er tut und womit Lisaj an der Reihe sein soll, aber dann landen die Gedankenfetzen nach und

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