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Wofür wir uns schämen: Roman
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eBook247 Seiten3 Stunden

Wofür wir uns schämen: Roman

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Über dieses E-Book

Noch drei Tage bis zur fristlosen Kündigung. Düstere Erinnerungen und grelle Zweifel – und ein Befreiungsschlag. Und wer ist Marie?
Die rothaarige Kollegin sitzt, schon seit er dort arbeitet, auf dem Platz hinter ihm im Büro. Zu Beginn war er sich nicht sicher, ob sie es ist, das Mädchen von früher, das Mädchen aus dieser einen Nacht, von der sein Vater ihm verboten hat, jemals wieder zu sprechen. Doch als die Kollegin ihn anspricht, ob er sie ins “Bang Bang” begleiten will, weil da nur Paare rein dürfen, gerät seine ganze Welt aus den Fugen.
„Wofür wir uns schämen“ ist eine Geschichte über Bleistifte, Beziehungen und die Befreiung. Die Befreiung von der Angst, die Befreiung von der Vergangenheit und die Befreiung von Geschlechterrollen, die die beiden schon längst nicht mehr spielen wollen.
Blum schreibt mal nachdenklich, mal humorvoll, mal düster. Sein Roman erzählt, poetisch und lebendig zugleich, sehr ehrlich und schonungslos von der Bewältigung der Vergangenheit und der Suche nach der einen echten Verbindung, ohne dem Leser dabei endgültige Antworten aufzudrängen.
SpracheDeutsch
HerausgeberLiesmich Verlag
Erscheinungsdatum2. Okt. 2019
ISBN9783945491096
Wofür wir uns schämen: Roman

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    Buchvorschau

    Wofür wir uns schämen - Tomas Blum

    Über das Buch

    Die rothaarige Kollegin sitzt, schon seit du hier arbeitest, auf dem Platz hinter dir im Büro. Zu Beginn warst du dir nicht sicher, ob sie es ist, das Mädchen von früher, das Mädchen aus dieser einen Nacht, von der dein Vater dir verboten hat, jemals wieder zu sprechen. Doch als die Kollegin dich anspricht, ob du sie ins Bang Bang begleiten willst, weil da nur Paare reindürfen, gerät deine ganze Welt aus den Fugen. »Wofür wir uns schämen« ist eine Geschichte über Bleistifte, Beziehungen und die Befreiung. Die Befreiung von der Angst, die Befreiung von der Vergangenheit und die Befreiung von Geschlechterrollen, denn ihr beiden wollt keine Rolle mehr spielen.

    Über den Autor

    Tomas Blum, Jahrgang 1968, arbeitet lange in der Pflege und in Einrichtungen für Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen. Nach dem Literaturstudium lebt er in Nordirland und beginnt dort mit der Arbeit an seinem ersten Roman, für den er ein Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin erhält. Ein Aufbaustudium in Medienwissenschaften finanziert er durch die Mitarbeit in einer Schauspielagentur. Nach Abschluss des Studiums arbeitet Blum zwanzig Jahre lang als Autor und Ghostwriter in Wirtschaft und Politik. Durch einen Unfall besinnt er sich wieder auf das literarische Schreiben. 2016 wird sein Stück »Der Kuss« in Berlin uraufgeführt. Mit »Wofür wir uns schämen« erscheint sein Romandebüt im Liesmich Verlag. Blum lebt und arbeitet in Berlin.

    Weitere Infos auf seinem Blog

    www.tomas-blum.com

    Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

    Alle Rechte der deutschen Ausgabe

    © Liesmich Verlag UG (haftungsbeschränkt)

    1. Auflage 2019

    www.liesmich-verlag.de

    Coverdesign & Umschlaggestaltung: Manja Schönerstedt // Alina Tillenburg

    Illustrationen und Zeichnungen im Einband: Alina Tillenburg

    Drucksatz: Karsten Möckel

    Lektorat: Alina Tillenburg

    Kolektorat: Jessica Adrian

    Korrektorat: Sabrina Friedl

    Vorlektorat: Torsten Paape

    PR & Marketing: Christoph Awe // Jessica Adrian // Johannes Bär

    Medienarbeit: Christoph Awe

    Buchtrailer: Ben Pohlmann

    Projektmanagement: Karsten Möckel

    ISBN: 978-3-945491-09-6

    Die in diesem Roman vorkommenden Personen und geschilderten Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten ... und so weiter und so weiter.

    Für Dirk.

    Erinnerst Du Dich an den Wind im Gesicht, wenn wir mit unseren Rädern auf der Uferstraße fuhren?

    Der Ball, den ich beim Spielen warf im Park,

    Hat noch nicht den Grund erreicht.

    Dylan Thomas

    Ich lächele mein halbes Leben lang. Ich lächele in den meisten Momenten, so fühlt es sich an. Ich lächele zum Beispiel, wenn der Chef blöde Witze macht, oder wenn man mich unnötig von der Arbeit ablenkt. Auch wenn mich jemand auf der Straße anrempelt, lächele ich erst mal. Ich habe das einem Freund erzählt, um herauszufinden, ob er versteht, was ich meine, und er sagt, es wäre vermutlich einfacher, wenn ich eine Frau wäre. Deshalb lächele ich die andere Hälfte der Zeit nicht. Ich gehe meinen Aufgaben nach, und manchmal sagt mir die Kollegin aus der Tischreihe vor mir, ich soll nicht so ernst gucken. Es ist wie mit dem Wasserglas, von dem man nicht weiß, ob es halb voll oder halb leer ist. Ich kann nicht sagen, ob der Vergleich mit meinem Leben zutrifft. Jedenfalls fühlt es sich so an, als wäre Glas drumherum.

    Der Grund für diese Gedanken ist die rothaarige Kollegin. Wir sind allein im Pausenraum und sie spricht mich an, sie sei mir vermutlich noch nicht aufgefallen, aber das stimmt nicht. Im Gegenteil ist sie mir schon die ganze Zeit über aufgefallen, schon seit ich hier arbeite, und das sind anderthalb Jahre. Sie erinnert mich an ein Mädchen von früher. Das dachte ich sofort, als ich sie zum ersten Mal sah, sie sitzt an einem der Tische ganz rechts hinten.

    Damals hießen alle Mädchen Claudia. Das sage ich der Kollegin natürlich nicht, als sie mich anspricht. Der Administrator platzt herein und unterbricht unser Gespräch und hat wieder einen Spruch auf Lager und wir beide lächeln, meine Kollegin und ich. Auf der Arbeit laufen wir uns an diesem Tag nicht mehr über den Weg, aber ich kann sie sehen, rechts hinten an ihrem Tisch.

    Damals heißen also fast alle Mädchen Claudia und du kannst von Glück reden, wenn du eine kennst. Du teilst dir mit ihr den Nachhauseweg von der Schule, und die Katzenaugen ihrer Schulranzen sind die einzige Farbe, die du an den Herbsttagen zu Gesicht bekommst. Zwei Unglücksfälle beschäftigen uns zu der Zeit, die noch zusätzlich zu dem Gewicht unserer Schulbücher die Schultern beschweren. Jedes Mal wird mein Vater hinzugerufen und das bringt ihm den Ruf einer Koryphäe ein. Ich glaube nicht, dass die Kinder damals wissen, was eine Koryphäe ist. Da ich jedoch der Sohn einer Koryphäe bin, lassen mich die anderen Jungs auf dem Schulhof in Ruhe. Und das, obwohl mein Vater überhaupt nichts mehr ausrichten kann. Der eine Unfall ist ein Schreibtischunfall. Auch heute noch frage ich mich, wenn ich das Wort Unfall höre, wer der Täter ist. Wobei es bei Unfällen ja eigentlich um die Opfer geht. Bei dem Schreibtischunfall ist Fred Reimann (Fred mit den flachsgelben Haaren und der schneeweißen Haut), er ist bei dem Schreibtischunfall das Opfer von einem nett gemeinten Klaps auf den Hinterkopf. Fred Reimann hat ein Problem mit Füllfederhaltern. Er schafft es einfach nicht, ein paar Zeilen damit zu schreiben, ohne sich und das Papier einzusauen. Die Lehrerin macht deshalb für ihn eine Ausnahme. Er darf mit dem Bleistift schreiben, jedoch nicht darauf herumkauen, wobei ihm das sehr schwerfällt. In einer Pause pult Fred mit der Bleistiftspitze im Ohr und einer der Jungen will ihm so zum Scherz einen Klaps auf den Hinterkopf geben. Aber Fred hört ihn kommen und dreht den Kopf und der Klaps trifft das andere Ende des Bleistiftes, der in Freds Kopf verschwindet. Mein Vater ist der Notarzt am Unfallort, aber er kann, wie gesagt, nicht mehr viel ausrichten. Fred Reimann lebt noch ein paar Tage, fast eine Woche sogar. Der Junge mit dem Klaps hat die Schule gewechselt. Nicht, dass ihm jemand einen Vorwurf gemacht hätte. Ich will seinen Namen hier lieber nicht nennen.

    Der andere Unfall, der die Mädchen und die Jungs damals beschäftigt, ist der Verkehrsunfall von Reuters. Der Jens ist damals nicht gerade ein enger Freund von mir und schon die Vorstellung, Herr Reuter könnte mir die Haustür öffnen, ist mir unangenehm, wenn ich Jens mal besuchen will. Ich gestehe, dass auch diese Sache mich bis heute beschäftigt. Ich fahre beispielsweise ein viel zu schweres Auto, weil es besser auf der Straße liegt. Außerdem sitze ich lieber selbst am Steuer und fahre immer nüchtern. Nach dem Unfall damals gibt es jedenfalls Ermittlungen, allein der Versicherung wegen, und es stellt sich nach einiger Zeit heraus, dass es diesmal auch im Wortsinn einen Täter gibt. Das fällt aber zuerst keinem auf, und hier ist mein Vater total zufällig der Erste am Unfallort, weil er am Samstagnachmittag immer wandern geht, hinten auf den Feldern, die von der Schnellstraße geteilt werden. Er ist so zufällig dort, um zu helfen, wie Fred Reimann seinen Kopf dreht, um einen scherzhaften Klaps in einen Todesstoß zu verwandeln. Und diese Vorgeschichte erzähle ich, um zu verdeutlichen, warum mir die ganze Verabredung mit der Kollegin vom Tisch rechts hinten so an die Nieren geht. Auf eine Verabredung läuft es nämlich hinaus. Also zum einen will ich die Verabredung nicht versauen. Ich will mich auch nicht vordrängeln. Es ist ja ihre Einladung oder Idee, ich weiß nicht, wie man dazu sagen soll. Zum anderen will ich nicht, dass sie denkt, ich fahre ein uncooles Auto. Ich gebe einen großen Teil meines Einkommens für den Wagen aus. Ich will nicht, dass sie mich für jemanden hält, der so einen Wagen fährt. Sie fährt einen Gebrauchten mit einigen Dellen dran, und sie ist auch nicht in meiner Position, und sie könnte das falsch deuten, wenn sie meinen Wagen aus der Nähe sieht oder gar drinsitzt. Deshalb lasse ich mich überhaupt darauf ein, in ein fremdes Auto zu steigen. Außerdem ist es einem kleinen Teil von mir sogar recht. Denn wir haben ja wirklich ein ungewöhnliches Ziel und vielleicht will ich auch nicht, dass man mein Kennzeichen dort vor dem Haus identifizieren kann. Das spielt vielleicht eine Rolle. Ich gebe es zu. Um ehrlich zu sein, wühlt mich die Verabredung aus einem viel wichtigeren Grund so sehr auf. Es könnte nämlich sein, dass Fred Reimann und Jens Reuter und meine Kollegin eine Gemeinsamkeit haben. Sie alle blicken in dem Moment, von dem man sprichwörtlich sagt, man sehe dem Tod ins Auge, in die Augen einer Koryphäe. Das sind die Augen meines Vaters.

    Wir sehen uns also wieder nach Feierabend. In der Zwischenzeit muss ich dauernd an sie denken. Warum arbeite ich mit jemandem wie ihr auf einer Etage, wo wir doch fachfremde Aufgaben erledigen? Vielleicht habe ich deshalb nicht das Gespräch zu ihr gesucht. Sie hat es. Das reicht ja. Und nun stehen wir hier neben ihrem Wagen, es sieht wie ein Zufall aus, sie macht eine Einstiegsbemerkung über das Wetter und den Frühling, der schon wie ein Sommer ist. Ein Traumsommer. Sie will ins Bang Bang, sagt sie. Da wollte sie schon immer hin. Aber man kann nur paarweise hin und sie hat keinen Partner, ich auch nicht, aber mir würde sie vertrauen und sie kann es sich gut vorstellen, ob ich Lust hätte. Ich muss immerzu an diesen Song von Nancy Sinatra denken. Bang Bang. Ich sage, ich muss es mir überlegen, und mache auch eine Bemerkung über den traumhaften Frühling, und da bin ich nun und überlege. Sie ruft mich am Abend auf dem Handy an, meine Nummer hat sie also auch schon, und ihre Stimme klingt in meinem Ohr, als würde sie direkt hineinflüstern. Nancy Sinatra hat mit fünfzig noch Aufnahmen für den Playboy gemacht, ich verstehe nicht, was einen dazu bringt. Meine Kollegin ist jung. Ich sage ihr zu, bevor ich es mir noch einmal überlege, ihre Stimme schleicht sich leise in mein Ohr. Es ist aufregend. Sie spricht leise und zugleich aufgeregt. Sie sagt noch Sachen wie, ich bin ihr schon immer aufgefallen, da hinten an meinem Tisch. Dass es umgekehrt genauso ist, das sage ich ihr nicht. Wie ich vor mehr als einem Jahr zum ersten Mal an meinen neuen Arbeitsplatz geführt werde und sie in der Ecke am Fenster sitzen sehe, haut es mir fast die Beine weg. Und noch tagelang überlege ich mir, ob ich die Stelle wieder kündigen soll. Dann beschließe ich, mich an ihren Anblick zu gewöhnen. Ich entscheide mich für die Karriere. So geht das die ganze Zeit über. Die Gewohnheit und der tägliche Arbeitsrhythmus machen aus der Kollegin wieder eine Fremde. Jedenfalls, bis sie mich anspricht.

    Ich habe Claudia damals nie von ihr erzählt. Von dem rothaarigen Mädchen.

    Als ich die Kollegin in der Ecke zum ersten Mal sehe, löffelt sie eine Instant-Suppe mit Erbsen drin. Aus dem Plastikbecher steigt Dampf auf, und ich kann das Foto auf dem Becher von hier aus kaum erkennen, aber ich kenne das Fabrikat. Erbsen. Sie ist es. Jahrzehnte hat sie einfach weitergelebt. Warum auch nicht, sie hat die Sache damals überlebt und diesmal ist es kein Zufall, dass mein Vater einem Opfer das Leben rettet. Zu Claudia habe ich den Kontakt schon lange verloren. Sie ist damals mein bester Freund. Und warum erzähle ich ihr nie von der Sache mit dem anderen Mädchen? Weil mein Vater es mir verbietet? Weil ich streng genommen überhaupt nicht bei einem Patientenbesuch dabei sein darf? Weil ich nicht will, dass Claudia mich für den Sohn einer Koryphäe hält? Jedenfalls nimmt er mich damals mit auf dieser Tour.

    Das verändert alles.

    Natürlich kann ich mir erst sicher sein, wenn ich die Kollegin darauf anspreche. Wie soll man so etwas anfangen? Und erst recht weiß ich nicht, wie ich aus dieser Nummer hier wieder herauskommen soll. Ich frage mich, ob Nancy Sinatra noch lebt. Die muss doch bestimmt schon achtzig sein. Es ist auch egal, wie alt die ist. Bang Bang.

    Bei Frühstück, Zeitungs-E-Paper und Inforadio denke ich über Freundschaften nach. Seit die rothaarige Kollegin mich angesprochen hat, umso mehr. Es kommt mir albern vor, dass die gemeinsame Zeit mit Claudia für mich heute noch Inbegriff der Freundschaft ist. Da gibt es keinen Thomas oder Peter oder sonst einen Haudrauf oder Blutsbruder. Nein, es gibt sie. In meiner Erinnerung sind wir beide so klug wie die Erwachsenen, doch geben wir uns ihnen nicht zu erkennen. Ich habe nach ihr keinen Menschen getroffen, mit dem man den Schmerz teilen kann. Einen Menschen, der überhaupt bereit dazu ist. Ich denke über Freundschaft nach, während mein E-Paper die Verrücktheiten eines Donald Trump auflistet, eines amerikanischen Präsidentschaftskandidaten, der sich damit brüstet, Frauen bei dieser und jener Gelegenheit zwischen die Beine zu fassen. Ich denke darüber nach, dass ich tausend Freunde habe, die keine Freunde sind. Was das bedeutet. Ich könnte beispielsweise jederzeit nach London oder L. A. oder Johannesburg reisen und müsste mir um die Unterbringung keine Gedanken machen, weil es so einen Freund dort gibt, der mir Unterschlupf gewährt. Nein. Eben das nicht. Er würde mich unterbringen, wir würden trinken und scherzen und lachen und reden über dies und das, aber eines würde ich nicht bekommen. Unterschlupf. Es ist ein so peinliches Wort. Wer würde das heute noch benutzen? Frauen wollen heute das, was Männer wollen, und Männer, die Präsident werden wollen, sind heute oberschlüpfrig. Als ich herausgefunden habe, was mit mir los ist, war ich zuerst befreit.

    Du bist befreit, und theoretisch bist du jetzt ein Odysseus auf See (so hast du es schon in der Schule gelernt), auf hoher See, wo du dein Leben in die Hand nimmst und gegen die Götter segelst. Die Familie ist bloß ein gedachter Punkt, hinter dem Horizont, und die Freunde? Kannst du dich je auf sie verlassen? Du hast noch deinen Mut, den du mühsam erarbeitet hast, und du hast die Erinnerung. Ja, ich vermisse Claudia. So wie man eine Illusion vermisst, wie man die Kindheit vermisst beim Biss in eine bestimmte Sorte Schokolade vielleicht. Die Schokolade hat es bis ins Heute geschafft, weil ein Unternehmer die Marke fortgeführt und die Rezeptur belassen hat. Was ist mit den Menschen von damals? Will man eine Claudia im Internet finden?

    Das andere Mädchen tritt zurück in dein Leben. Aus dem rothaarigen Mädchen ist deine Kollegin geworden. Der sicher geglaubte Boden unter deinen Füßen wird dir heiß, weil sie es damals ist, die eine Claudia aus deinem Leben verweist. Und deshalb beginnt die Geschichte mit Claudia. Sie beginnt mit dem Laub der Bäume. Graues und nasses Laub. Es liegt wie aufgeweichter Schorf über allem. Und wo du es mit der Schuhsohle beiseite kehrst, kommt doch nur die graue und nasse Straße zum Vorschein. Du hast eine Erinnerung daran, dass diese Straße im Sommer unter der Hitze flimmerte und dein Spielplatz war. Doch der Sommer liegt weit zurück, und der nächste ist ungewiss.

    »Am Wochenende wird es schneien.« Claudia bemerkt deinen ungläubigen Gesichtsausdruck. »Du wirst sehen«, beteuert sie. Sie ist eine Spezialistin für die Beteuerung, eine Agentin. Ihre Haare sind kraus und strähnig vom Nieselregen. Du antwortest, dass du es dir nicht vorstellen kannst. Den fallenden Schnee, auf der Nase kitzelnde Flocken, sie saugen die Dunkelheit aus dem Untergrund - so wie das Pulver, das die Feuerwehr nach Reuters Unfall auf der Straße verstreut hat, das Motoröl aufsaugt. Das kannst du dir auch nicht vorstellen. Nicht, bis du es mit eigenen Augen siehst.

    Deine Schuhspitze pult das Laub beiseite, ein kleiner Ausschnitt des Gullydeckels kommt darunter zum Vorschein, Eigentum deiner Stadt, steht dort, in Eisen gegossen. Claudia bringt es endlich auf den Punkt:

    »Heute werden sie dich sicher nicht mehr rauslassen«, sagt sie, und du weißt, sie hat recht.

    Es ist die geringste Strafe. Gewohnheit hat ihr längst die Zähne abgestumpft. Versagt zu haben und folglich ein Versager zu sein, ist ein graues Paket, das sich abstreifen lässt, in unbestimmter Zukunft zwar, doch du ahnst, dass du besser sein kannst als diese Zensur in dem Paket auf deinem Rücken. Sicher darf ich nicht raus, bestätigst du ihre Worte. Aber es macht auch nichts. Und das sagst du, obwohl du genau weißt, man hat dich durchschaut. Sie wissen, wo sie dich treffen können. Sie stehlen dir die Zeit mit Claudia. Dem einzigen Menschen, der dir wirklich erklären könnte, wie man Tätigkeitswörter beugt.

    Personen und Zeiten gehen

    Durch deinen Kopf

    Ich verstehe

    Ich werde verstehen

    Ich werde verstanden haben

    Davon weißt du nichts:

    Dass Kindergedanken schießen

    Weit hinaus

    Sie schießen vor in die Zeit der Erinnerung

    Dort wo du dich als Erwachsener fragst

    Was bloß aus dir geworden ist

    Sie werden dich nicht mehr rauslassen.

    »Dann bis morgen.«

    Claudia sagt das an jedem Tag. An dieser Stelle trennt sich ihr Weg von deinem. Dann schlüpft sie durch die Hecke, hinter der das Hochhaus aufragt. Früher, als du dich, zögerlich zwar, ein wenig ängstlich (doch wer hat keine Angst?), vom Bann deiner neuen Freundin gefangen nehmen lässt, ist es für dich ein hohes Haus, ein Turm, ein Aussichtsposten, der dir Ausblick auf die Felder und den aufgehenden Mond gewährt, und du bist ein wenig neidisch, dass ein Mädchen hier oben wohnen darf und du nicht. Später lehrt man dich, dass ein Hochhaus ein Haus ist, in dem die Leute wohnen, die eben nicht in Häusern mit Garagen und einem Garten wohnen.

    »Kopf hoch!« ruft sie dir zu.

    Du kannst sie überhaupt nicht mehr sehen. Ja, antwortest du und winkst der Hecke zu. Deine Brust wird dir eng.

    Die Zeitung habe ich schon lange abbestellt. Nicht, dass ich etwas gegen Papier habe. Ich finde das E-Paper einfach praktischer. Das Wort Heimat sticht dort heraus, es vibriert unter der Glasoberfläche. Manchmal sehne ich mich doch nach der alten Zeitung zurück. Dann komme ich mir vor wie einer, der aus der Vergangenheit geflohen ist und hier Zuflucht sucht. Die rothaarige Kollegin hat mich gefunden. Sie sagt, sie vertraut mir. Wie kann sie das meinen? Doch ihre Meinung schmeichelt mir. Und Schmeichelei ist eine Gabe, die einer, der geflohen

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