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In die grüne Tiefe hinab
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In die grüne Tiefe hinab
eBook384 Seiten5 Stunden

In die grüne Tiefe hinab

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Über dieses E-Book

Una versteht die Welt nicht mehr, als sie nach plötzlichem Tod in einem See wiedergeboren wird. Ihr Schicksal soll es nun sein, als Nymphe für dieses Gewässer zu sorgen – doch ihren Platz muss sie sich mit dem eigentlichen Herrn vom See teilen. Der ist gar nicht erfreut über den ungewollten Besuch und noch weniger, als er hört, dass Una keinesfalls vorhatte, ihm Konkurrenz zu machen …
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum12. Juni 2020
ISBN9783752902563
In die grüne Tiefe hinab
Autor

Daimon Legion

Geboren und aufgewachsen in Wurzen/Sachsen, verschlug es die Legion als (mehr oder weniger freie) Künstlerin nach Leipzig. Gegen alle Widerstände ist sie am Schaffen (schreiben, fotografieren, gestalten, zeichnen, malen und nähen). Ihr Interesse gilt Mythen, Legenden, Sagen und Märchen aller Art. Sie mag Feen, Kobolde, Monster, Geister, Lichtwesen und Dämonen, sowie Tiere mit Fell, Federn und Schuppen.

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    Buchvorschau

    In die grüne Tiefe hinab - Daimon Legion

    Zitat

    In manchem kühlen See

    steckt ein ganzes Labyrinth.

    In ihm fliegen keine Vöglein,

    in ihm weht kein Sommerwind.

    In ihm strecken sich die Toten

    nach dem Ausgang, nach dem Licht,

    das weit oben an der Grenze

    zur Vergangenheit zerbricht.

    Samsas Traum

    „Stirb, Kindlein, stirb"

    Prolog

    Zuletzt

    Da war diese Kälte. Überall um sie herum. Sie griff durch ihre Kleider, durch ihr Haar, unter ihre Haut. Diese elende, eisige Kälte. Sie fuhr in alle Glieder und lähmte ihren Körper. Wie ein Stein sank sie. Tiefer und tiefer, hinab ins Dunkel. Hinab in ein kaltes, nasses Grab.

    Am nachtschwarzen Himmel glänzten die Sterne. Der Mond war beinahe voll.

    Hilfe! Bitte …

    Ich will nicht gehen! Bitte helft mir doch!

    Irgendjemand …

    Bitte …

    Das weiße Leuchten traf auf die Wellen über ihr. Es funkelte wie Diamanten in den winzigen Luftblasen, welche lautlos an der Oberfläche platzten. Kleine Lebenszeichen, die von ihr aufstiegen.

    Warum?

    Die letzten Bläschen verließen ihre Lungen. Modriges Wasser drang in sie ein.

    Nein. Ich will nicht.

    Ihre Hand streckte sich nach oben aus. Dem Mondlicht entgegen.

    Schwach. Zu schwach.

    Ich will nicht sterben.

    Es war so kalt.

    So dunkel.

    Still …

    … kalt …

    1

    Was einst war

    Es heißt ja, im Augenblick des Todes sieht der Mensch sein Leben an sich vorüberziehen. Ob nun aus göttlicher Gefühlsduselei oder wegen bestimmter Enzyme im Gehirn, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es so ist. Und dass es bei mir kein ellenlanger Roman wird. Wenn ich so zurückschaue, muss ich zugeben, dass ich die meiste Zeit meines Lebens ziemlich verschwendet habe. Jetzt – am Schluss – fällt mir auf, dass ich mehr hätte tun können. Nicht nur für mich, auch für die Menschen, die mir hätten wichtig sein sollen.

    Ich hätte manches auch einfach lassen können. Mal meinen Verstand gebrauchen müssen! Dann wäre ich noch da. Aber für Reue ist es zu spät.

    Hallo, mein Name ist Una und ich bin sechzehn Jahre alt.

    Das ist nicht viel, ich weiß. Leute, die achtzig oder neunzig geworden sind, haben mehr zu erzählen als ich. Dennoch war es mein Leben. Ich habe gelebt. Mein Leben geliebt. Mit jedem Auf und Ab, mit jedem Streit, mit jeder Träne und aller Dummheit. Es war nichts Besonderes – sicherlich das normal-chaotische Leben eines jeden x-beliebigen Teenagers – aber es war meins.

    Und ich will davon erzählen, bevor ich ganz verschwinde.

    Meinen Namen hatte ich von meinem Vater bekommen. Sein Name war Marco und er arbeitete als Hausmeister bei der städtischen Wohngesellschaft. Ich fand, er war ein toller Vater – zwar nicht der beste der Welt, aber auch nicht der schlechteste. Ich konnte mich jedenfalls nicht über ihn beschweren. Er war ein riesiger Irland-Fan und mochte die Geistergeschichten von dort, weswegen für mich kein anderer Name infrage kam als ein irischer.

    Meiner Mutter hatte ich es zu verdanken, dass ich mich nie mit einer dieser schrägen Schreibweisen auseinandersetzen musste. Sie hieß Christine, war Bürokauffrau und immer die Überkorrekte in der Familie. Manchmal hatte mich das ganz schön genervt, aber zumindest brauchte ich ihretwegen den Leuten nicht ständig erklären, wie sie meinen Namen richtig auszusprechen hatten.

    Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die etwas gegen ihre komischen Namen hatten, fand ich meinen schön. In unserer kleinen Stadt war er einmalig. Es gab ja überall zig Leonies, Marias oder Annas. Aber bloß eine Una.

    Als Kleinkind war ich total niedlich. Mein Haar war so dunkelbraun, dass es fast schwarz wirkte. Mit meiner blassen Haut und den blauen Augen, die mit der Zeit grünlicher werden sollten, war ich für die alten Damen im Wohnblock gern das Schneewittchen. Das hatte mir viele Extra-Süßigkeiten eingebracht und ich musste nie lange betteln, um zu bekommen, was ich wollte.

    Vielleicht hat mich das etwas verwöhnt. Okay, ganz sicher hat es das!

    Das verzogene Einzelkind. Niemand konnte mir lange böse sein, egal, was ich anstellte. Ich hielt es für selbstverständlich. Doch das war es nie.

    Nichts ist je selbstverständlich.

    Mit fünf bekam ich einen Bruder und alle nannten mich bald „die große Schwester", was mich zunächst sehr stolz machte. Wie alle Kinder wollte ich schnell erwachsen werden und da kam diese Verantwortung wie gerufen. Ich dachte, es wäre witzig, kleine Geschwister zu haben … Bis die Windeln zum Himmel stanken und Kieran – wieder so ein außergewöhnlicher Name dank Papa – das halbe Haus zusammenschrie. Die ersten Monate fragte ich mich, warum ich mit diesem sabbernden Quälgeist bestraft wurde? Ich war es nicht gewohnt, plötzlich auf jemanden Rücksicht zu nehmen, der nur heulen, quietschen und kreischen konnte. Teilen wollte ich auch nicht und ich hasste es, wenn Kieran meine Spielsachen anknabberte oder sonst wie kaputtmachte.

    Doch irgendwann war seine Schreiphase vorbei. Nachdem er zu sprechen begann und ich ihn verstehen konnte, hielten mein kleiner Bruder und ich eigentlich zusammen wie Pech und Schwefel.

    Unser Familienleben konnte man harmonisch nennen. Ab und an gab es den üblichen Krach, allerdings war der auch bald wieder begraben. Mein Vater brach sich mal auf der Arbeit das Bein. Meine Mutter hatte einmal einen Auffahrunfall. Ich prügelte mich mit einem Jungen aus der Nachbarschaft. Kieran beschmierte im Kindergarten die Wände mit … na ja. Kleinigkeiten halt. Wir waren eine normale Familie. Relativ große Mietwohnung, alles Nötige in der Nähe, genug Geld – weder zu viel noch zu wenig. Ich wüsste nicht, dass es uns an etwas gemangelt hätte.

    Fast schon langweilig, oder?

    Ich kam mit sieben in die Grundschule. Sie machte mir zuerst Spaß. Ich konnte dem Unterricht folgen, hatte gute Noten und fand Freunde. Ich war nicht übermäßig beliebt, aber auch kein Außenseiter. Manchmal hatte ich Probleme mit den Jungs. Sie zogen die Mädchen gern an den Haaren oder Kleidern, und wenn mir das passierte, schubste ich zurück. Ich ließ mir nichts gefallen. „Auffällig, nannten mich die Lehrer. „Wildfang, sagte mein Vater und lächelte.

    Ich habe nie verstanden, warum sich Jungs und Mädchen am Anfang immer streiten müssen, wenn sie doch später zusammenfinden sollten. Belastet so was nicht eine Beziehung? „Ich weiß noch, was du für eine Kratzbürste warst …" Klingt irgendwie dämlich. Woran merken wir Mädchen, dass Jungs nicht bloß blöde Hunde sind? Und wann merkten die, dass nicht alle Mädchen dumme Ziegen waren? Vielleicht könnte mal jemand etwas daran ändern.

    In der Mittelschule sah mein Enthusiasmus fürs Lernen schon sehr viel anders aus. Auch, weil Streber noch nie besonders gern gesehen waren. Warum hatte ich nur solchen Wert darauf gelegt, was andere von mir halten? Hatte ich es so nötig, mich nach anderen zu richten? Was war aus dem kleinen Wildfang geworden? Ein Fisch, der mit dem Strom schwamm, um nicht aufzufallen …

    Den Bildungsweg über das Gymnasium schlug ich aus, weil sich bei mir die Langeweile breitmachte. Ich tat das Nötigste für meinen Zensurspiegel, um keine Versetzung zu riskieren, aber das war auch schon alles. Nach dem Unterricht erledigte ich meine Hausaufgaben schnell und unsauber, um kurz darauf auf dem Bett zu liegen, Chips und Schokolade zu futtern und die „geilen" neuen Videos auf meinem Smartphone zu checken. Klatsch im Internet – wenn du ihn nicht kanntest, warst du unten durch. Auch zog ich mit den damaligen Freundinnen um die Häuser; wir sprachen über Mode und süße Schauspieler und zockten per App mit Leuten, von denen wir niemanden wirklich kannten.

    Irgendwie ist die ganze Technik eine absolute Verschwendung von Zeit, oder? Ich dachte damals, es wäre spaßig. Cool, richtig stark und so erwachsen. Alle machten schließlich mit. Dabei hätte ich mehr auf Kieran achten müssen.

    Als ich dreizehn war, bekam ich meinen ersten Kuss. Von einem siebzehnjährigen Jungen. Wenn meine Eltern das je erfahren hätten, wären sie vielleicht strenger mit mir gewesen. Mama sah es lustigerweise nicht so eng, wenn junge Mädchen ihre heimlichen Erfahrungen machten. Vielleicht hatte auch sie geheime Dinge getan, von denen Papa nichts wusste. Er wäre wohl nicht so ruhig geblieben.

    Dieses Geheimnis wird meins bleiben. Nach zwei Wochen Geknutsche war eh Schluss. Teenagerliebe hält ja nie lang vor. Sie ist nur oberflächlich und leicht zu zerbrechen. Ich konnte mir zu dem Zeitpunkt nicht vorstellen, wie es wäre, jahrelang ein und denselben Partner zu haben. Was ist die Liebe überhaupt? Ich denke nicht, dass ich den Jungen sehr mochte …

    Leider werde ich nie alt genug sein, um von „Jugendsünden" sprechen zu können. Oder um die Liebe mit dem einen Mann gefunden zu haben.

    Mit vierzehn wurde ich echt ätzend und war ja so überzeugt davon, dass ich hübsch aussah. Trotz allem Süßkram war ich nicht aufgequollen wie ein Hefeteig und kein dürres Klappergerippe wie die Models in den TV-Shows. „Kurvig", hatte mich ein Verehrer genannt und ich fühlte mich gut dabei, ohne mehr darüber nachzudenken, was das bedeutete.

    Es war mir sehr wichtig geworden. Das Aussehen für andere. Das Ansehen bei anderen. Gerade bei den richtig coolen Jungs. Ich zählte laut einem Highscore zu den schönsten Mädchen der Schule und hatte fast täglich einen ungeschickten Liebesbrief unter meinem Schreibtisch. Meine Beliebtheit gab meinem Wort auch mehr Gewicht. Wenn ich etwas zu sagen hatte, hörte man mir zu; egal, ob es klug oder dumm war. Ich hatte mehr Beachtung als der öde Streber oder der freakige Nerd, auch wenn die mehr vom Fach verstanden als ich. Aber wer cool war, hörte nicht zu.

    Warum habe ich nie etwas für sie getan? Warum habe ich nie etwas gesagt, wenn die anderen sie mobbten? Ich sah nur weg. Ich wollte nicht, dass die anderen dachten, ich gäbe mich mit diesen komischen Typen ab. Ich hatte einen Status zu verlieren.

    Wovor hatte ich Angst?

    Scheinbar vor dem Alleinsein.

    Die Außenseiter sind viel mutiger als ich.

    Eines Tages kam Florian in unsere Klasse. Er war vom Gymnasium abgegangen und alle Mädchen begannen gleich auf ihn zu fliegen. Groß, schlank, sportlich gebaut, denn er ging zum Schwimmen und machte außerdem Kampfsport. Intelligent, witzig, charmant. Und er schaute voll süß aus. Hellbraune Haare, erste Bartstoppeln und sanfte braune Augen wie ein Reh. Sogar eine eingebildete Kuh wie ich war hin und weg, als wir das erste Mal begegneten.

    Er war damals leider auch der Grund für einen wahren Zickenkrieg, der die ganze Schule erfasste. Die Mädchen glaubten, in jeder anderen eine Konkurrenz zu sehen. Ich musste mit manchem Getratsche zurechtkommen. Zerstritt mich mit Freundinnen, verlor Bindungen. Es war die tägliche Hölle. Alle krempelten sich um.

    Florian war das nicht entgangen.

    Nach der Schule kam er einmal auf mich zu.

    „Irgendwie herrscht bei euch ein ganz schöner Stunk, wie?", versuchte er ein lockeres Gespräch.

    „In letzter Zeit schon. Bei einigen kochen gerade die Hormone über …", scherzte ich gespielt leichthin.

    „Bei dir aber nicht, oder?"

    Als ob er meinen schnellen Herzschlag spüren könnte. Meine feuchten Hände. Mein nervöses Blinzeln. Zum ersten Mal spürte ich diese wirren Schmetterlinge im Bauch, von denen die Verliebten sprachen. Er stand nah bei mir. Ich roch seinen Duft. Es war angenehm.

    War das die Liebe?

    „Ich denke, das Theater ist bald vorbei", lächelte ich schüchtern.

    Er nickte ernst. „Hoffentlich. Die sollten mal erwachsen werden."

    Erwachsen. In meinem Kopf wurde endlich mal eine nützliche Lampe eingeschaltet! Florian mochte dieses kindische, gestellte Getue nicht. Er war so anziehend, weil er anders war als andere. Seinen eigenen Weg ging. Sich nicht verbiegen ließ. Das war erwachsen.

    Noch am selben Abend bat ich meine Mutter, mir die langen, mädchenhaften Haare abzuschneiden, hin zu einer modischeren, fraulicheren Frisur. Sie war sehr überrascht und lachte, ob ich denn verliebt wäre. Seitdem trug ich eine Art stacheligen Pagenschnitt und war begeistert, als man mich beim Einkaufen an der Kasse auf über achtzehn schätzte.

    Die Lästerschwestern hatten natürlich nichts dafür übrig. Ich sah für sie aus wie ein Vogelnest und so …

    Mir war das egal. Ich nahm mir vor, mich nicht mehr nach anderen zu richten. Und Florian grüßte mich mit einem Lächeln im Flur.

    Mein letztes Jahr. Unser letztes Jahr.

    Wir bereiteten uns alle auf die Abschlussprüfung vor. Der Leistungsdruck wurde durch die Reibereien untereinander natürlich nicht besser. Einige standen stark auf Kippe. Ich schlug mich so durch. Verbrachte mehr Zeit allein auf meinem Bett beim Lernen, denn nun wollte niemand mehr um die Häuser ziehen. Freunde kommen und gehen im langen, langen Leben …

    Kieran kam oft zu mir ins Zimmer und wir redeten viel. Er war lieber bei mir als bei unseren Eltern. Die waren von ihm ziemlich enttäuscht, weil er an einer Tankstelle Kaugummis und einen Energydrink geklaut hatte. Sein Glück, dass er minderjährig war. Hausverbot bei der Tanke und Stubenarrest gab es trotzdem. Er war froh, dass ich ihm nicht auch noch sauer war. Dummheiten machte schließlich jeder. Bei ihm sammelten die sich allerdings schon an.

    „Lern doch mal draus", hatte ich ihm gesagt.

    „Ist doch eh bloß scheiße mit der ganzen Lernerei!", schimpfte er.

    Wann war aus meinem süßen kleinen Bruder dieser nörgelnde, fluchende, spuckende Freizeitdieb geworden? Ich hatte es nicht bemerkt. War ja mit mir genug beschäftigt. Ich hätte auf ihn aufpassen müssen. Ich war eine schreckliche, dumme Schwester gewesen.

    Bevor es wirklich ernst mit der Prüfung wurde, gönnte uns die Schulleitung noch ein letztes Mal Urlaub. Unsere Klassenfahrt sollte geplant werden und als Termin wurde uns eine Woche Anfang März genannt. Ich hatte von vornherein wenig Lust darauf, mit unserer zerstrittenen Gruppe ganze fünf Tage zu verbringen.

    Fünf Tage mit Florian zusammen erschienen mir dagegen sehr gelegen.

    Früher waren wir uns außerdem alle einig, wo es hingehen sollte. Heute hatte jeder einen anderen Vorschlag. Die einen wollten aufs Land, die anderen ans Meer, wieder andere in die Berge und noch mal andere hatten keinen Bock auf Natur. Sie wollten raus aus der Kleinstadt, hinein in die Metropole. Sie lockten die Mitschüler mit Events, Technik, Mode – halt alles, was cool, neu, angesagt war. Weil andere sagten, dass es cool, neu und angesagt war. Viele Menschen, viele Geschäfte, ein Haufen zu erleben.

    Nach wenigen Tagen Bedenkzeit hatten sie ihr Ziel erreicht. Wir würden eine Jugendherberge in der Großstadt beziehen, nah am Zentrum, dem Puls der Zeit. Und kaum, dass alles in die Wege geleitet war, fingen die, die diesen Vorschlag überhaupt erst gemacht hatten, an zu meckern. Zu teuer, zu leise, nicht die richtige angesagte Gegend …

    Hier konnte man es niemanden mehr recht machen. Ich war echt genervt von diesen Idioten.

    Wäre es fair, ihnen die Schuld an meinem Tod zu geben? An einem anderen Ort zu einer anderen Zeit wäre mir vielleicht nichts passiert. Aber jetzt ist es eh egal, wer Schuld hat.

    Am Abend vor der Abreise kam Kieran wieder in mein Zimmer. Ich packte gerade meinen Reisekoffer. Lud ihn voll mit den besten Klamotten, die ich besaß. Wollte ich zur Klassenfahrt oder auf den Laufsteg?

    „Viel Spaß die Tage", sagte er mit einem gepressten Ausdruck in der Stimme und drückte mich kurz. Kieran hatte mit dem Knuddeln aufgehört, seit er in die Schule kam. Ich war total überrascht.

    „Was ist los?", wollte ich wissen.

    Er zuckte die Schultern. „Du bist lang weg."

    „Und ich fehle dir jetzt schon?"

    Wieder Schulterzucken. „Wird scheiße ohne dich."

    „Ach, Quatsch, sagte ich und zerzauste ihm das Haar, „das wird schon. Mom und Dad können dir ja nicht ewig sauer sein, oder? Das ist bald vergessen, lass den Kopf nicht hängen.

    Er sah nicht sehr überzeugt aus.

    „Mach ihnen eine Freude, dann vergessen sie schneller", lächelte ich unbesorgt.

    „Und was zum Beispiel?"

    „Zeitung austragen, ehrenamtliche Arbeit, klasse Noten … Es würde auch schon reichen, wenn du dich von diesem Luca fernhältst. Der macht dir nur Schwierigkeiten, wenn er dich zum Klauen überredet."

    Der letzte Satz traf ihn hart. Er schämte sich.

    „Hör mal, sagte ich und zog ihn zu mir auf das Bett, „du kennst doch die alte Frau Weißbach …

    Kieran schaute wieder skeptisch. „Diese alte Hexe? Die ist doch fast hundert!"

    „Aber sie ist freundlich und hat einen süßen Hund. Du könntest ihr deine Hilfe beim Gassigehen anbieten. Oder ihr mit den Einkäufen helfen. Ich hab gehört, sie würde dafür auch bezahlen. Zeig Mom und Dad, dass du Verantwortung übernehmen kannst und nicht nur Mist baust. Dann wird alles wieder gut."

    Er seufzte. Nickte. „Ich kann es ja mal versuchen."

    „Eben. Überrasche mich, wenn ich zurückkomme."

    „Okay", sagte Kieran und drückte mich erneut. Diesmal war es ihm ernst.

    Tut mir leid, Brüderchen. Doch ich komme nicht zurück.

    Die Großstadt fanden schließlich doch alle aufregend. Die Menschenmassen, die vielen Autos, Straßenbahnen, U-Bahnen, Leuchtreklamen. Straßenkünstler an jeder Ecke. Und Bettler. Musik schien aus jedem Fenster zu tönen. Und Krach. Überfüllte Gehwege mit Fremden aller Art und Nation. Jeder hinterließ seine Spuren.

    Ich wusste nicht, ob ich diese Stadt hässlich oder schön nennen sollte. Ekel und Bewunderung auf beiden Seiten. Es gab so viel zu sehen. Genauso wie ich vieles nicht sehen wollte. Stress, Kreativität, Hektik, Humanität, Umweltaktionen, Schmutz, Gestank, Lärm, Gewimmel, Vogelgezwitscher.

    Auf einem großen Platz mit Wasserbecken und vielen wasserspeienden Pferden aus Kupfer machten wir eine Pause. Wir kauften Eis, Hotdogs, Burger und Döner. Weil die Papierkörbe überfüllt waren und Krähen zusätzlich den Müll verteilten, ließen viele Schüler ihren Dreck in der Gegend liegen.

    „Das machen alle so in der Großstadt!", behauptete Jonas.

    Die Lehrerin erzählte unterdessen den wenigen zuhörenden Mitschülern die Geschichte des Brunnens. Welcher Architekt gewirkt hatte; wie viel Geld in den Bau eingeflossen war; wie der Platz früher aussah; wie die Stadt im späten Mittelalter als Zusammenschluss vieler kleiner Siedlungen gegründet wurde …

    Mir fiel die Vorstellung schwer, dass einst Wiesen und Hügel die Landschaft geprägt haben sollten, wo jetzt bloß noch Stahl, Beton und Teer das Bild beherrschten.

    Unweit von mir besah sich ein Obdachloser den liegen gelassenen Abfall.

    Großstadt. Große Träume. Doch für einige gingen sie niemals in Erfüllung, bis sie die Reste anderer aßen. Ein kalter Schauer erfasste mich beim Anblick dieses Mannes. Sein Gesicht war so schmutzig, dass ich es kaum erkennen konnte. Er musste versucht haben, sich im Brunnen zu waschen, er war tropfnass …

    „Hier hast du was, Alter!", rief Sven und warf unerwartet seinen abgebissenen Burger dem Mann auf den gebeugten Rücken. Sofort keifte ihn die Lehrerin an. Sie drängte eilig zum Weitergehen – wohl, weil es ihr peinlich war, dass einer ihrer Schüler sich derart daneben benahm. An den Bettler richtete sie kein Wort der Entschuldigung. Sie schaute ihn nicht einmal an. Für sie war er kein Mensch, bei dem man sich entschuldigen müsste.

    Der Obdachlose sagte ebenfalls nichts. Er rührte sich nicht und sah nur zu, wie das Essen im Brunnen versank. Er machte ein trauriges Gesicht. Bestimmt hatte er Hunger. Da ich noch etwas von meinem Mittag übrig hatte, legte ich es beiseite, damit er es sich nehmen konnte. Zwar spürte ich, wie er mich anglotzte, doch ich traute mich nicht, den Blick zu erwidern und ging schnell meiner Klasse hinterher.

    Ob er mir leidtat? Jedenfalls hätte ich Sven gern eine dafür gelangt. Ich wünsche mir, dass er eines Tages genauso endet. Verspottet, verzweifelt und allein.

    Die Herberge war spartanisch eingerichtet. Die anderen Mädchen fanden die Betten zu grässlich oder zu hart, als dass sie sich je vorstellen konnten, darin zu schlafen.

    Es ist nur für vier Nächte, das wird ja wohl gehen, dachte ich mir.

    Florian sprach meinen Gedanken aus und setzt noch hinzu, dass keine von den Mädels die Prinzessin auf der Erbse war und daher niemand hofiert werden müsste.

    Die schnappten total ein!

    Ich musste lachen.

    Er war wirklich cool. Und geradeheraus. Ich hoffe, er wird es auch in Zukunft bleiben.

    Die nächsten zwei Tage waren wir in der Stadt unterwegs. Museen und Veranstaltungen wurden besucht, Denkmäler besichtigt, der Stadtpark mit seinen verschiedenen Freizeitangeboten und dem Stadion erkundet. Eine Führung über Brückenbau zeigte uns den breiten Fluss, der die Stadt zweiteilte. Ich sah einen bunten Schwan. Jemand hielt es für witzig, ihn mit Farbe zu besprühen. Er konnte noch so sehr untertauchen und sich waschen, der Lack ging nicht ab.

    Zum Ärger der anderen Schülerinnen, war Florian oft in meiner Nähe und wir sprachen über Belanglosigkeiten. Über die Familie, die Schule, die Prüfung. Er bot mir an, gemeinsam mit ihm zu lernen. Ich war sehr glücklich darüber.

    Am Donnerstag hatten wir nach dem Mittagessen Freizeit. Florian und ich gingen in der Nähe der Herberge spazieren. Wir hielten nicht Händchen oder so. Wir quatschten nur. Sahen uns die Grundstücke der Kleingartengemeinde an, die wie grüne Flecken in der Stadt wuchsen. Viele Sparten waren verwaist. In ihnen wucherte es dafür wild und gerade das gefiel Florian.

    „Ist doch witzig, sagte er, „selbst in so einer Betonstadt wächst die Natur ungebunden und frei. Wenn wir Menschen mal nicht mehr sind, wird das alles hier mit Grün überzogen werden. Die Erde wird uns überleben.

    Florian besaß kein Handy oder Smartphone. Er war ein Naturmensch und hasste Konsum und Werbung. Diese Klassenfahrt in die Stadt war für ihn der blanke Horror. Ich vergaß mein Smartphone immer häufiger auf meinem Zimmer und bemerkte endlich mal, wie entspannend es war, nicht ständig online zu sein. Wir belächelten die Menschen, die uns entgegenkamen und am Bildschirm klebten.

    So wie ich früher.

    „Die sehen nicht mal, was sie vor der Nase haben", spottete Florian.

    Hinter den Kleingärten gab es einen versteckten Sandpfad. Neugierig folgten wir ihm und waren erstaunt, dass er uns zu einem See führte. Ein grüner See inmitten der Großstadt, umzingelt von Hochbauten. Sogar ein kleiner Wald schloss sich fast ringförmig um das Ufer.

    „Das muss mal ein angelegter Badestrand gewesen sein", meinte Florian und zeigte auf ein Schild, auf dem verwittert, kaum noch lesbar stand: Baden verboten! Lebensgefahr!

    Bestimmte Schilder sollte man beachten.

    Er setzte sich in den mit Grasbüscheln bewachsenen Sand und schaute auf das Wasser hinaus. Ich hätte mich fast in eine Glasscherbe gesetzt.

    Überall lag vergessener Müll herum. Bei einer Feuerstelle war es besonders schlimm mit Zigarettenstummeln, Plastikflaschen, Dosen und leeren Verpackungen. Graffitis zierten Steine und Sitzbänke.

    „Sicher war das hier mal ein sehr schöner Ort, maulte Florian leise, „bevor all diese Trottel kamen. Auf alten Bildern sehen die Strände gepflegter aus. Da wurde der Schutzmann sauer, wenn du die Kippe einfach so fallen gelassen hast.

    Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich konnte schlecht alle Menschen als Trottel abstempeln, oder? War ich denn besser?

    Florian zog einen Schuh aus und ging zum Ufer. Das Wasser berührte seine nackten Zehen und er schüttelte sich.

    „Schweinekalt!", zischte er durch die Zähne.

    Ich lächelte. „Natürlich. Ist noch Winter."

    Er brummte etwas Unverständliches, zog den zweiten Schuh aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Dann stieg er mutig ins Wasser. Bis zu den Knien stand er in der Kälte und konzentrierte sich darauf, keine Miene zu verziehen. Doch schlussendlich war es zu viel und er hüpfte regelrecht zurück aufs Trockene. Fluchend rieb er seine rot angelaufenen Füße.

    „Was sollte das denn?", fragte ich verwirrt.

    „Ich wollte mal sehen, wie verweichlicht ich bin. Einige Leute gehen im Eis baden. Und ich komm gerade mal so weit …"

    Er schien zornig auf sich selbst zu sein.

    Ich fand das albern. Aber er war cool, er durfte das.

    „Hey!", kreischte eine Stimme über den See. Wir zuckten zusammen.

    Ein alter Mann im braunen Anzug stand hinter uns. Er ging mit seinem Rauhaardackel spazieren.

    „Ihr jungen Leute könnt wirklich keine Schilder mehr lesen, wie?! Baden ist hier nicht gestattet!", schimpfte der Alte streng.

    „Er war nur kurz mit den Füßen drin!", erklärte ich.

    „Trotzdem, wetterte der Alte weiter, „sind schon genug Leute abgesoffen, die nicht hören wollten. Ist kein Spielplatz. Und barfuß gehen ist hier auch nicht gut. Schneidest dich bloß, Junge.

    „Danke für die Sorge", gab sich Florian gelassen.

    Wir warteten, bis seine Füße etwas trockener für die Socken waren. Dann gingen wir zur Herberge zurück, bevor wir uns erkälteten.

    Mich kümmerte bald nicht mehr die Mahnung des Mannes. Immerhin verließen wir morgen die Stadt.

    Florian dagegen redete noch oft vom grünen See.

    In dieser letzten Nacht konnte ich nicht richtig schlafen. Ständig wachte ich auf. Mir war, als hörte ich immer wieder ein Rufen. Nicht meinen Namen, aber ein Rufen. Und doch war niemand außer meinen Mitschülerinnen im Zimmer. Sie schliefen alle, als ich aufstand, um auf die Toilette zu gehen.

    Draußen war es stockdunkle Nacht. Na ja, wobei in der Großstadt die Lichter nie ausgingen.

    Als ich fertig war, wollte ich eigentlich zurück ins Bett. Da hörte ich es wieder.

    „Hey."

    Leise, fast geflüstert. Zu deutlich aber für eine Einbildung.

    Ich drehte mich um. Im Halbdunkel glaubte ich, am Ende des Flurs jemanden stehen zu sehen.

    „Hey."

    „Florian?", fragte ich nach.

    „Ja."

    Ich wollte näher treten, doch sagte er: „Leise. Sonst hört man uns."

    Ich blieb stehen.

    „Was ist denn?", wollte ich endlich wissen. Sein heimliches Getue war merkwürdig.

    „Erinnerst du dich an den See?"

    Was für eine Frage. Wir waren doch erst dort gewesen. Was wollte er bloß mit dem See?

    „Klar?!"

    „Wir treffen uns dort. Ich will mit dir den Mond ansehen."

    „Den Mond?"

    Ich sah nach draußen. Tatsächlich war der Mond beinahe voll. Vor lauter Lichtabfall hatte ich ihn erst gar nicht gesehen.

    „Warum können wir ihn nicht hier -", doch er unterbrach mich.

    „Er ist viel schöner am See. Viel heller. Zieh dich an. Wir sehen uns dort."

    Was soll das werden?

    „Die Herberge ist abgeschlossen, und wenn die Lehrerin spitzkriegt -", versuchte ich den Unsinn seiner Bitte zu erklären, trotzdem schüttelte er widerspenstig den Kopf.

    „Ich habe für alles gesorgt. Ich erwarte dich dann."

    Er trat tiefer ins Dunkel.

    „Florian?"

    Hatte ich geträumt? Er war verschwunden.

    Was sollte ich also tun? Zurück ins Bett? Ihm folgen? Er stand doch wirklich hier, nicht?

    Ich schlich mich zurück ins Zimmer. Alles schlief. Schnell zog ich mir meine Jeans über die kurze Schlafanzughose und einen blauen Pullover über das Shirt. Dann folgten noch Anorak und Turnschuhe. Ich musste verrückt geworden sein, um auf eine derartige Verabredung einzugehen.

    Vielleicht … wieso sagte er so etwas? Wofür hatte er gesorgt? Was hatte er am See geplant?

    Mir ging vieles durch den Kopf. Ein Kuss? Der Kuss eines Jungen, in den man richtig verliebt war, musste etwas Besonderes sein. Heiß und süß dachte ich ihn mir aus und mir wurde schwindlig.

    Ach was! Die Haustür wird eh abgeriegelt sein …

    Aber sie war es

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