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Treppenflug
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eBook359 Seiten4 Stunden

Treppenflug

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Über dieses E-Book

Fynn ist blind. Lilly ist taub. Na und?
Eine Geschichte über eine Jugendliebe und die Kraft des Glaubens.

Fynnegan Bergmann purzelt die Schultreppe hinunter. Eine zierliche, Person mit langen Haaren, die einfach wunderbar duftet fängt ihn unfreiwillig auf. Seitdem ist für Fynn die Welt nicht mehr so wie vorher. Wie findet man ein Mädchen wieder, dass man nicht sehen konnte, aber dessen Figur und Parfüm einem nicht mehr aus dem Kopf gehen?
Lilly Matjeson wurde durch den aufgeschlossenen und gutaussehenden Fynn aus der Parallelklasse in einen Unfall verwickelt. Nun schlägt ihr Herz wie ein Trommelwirbel, wenn sie ihn zufällig auf dem Schulgang sieht. Aber wie soll sie auf sich aufmerksam machen, denn sie kann weder hören noch richtig sprechen.
SpracheDeutsch
HerausgeberFoxArt
Erscheinungsdatum4. Apr. 2014
ISBN9783955778309
Treppenflug

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    Buchvorschau

    Treppenflug - Melisande Arven

    Treppenflug

    für mein Röschen,

    das nun im Himmel spielt

    Herausgeber: FoxArt Verlag

    Postfach 43, 90560 Markt Heroldsberg,

    melisande-arven@web.de

    © 2016 Melisande Arven

    Alle Rechte vorbehalten.

    Inhaltsverzeichnis

    Wer wir sind

    Alltag

    Schulfete

    Komplexe

    Landesgartenschau

    Kirchgang

    Jugendfreizeit

    Augenoperation

    Sommerseminar

    Hochzeit

    Wer wir sind

    Mein Name ist Lilly.

    Mein Vater  nennt mich Tiger-Lilly. Wie das Indianermädchen aus Peter Pan. Früher hab ich das sehr gemocht aber jetzt wo ich älter bin, naja. Wir leben in einer Kleinstadt. Es ist nichts Besonderes hier. Wir haben Geschäfte, Schulen und einen Park. Ich führe ein bisher wenig aufregendes Leben. Bin meist lieber für mich.

    Aber ich habe ein Problem. Ein großes sogar. Und keine Lösung. Ich bin verliebt. Furchtbar schlimm wahrscheinlich.

    Er heißt Fynn. Ich kenne ihn schon lange. Eigentlich seit ich denken kann. Und er kennt mich. Also er weiß das es mich gibt, sagen wir so.

    Und das eigentliche Problem?

    Fynn kann nicht sehen.

    Ich kann nicht gut sprechen.

    Ich bin eigentlich immer stumm wie ein Fisch und hören kann ich nur mit diesem blöden Gerät im Ohr und trotzdem klingt alles als hätte man mich mit Watte ausgestopft.

    Verständigung gleich null.

    Fynns Familie hofft auf ein Forschungsprojekt. Wenn alles gutgeht könnte er vielleicht wieder ein wenig sehen. Aber die Aufnahmelise ist lang. Das kann noch ewig dauern. Und so viel Zeit habe ich leider nicht.

    Denn da gibt es noch Cleo. Und die hat keine Sorgen mit ihrer Stimme. Im Gegenteil, sie benutzt sie wann immer es geht. Und Fynn sieht wirklich ganz toll aus. Das finde nicht nur ich. Mindestens die Hälfte aller weiblichen Wesen in meinem Alter sind  dieser Meinung.

    Warum ich mich in Fynn verliebt habe? Eigentlich ist es eine ganz blöde Geschichte. In meinem Leben gibt es viele davon:

    Es war in der Weihnachtszeit.

    Zeit des Frieden, der Liebe und der Besonnenheit.

    Nicht wenn man in meiner Familie lebt. Wir sind ein Großkonzern. Drei Häuser scharen sich um einen recht großen Garten.

    Der Oberdrache, wie mein ältester Cousin Martin sagt, wohnt in dem Haus das der Straße zugewandt ist. Meine Oma.

    Die Unterdrachen wie meine Eltern und die übrigen Onkel und Tanten dahinter.

    Die Babydrachen, die Kinder der Unterdrachen, drücken sie so durch und versuchen in ihren Zimmern eine Festung des Privatlebens aufzubauen oder zu verteidigen.

    Weihnachten. Wir hatten einen Baum gekauft auf den Rübezahl hätte stolz sein können. Eigentlich wollten fast alle dieses Jahr eine Blautanne kaufen weil die nicht so piekt. Aber der Oberdrache hatte gefaucht und dann wurde wieder die obligatorische Fichte besorgt. Begründung: nadelt nicht so sehr.

    Gefeiert wurde der Heilige Abend bei meiner Tante Betty und sie hatte extra ihre Schränke im Wohnzimmer verrückt damit der ‚Wald‘ darin Platz hat.

    Ich liebe Weihnachten. Ich mag den Duft, die Stimmung, einfach alles. Aber Matsch und Glatteis, das hasse ich. Aber gerade deswegen bin ich ja über Fynn gestolpert. Oder besser gesagt, er über mich.

    Es waren noch ein paar Tage bis zu den Ferien. Zu unserem ehrbaren Schulgebäude führen breite Stufen zum Haupteingang hinauf. Eigentlich werden die von unserem Hausmeister peinlichst gekehrt und mit Sand überhäuft aber an diesem Morgen hatte er wohl die Grippe oder so was. Auf jeden Fall waren die Treppen rutschig.

    Es schneite an diesem Tag und ich hatte meine Mütze tief ins Gesicht gezogen und beschloss auf jeden Fall das Geländer in Anspruch zu nehmen. Wer vor mir oder hinter mir lief hatte ich gar nicht beachtet. Ich weiß auch gar nicht wie es passierte, mit einem Mal kippte der Vordermann nach hinten, fiel mir in den Bauch und riss mich mit auf den harten Boden.

    Ich hatte mir nicht wehgetan. Aber mir war ein furchtbarer Schreck in die Glieder gefahren. Ich fasste unbewusst nach den Armen der Gestalt die halb auf mir lag und zog meine Mütze höher. Jetzt erkannte ich Fynn Bergmann und sah an seinen Lippen, dass er wohl fluchte. Ihm war sogar die Sonnenbrille runtergefallen.

    Er tat mir leid. Schnell drückte ich ihn zur Seite und reichte ihm die Brille die neben uns lag. Ich bemerkte, dass er sich die Jeans am Knie aufgerissen hatte und Blut heraus sickerte. Fast unbewusst berührte ich die Stelle.

    „Oh Mann, ganze Arbeit., sagte Fynn und tastete selber danach. „Hast du dir wehgetan?, fragte er mich.

    Ich klopfte ihm nur aufmunternd auf die Schulter und half ihm aufstehen. Er grinste.

    „Ich hasse Schnee. Vielleicht hätte ich mir Spikes anziehen sollen."

    Ich musste lächeln und reichte ihm seinen Stock.

    „Fehlt dir wirklich nichts?", meinte er wieder.

    Ich knirschte mit den Zähnen. Zum Kuckuck das war wirklich schwierig. Der würde mich noch für total bescheuert halten wenn ich nicht antwortete. Mir fiel also nichts Besseres ein, als ihm ganz kurz über die Hand zu streichen. Dann hakte ich mich bei ihm ein und wir erklommen die Treppen gemeinsam.

    Sein Arm war warm und ich spürte seinen tiefen Atem. Wahrscheinlich hatte er Schmerzen. Aber er lächelte tapfer. Es war ein schönes Lächeln. Und er war groß und gut gebaut. Als wir uns wieder losließen strich er sich die Haare aus dem Gesicht.

    „Danke. Ich sag Bescheid wenn ich mal wieder wo runterfallen will okay?"

    Ich rückte meinen Rucksack zurecht und drückte kurz seine Hand. Er drückte sie zurück. Natürlich wunderte er sich warum ich verflixt nochmal nicht antwortete. Das konnte ich deutlich sehen. Aber was sollte ich ändern? Ich sah, dass seine Freunde anrückten und floh.

    Aber seitdem klopft mein Herz wenn ich ihn sehe. Und mit jedem Mal wird es mehr.

    Ob er sich an mich erinnert? An die Nuss die nicht antwortete? Ob er an diesen Vorfall noch denkt?

    Es gibt viele Dinge die ich auf den Tod nicht leiden kann. Neben dem Umstand, dass ich in ständiger Nacht lebe, ist es mein Name. Keine Ahnung was meine Eltern geritten hat mich Fynnegan zu nennen.

    Der Name bedeutet ‚kenntnisreich‘, sollte also eigentlich Jemand tragen der was in der Birne hat. Wenn man so meine Noten anschaut kann ich hauptsächlich in Mathe punkten. Ich möchte trotzdem gern Schriftsteller werden. Ich hab so viele Ideen im Kopf, dass ich manchmal nicht weiß wohin damit. Aber ich kann die Dinge immer nur so beschreiben wie ich sie mir vorstelle.

    Ich glaube die Leute die nicht so sehen wie ich, also nur mit den Gedanken, können gar nicht verstehen was ich da schreibe. Obwohl ich  nicht blind geboren bin. Ich weiß wie Bäume aussehen und was blau und grün ist. Die Nacht kam später.

    Aber schreiben?

    Naja.

    Alle Welt meint deshalb ich bin versessen darauf Chemiker zu werden und alles in die Luft zu jagen was mir in die Finger kommt.

    In die Schule gehe ich ganz gern. Da ist es wenigstens laut. Ich darf auf eine normale Schule gehen. Meine Eltern haben darum gekämpft wie die Löwen.

    Und gute Kumpels hab ich auch, die mich beraten was zurzeit in ist, die mit mir Klamotten kaufen gehen (meine Mummy kann ich das auf keinen Fall übernehmen lassen) und mir was Ordentliches bestellen wenn wir abends ausgehen und ich die Speisekarte nicht lesen kann. Wir gehen sogar zusammen ins Kino. Weil ich den Sound so mag.

    In der Klasse scheine ich beliebt zu sein. Nun, kann schlecht sehen wenn mir Jemand eine Fratze schneidet. Eine Freundin hatte ich noch nie. Zwar scheine ich bei Mädchen ganz gut anzukommen und aufs Äußere achte ich aus bekannten Gründen eh nicht, aber da ich nur auf Gerüche und Stimmen reagieren kann ist das nicht so leicht Interesse an einem weiblichen netten Wesen zu entwickeln.

    Jedenfalls war das so bis kurz vor Weihnachten.

    Ich bin vor der Schule die Treppe runter gesegelt. Kam ich mir vielleicht blöd vor. Außerdem hatte ich mir verflixt wehgetan. Mein Knie blutete. Aber das hatte ich am Anfang gar nicht so bemerkt. Ich bin nämlich auf einem Mädchen gelandet.

    Und da ist es irgendwie passiert. Ich spürte ihre Figur und ihre Größe. Ihre langen Haare hatten kurz über mein Gesicht gestreichelt. Es war ganz weich. Aber was mich seitdem nicht mehr los lässt ist ihr Duft. Das klingt jetzt ziemlich blöd aber ich hab ihn vom ersten Moment eingesogen wie ein Ertrinkender und er hat mich völlig durcheinander gebracht.

    Sie half mir aufstehen und ich fragte sie ob es ihr gutgehe. Aber sie antwortete nicht. Ich spürte, dass sie mir auf die Schulter klopfte. Ich riss ein paar Witze, denn jetzt bemerkte ich den Schmerz in meinem Bein. Sie war etwas kleiner als ich, das konnte ich fühlen als sie mir meinen Stock zurückgab.

    „Fehlt dir wirklich nichts?", hatte ich sie gefragt.

    Aber statt einer Antwort legte sie ihre Hand auf meine Hand. Das hat mich fast umgehauen. Mein Hirn setzte aus als wir zusammen die Treppe hoch gingen. Ich glaube ich schwafelte irgendeinen Quatsch.

    Bevor ich sie nach ihrem Namen fragen konnte war sie auch schon verschwunden und Mark schlug mir in den Rücken das ich fast einen Herzkasper bekam. Ich hasse es wenn er sowas macht.

    „Wo ist das Mädchen? Steht noch Mädchen mit langen Haaren hinter mir?", flüsterte ich.

    „Keine Seele Alter. Was ist mit deiner Hose passiert?"

    „Bin die Treppe runtergefallen. Ein Mädchen fing mich unfreiwillig auf. Sie scheint verschwunden zu sein. Siehst du wirklich niemanden?"

    Mark schien den Hals zu recken.

    „Nein, keinen. Kannst du gehen, du humpelst."

    „Geht schon. Es brennt ein bisschen." Ich war ein wenig verzweifelt.

    Wie sollte ich sie jetzt wiederfinden? Außerdem war ich skeptisch. Was wenn sich die Unbekannte als zierliche Mama heraus stellte oder als frühentwickelte Fünftklässlerin? Aber der Duft ihres Parfüms war eigentlich zu jugendlich für eine Erwachsene und ihr Körper viel zu irre für eine elfjährige.

    „Ich besorg dir ein Pflaster beim Hausmeister.", meldete sich Bastian.

    „Ne, jetzt mach doch keinen Scheiß.", brummte ich.

    „Mann du hast keine Ahnung wie böse das aussieht. Deine Hose ist schon ganz rot am Knie.", wandte Bastian ein.

    „Bin gleich zurück." Er spurtete davon.

    „Wenn die Kleine so aussieht wie du dürfte es kein Problem sein sie zu finden.", meinte Mark der wohl meinen zerknirschten Gesichtsausdruck bemerkte.

    „Sie hat mir nicht geantwortet als ich sie fragte ob ihr was fehlt. War ein bisschen komisch."

    Tja so ungefähr ist das an dem Tag abgelaufen. Aber keiner der Mädchen sah in der Pause irgendwie so aus als ob ein Typ sie als Airbag gebraucht hätte. Jedenfalls versicherten mir das die Jungs.

    Mittlerweile ist das neue Jahr angebrochen und ich habe die Hoffnung aufgegeben.

    Alltag

    Mein Geburtstag steht ins Haus. Ich habe den Eindruck, dass meine fürsorgliche Mama sich mehr deswegen reinstresst als das Geburtstagskind. Sie wird wieder eine ihrer klebrigen Torten machen und sich wie jedes Jahr darüber beschweren, dass es immer kniffliger wird die Kerzen darauf zu bringen. Ich glaube wenn es möglich wäre würde sie das noch tun wenn ich die 80 schaffe.

    Ich mag keine Feiern in denen es um mich geht. Grundsätzlich kann ich große Menschenanhäufungen nicht leiden. Vielleicht habe ich da einen Knacks wegen meiner riesigen Familie und man könnte auch einwerfen, ich solle mich nicht so anstellen da ich ja den Lärm eh nicht höre. Aber bei Geburtstagen oder Abschlussfeiern klopft mir nur immer jeder aufmunternd auf den Rücken und Fremde und entfernte Bekannte sprechen betont deutlich und spitzen die Münder weil man ihnen gesteckt hat das ich Lippen lesen kann.

    Ich liebe Geschenke. Das wird sich wohl auch nicht ändern bis ich 80 Jahre alt bin. Dieses Jahr fällt mein Geburtstag auf einen Mittwoch. Evelyn und ich werden am Abend in die Stadt gehen und zusammen was trinken. Sie hat es  bereits hinter sich und ist im Sommer 17 geworden.

    Ich kenne sie seit dem Kindergarten. Also schon eine halbe Ewigkeit. Deshalb kann sie auch meine Gebärdensprache und sie ist die beste Freundin die es gibt. Wenn man mal von Glubschi absieht. Okay das ist nur mein dicker Goldfisch. Aber er gibt wenigstens keine Widerworte wenn ich das mal echt nicht brauchen kann.

    Wenn es darum geht ist Evelyn wirklich nie um ein paar verbale Backpfeifen verlegen.

    Am Samstag wird also dann pappiger Kuchen gegessen und meine vielen Cousinen werden mein Zimmer belagern. Mittlerweile kann man es sogar wieder betreten. Die letzten Wochen vor Weihnachten stapelten sich dort etliche Schachteln die darauf warteten verpackt zu werden. Mein ganzes Taschengeld war dafür drauf gegangen.

    Ich habe bei Herrn Mayer Extraschichten geschoben um diese Gaben nicht stehlen zu müssen. Es ist in den letzten Wochen ziemlich viel los in der Bibliothek. Vor allem unsere Videoecke brummt. Das liegt wahrscheinlich am Schnee. Die Leute lieben es an dunklen Winterabenden mit heißem Tee und Plätzchen auf dem Sofa zu sitzen und sich einen netten Film anzukucken. Ich habe gestern erst nachgesehen. Liebesschnulzen stehen ganz oben auf der Liste der meistgeliehenen Filme.

    Das übliche Weihnachtsprogramm im Fernsehen ist auch brav abgeleistet worden. Ich habe fleißig ‚Sissi‘ und ‚Drei Nüsse für Aschenbrödel‘ geguckt.

    Es ist Montag kurz vor sieben und ich stehe vor dem Spiegel mit einer Bürste bewaffnet. Ich striegle meine Haare wie eine Irre da sie sich über Nacht ständig verknoten. Seit letzter Woche bin ich wieder auf die Kunststoffbürste umgestiegen. Mama hatte mir so eine Edle aus Naturborsten gekauft. Sie sollte die Haare schonen und schön glänzend machen. Ich hab das Teil eigentlich gemocht nur der große Nachteil war, dass sich mein gesamter Schopf jedes Mal elektrostatisch aufgeladen hat und mir die Haare abstanden und ich regelmäßig einen Schlag bekam wenn ich die Türklinke anfasste.

    Heute ist es ziemlich kalt. Wenn ich das richtig gesehen habe hat es über Nacht Neuschnee gegeben. Wie viele Schichten kann man eigentlich übereinander tragen ohne wie eine Tonne auszusehen und jeglichen weiblichen Reiz zu verlieren? Mama kriegt fast einen Anfall wenn ich kein Unterhemd trage und beim Bücken die ‚Nieren‘ zu sehen sind. Habe folgsam einen Rolli angezogen und trage ein Top darunter. Zudem habe ich einen immensen Schal um meinen Hals gewickelt. Das dürfte jeden zufriedenstellen.

    Als ich zum Frühstück hinuntergehe muss ich feststellen, dass ich mal wieder die Letzte bin. Papa hat das Radio offensichtlich angemacht den Mama dreht leicht genervt am Lautstärkeregler herum. Sie sieht mich und lächelt. Ich nicke grüßend und steuere die Kaffeemaschine an. Das Ding ist eine Gabe Gottes. Das hat Mama auch gesagt und Papa hatte nur gebrummelt:

    „Und ich dachte ich hätte sie dir geschenkt."

    Phillip isst wieder halb im Stehen wie es seine Art ist. Ein Bein auf dem Boden, das Andere leicht auf den Stuhl gelehnt bereit jeden Moment loszustechen.

    Sein heller Haarflaum wackelt jedes Mal lustig wenn er sich einen Löffel Cornflakes in den Mund schiebt. Ich entscheide mich heute für eine Scheibe Brot und Marmelade. Dann versuche ich dem Gespräch am Tisch zu folgen. Es geht um die Schulaufführung.

    „Du kannst doch auch mit Tobi allein in die Stadt gehen. Ich gebe dir Geld mit und ihr kauft das ein was ihr braucht. Wenn du mir den Kassenzettel mitbringst geht das schon in Ordnung.", meint Mama.

    „Aber wegen dem Schnee sind wir ja dann ewig unterwegs. Gestern ist der 33. Bus gar nicht gefahren.", sagt Phillip.

    „Ich denke nicht, dass ich mit dem Auto schneller sein werde. Außerdem will ich nicht in die Stadt fahren. Da ist so viel los. Ich kriege nie einen Parkplatz. Dann müsst ihr halt laufen."

    „Mann, es geht nur um ein bisschen Tonpapier."

    „Na eben. Das könnt ihr doch mühelos tragen."

    Phillip zieht einen Flunsch. Seine Klasse führt ein Scherenschnitttheater auf. Eigentlich finde ich das eine tolle Idee.

    Es ist jedenfalls mal was anderes, als dieses ewige Gerangel auf der Bühne. Vor allem weil die Darsteller ihre Rollen meistens nicht sehr ernst nehmen und alles in einem pubertären Gegacker ausartet, während Frau Rieber hinter der Bühne die Pulsadern platzen. Das war in meinem Jahrgang so und wird auch in Phillips Klasse nicht anders sein.

    Ich lächle.

    „Ich möchte mit Evelyn nach Hauswirtschaft in die Stadt gehen. Ich kann dir das Papier mitbringen."

    Phillip zieht die Lippen auseinander.

    „Echt?"

    „Naja, wofür hat man sonst eine Schwester mit einem Herz aus Gold?", frage ich.

    „Ich würde auch gerne wissen was dich zu dieser ehrenhaften Tat anstiftet Lilly." Mamas Augen leuchten amüsiert während sie sich Milch in den Kaffee gibt.

    „Evelyn braucht neue Stiefel. Sie sagt sie kriegt nasse Socken."

    „Und was brauchst du?"

    Ich rümpfe die Nase.

    „Ich werde mir nichts kaufen! Ich kann mir gar nichts leisten weil alles für Geschenke drauf gegangen ist. Ich kann Herrn Mayer nicht bitten mir nochmal den Stundenlohn zu erhöhen."

    Papa schmunzelt. Aber er sagt nichts. Ein kluger Mann genießt und schweigt. Das ist eines seiner Lieblingssprüche.

    „Ich brauche 10  Bögen schwarzes Tonpapier in Din A3 und eine Schachtel Reiszwecken.", kommt Phillip zur Sache.

    Er steckt sich einen neuen Löffel in den Mund und beäugt mich kritisch. Es arbeitet hinter seinen hellblauen Augen. Ich warte gespannt, bis er runtergeschluckt hat.

    „Als Dank werde ich für dich heute die Spülmaschine ausräumen."

    „Wow." Ich beiße in mein Brot und visiere die Uhr an.

    „Mama kannst du mir bitte für heute nochmal eine Schürze leihen?"

    „Ach ja. Ihr backt heute Nusszopf nicht?"

    „Ja. Eigentlich wollten wir lieber Apfelstrudel machen. Aber wir haben den Hefeteig noch nicht durchgenommen. Und da bleibt uns wohl nichts anderes übrig."

    Oweia. Jedes Mal wenn ich mit Oma Hefeteig gemacht habe ist der nicht aufgegangen.

    Ich gehe zur Schublade in der sich die Handtücher befinden und nehme die blaue Schürze heraus. Vorsichtshalber falte ich sie noch schnell auseinander. Es gibt nämlich noch eine Ähnliche auf der ‚Mamas Liebling‘ steht. Onkel Gustav hat sie Papa geschenkt damit er mehr in der Küche hilft.

    Als ich dann aus dem Haus gehe wirft Mama noch einen prüfenden Blick auf meine Ohren. Das hat sie sich so angewöhnt. Ich verdrehe die Augen während ich mir die Mütze aufstülpe.

    Ja, ich trage mein hässliches Hörgerät Frau 007!

    Dann stapfe ich los durch den Schnee in Richtung Schule. Phillip ist schon längst vorgerannt. Jetzt fällt mir ein, dass ich Mama gar nicht nach Geld für den Einkauf in der Papierabteilung gefragt habe. Ein Grund mehr den Kassenzettel nicht zu vergessen.

    Als ich unsere Lehranstalt erreicht habe sehe ich auch schon Evelyn die gerade ihr Fahrrad ankettet. Sie fährt bei jedem Wetter mit dem Drahtesel. Auch wenn sie bei diesem Schnee schon einige Schrammen eingefangen hat. Da kennt sie nichts.

    Ich pfeife sie an und sie dreht sich um. Ich schüttle missbilligend den Kopf.

    „Du hast schon wieder keine Mütze auf! Wie lange ist deine letzte Stirnhöhlenvereiterung her?"

    „Lass den Quatsch. Ich brauche nix auf dem Kopf."

    „Es gibt doch auch Ohrenwärmer. Die sind wieder in. Da lacht niemand über dich wenn du die trägst."

    „Du klingst wie meine Mom.", knurrt Evelyn und schultert ihren Rucksack.

    Ich grinse. Ich weiß genau warum sie lieber die klirrende Kälte und den Fahrtwind erträgt. Ihre Haare sind ihr heilig. Oder besser gesagt ihre Frisur. Heute hat sie sich für einen blauen Pony entschieden der ihr schräg ins Gesicht fällt. Die übrigen schwarzen Franzen hat sie sich mit Gel aufgerichtet. Sie trägt eine Kurzhaarfrisur seid ihre Haare an einem Silvesterabend Feuer gefangen hatten. Damals war sie neun. Aber es steht ihr super.

    Auf dem Weg zum Klassenzimmer beichte ich ihr, dass ich Phillip noch einen Gefallen tun muss. Ich merke ihr Schnaufen. Aber ich weiß genau sie wird mir sogar die Reiszwecken höchstpersönlich aussuchen.

    Dann wird sie abgelenkt weil Tom um die Ecke kommt. Die beiden sind nun ein Jahr zusammen, seit der Grillparty ihrer Eltern. Und Tom ist ein ganz anständiger Kerl mit hübschen Augen.

    Ich schäle mich aus der Jacke und kämpfe mit meinem Schal als ER in mein Sichtfeld tritt.

    Sofort werfe ich mich gegen die Wand und presse meinen Rucksack fest an mich. Mein Herz verwandelt sich in einen Trommelwirbel. Ach was, in ein ganzes Orchester. Wie kann der mich nur so aus der Fassung bringen?

    Dann bemerke ich, dass meine Reaktion völliger Blödsinn ist. Ich brauche mich doch gar nicht verstecken. Zum einen weil er mich ja eh nicht sieht. Zum anderen weil er sich gar nicht an mich erinnert. Er plaudert mit seinen Kumpels während er seinen weißen Stock mit der Faust zusammenschiebt.

    Er hat ein so schönes Lächeln. Sein dunkelbraunes Haar spitzt unter seiner Mütze hervor. Er hat einen lässigen Gang und man würde nie im Leben drauf kommen das er nicht sehen kann. Er trägt seine Sonnenbrille aber ich weiß, dass seine Augen haselnussbraun sind. Da seine Sehbehinderung nicht angeboren ist sehen sie fast normal aus. Er ist schneller vorüber als mir lieb ist und ich lasse meinen Blick langsam hinter ihm her tanzen.

    Nicht einmal Evelyn habe ich von meinem heimlichen Schwarm erzählt. Er scheint mir unerreichbar. Vor allem wenn ich sehe, dass Cleo unser hübscher Sonnenschein ungezwungen auf die Gruppe zugeht und das quatschen anfängt.

    Ich frage mich ob ich das wohl auch täte wenn es mir vergönnt wäre. Smalltalk halten. Ich muss kurz die Augen schließen weil es in meinem Inneren sticht. Wie sollte ich auf mich aufmerksam machen? Und selbst wenn mir das gelänge, wie geht’s dann weiter? Da er seine Umgebung ja nur durch Laute und Gerüche und Berührungen wahrnehmen kann bin ich absolut die Falsche zum kommunizieren.

    Ein Streich des Schicksals. Ich habe aufgehört zu zählen wie oft ich das schon im Kopf durchgespielt habe. Evelyn sagt ich bin hübsch. Sie meint ich sehe aus wie eine Fee mit meiner hellen Haut, den himmelblauen Augen und meinem langen weißblonden Haar.

    Es gibt tatsächlich Anhänger des männlichen Geschlechts die sich nach mir umdrehen. Das zumindest darf ich hin und wieder geschmeichelt feststellen. Doch auch damit kann ich in Bezug auf Fynn überhaupt nichts ausrichten. Also lächle ich melancholisch und hänge meine Jacke auf.

    In der ersten Stunde steht Erdkunde auf dem Stundenplan. Ich mag das Fach. Ich liebe Reisen und andere Länder. Gut, wenn man durchnimmt in welchen Abschnitten Deutschlands Kohle gefördert wird ist das nicht besonders exotisch. Aber immerhin. Ich zwinge mich dazu aufmerksam das Bild von der Tafel abzumalen. Warum sieht das bei mir nur immer so aus als hätte ein Fünfjähriger den Stift gehalten?

    Ich schiele zu Evelyn und muss feststellen, dass ihre wenigen Striche auf dem Blatt absolut perfekt aussehen. Sie bemerkt meinen Blick.

    „Hast du was?", fragt sie besorgt.

    Ich schüttle den Kopf.

    „Du wirkst so geknickt seit wir das Klassenzimmer betreten haben.", stellt sie fest und legt ihren Stift übertrieben sorgfältig auf den Tisch.

    „Ich kann einfach nicht zeichnen."

    „Naja, Hauptsache du erkennst es wieder wenn du es für die Probe lernen musst." Ihre Haarstacheln kitzeln meine Wangen weil sie sich zu mir rüber beugt.

    Dann hebt sie direkt unter meiner Nase ihre langen Wimpern.

    „Das  ist es aber nicht Schätzchen. Du grübelst. Ich weiß immer genau wenn du ein Karussell im Hirn hast." Sie setzt sich wieder aufrecht bevor Frau Gabler einen Schrei loslässt.

    „Und um was dreht es sich?" Ihre Augen lassen mich nicht los. Es ist fast der Selbe Röntgenblick wie Mamas.

    „Ist zu kompliziert als das ich es hier erklären könnte."

    „Na ein Glück verbringen wir den Nachmittag zusammen." Evelyn grinst.

    „Du wirst es mir doch sagen?"

    Das war nicht unbedingt eine Frage. Ich nicke langsam. Vielleicht hat sie ja einen Vorschlag.

    Es gibt Tage an denen ich mich frage warum ich eigentlich in die Schule

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