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Mein Leben mit Schuss: Wie Drogen mein Leben lange Zeit dominierten und ich mich unerwartet im Hospiz wiederfand, um zu sterben.
Mein Leben mit Schuss: Wie Drogen mein Leben lange Zeit dominierten und ich mich unerwartet im Hospiz wiederfand, um zu sterben.
Mein Leben mit Schuss: Wie Drogen mein Leben lange Zeit dominierten und ich mich unerwartet im Hospiz wiederfand, um zu sterben.
eBook491 Seiten7 Stunden

Mein Leben mit Schuss: Wie Drogen mein Leben lange Zeit dominierten und ich mich unerwartet im Hospiz wiederfand, um zu sterben.

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Über dieses E-Book

Dieses Buch ist aus zwei Gründen entstanden. Zum einen - und vordergründig - war es eine Selbsttherapie und zum anderen habe ich die Hoffnung, damit einige Menschen davon abzuhalten, oder zumindest zum Überlegen zu bewegen, nicht in diese Abwärts-Spirale zu geraten.
Ich erzähle völlig authentisch von meinem Weg in die Abhängigkeit von Drogen und auch Beziehungen, in all den Facetten von sowohl körperlicher als auch seelischer Gewalt, Gefängnis, Krankheit, bis hin zur Selbstaufgabe. Ebenso von meinem Kampf, in mein Leben zurückzukehren.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Okt. 2019
ISBN9783749734047
Mein Leben mit Schuss: Wie Drogen mein Leben lange Zeit dominierten und ich mich unerwartet im Hospiz wiederfand, um zu sterben.

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    Buchvorschau

    Mein Leben mit Schuss - Stefanie Karadas

    1

    Meine Kindheit, Jugendzeit und meine erste große Liebe

    Es war einmal in einer kalten, verschneiten Oktobernacht in einem kleinen, verträumten Dorf im Schwarzwald, da erblickte zu mitternächtlicher Stunde ein Kind das Licht dieser Erde. Ja, so einfach hätte meine Geburt von statten gehen können aber laut meiner Mutter war es die schwerste Geburt von all ihren vier Töchtern. Meine Mutter erlitt während sie in den Wehen lag über Stunden Unerbittliche Schmerzen. Ich lag in einer Steißlage aber dem Arzt gelang es mich in der Fruchtblase zu drehen. Meine Mutter gebar mich mit großer Anstrengung und der Arzt hatte nicht wie sonst zuerst ein Köpfchen in den Händen, sondern meine Füße, so als wollte ich mich dagegen wehren, geboren zu werden. Aus dem Mutterleib entschwunden hätte ich spätestens jetzt losbrüllen müssen. Aber wie? Kein Atmen war zu hören oder zu fühlen. Eine Nottaufe fand kurzfristig in der Kirche statt. Und dann schrie ich doch.

    Mein Name ist Stefanie und ich wurde am 19.10.1960 als jüngste von vier Töchtern geboren. Ich war das Küken in unserer Familie. Unsere Halbschwester Maria war die Älteste, zur Zeit meiner Geburt bereits verheiratet und lebte zwar noch im selben Dorf aber nicht mehr bei uns zu Hause. Ich war ein ruhiges, verträumtes und sehr schüchternes Mädchen. Aufgrund der kleinen Wohnung meiner Eltern, musste ich mit meinen zwei Schwestern Luzia, kurz Lucy, die sieben Jahre älter war, und der zwei Jahre älteren Liselotte, die von allen nur Lis genannt werden wollte, notgedrungen ein Zimmer teilen, mit Lis sogar das Bett. So kam es immer mal wieder vor, dass sie mir die Hälfte der Decke wegzog um mir zu demonstrieren, wer die Ältere war und von uns beiden das Sagen hatte. Meine Kindheit verlief für mich dennoch relativ unbeschwert. Ich ging in den Kindergarten, in dem ich mich mit fast allen gut verstand und Freundinnen fand. Ein Gespräch, welches ich eines Nachmittags zwischen meinem Vater und meiner Mutter heimlich mit anhörte, veränderte mein Verhalten grundlegend. Ich hatte verstanden, dass ich zwar ein Wunschkind aber eben wieder nur ein Mädchen war. Mein Vater hatte sich anscheinend einen Jungen, einen Stammhalter, gewünscht. So setzte ich natürlich innerhalb der folgenden Jahre alles daran, sowohl in meinem Verhalten als auch in meinem Aussehen, einem Jungen ähnlich zu sein. Aber egal, was auch immer ich tat, ich blieb ein Mädchen. Ich wurde ein kleiner Wildfang, frech, vorlaut und ich hatte immer das letzte Wort. Die andere Seite in mir aber war meine Schüchternheit, meine Introvertiertheit nahm immer mehr Raum in mir ein. In mir prägte sich eines ganz gravierend ein, nämlich, dass ich nicht so war wie ich sein sollte. Ich wusste oft nicht, wo mein Platz in meiner Familie war und so lernte ich mich hinten anzustellen und meine Bedürfnisse nicht mehr so wichtig zu nehmen. Zu dieser Zeit war mir nicht bewusst, wie sehr dieses Verhalten Einfluss auf mein zukünftiges Leben haben würde.

    Während meiner Grundschulzeit war Lucy schon so weit in ihrer Entwicklung, dass sie kaum noch etwas mit Kleinem-Mädchen-Kram anfangen konnte. So wurde Lis die Aufgabe zuteil, immer wieder mal auf mich aufzupassen und mich nach Möglichkeit überall hin mitzunehmen. Unsere Mutter arbeitete täglich für einige Stunden in einer Metzgerei und sie wollte keinesfalls, dass ich unbeaufsichtigt alleine zu Hause war. Den Unmut meiner Schwester darüber bekam ich dann früher oder später gnadenlos zu spüren. Als solches empfand ich es zu dieser Zeit zumindest. Heute verstehe ich den Ärger ihrerseits, denn immerhin war sie beinahe drei Jahre älter als ich und alles andere wäre ganz sicher für sie interessanter gewesen. Einmal, als wir alleine zu Hause waren, kam sie auf die Idee, dass wir uns gegenseitig die Haare schneiden könnten. Ich war hellauf begeistert, denn meine damalige Puppe konnte ich nicht einmal frisieren oder wenigstens kämmen, denn die Puppe und ebenso deren Haare waren aus Plastik. Eine kleine Schere, mit der man Papier schneiden konnte, besaßen wir zwar, zu viel mehr taugte diese aber nicht. Da unsere Mutter arbeiten war, liehen wir uns die Schere aus ihrem Nähkorb aus, sie würde sicher nichts dagegen haben. Wir hattenHaare, die meist zu zwei Zöpfen geflochten waren. Ich sollte mir meine Haare von ihr zuerst schneiden lassen, da sie ja schließlich die Ältere von uns war. Kaum war sie fertig damit, tastete ich mit den Händen meinen Kopf ab und erschrak wie leicht und kurz sich alles anfühlte und mit einem Blick nach unten sah ich, wie viele meiner Haare auf dem Boden lagen, all zulange aber dachte ich nicht darüber nach. Ich erhob mich von dem kleinen Hocker damit sie sich hinsetzen konnte, da ich ihr ja nun auch ihre Haare schneiden sollte. Aber das Einzige, was ich durfte, war mich von ihr auslachen zu lassen und zuzusehen wie sie sich mit ihrem Zeigefinger gegen die Stirn stupste und mir demonstrativ damit immer wieder den Vogel zeigte. Ich musste fürchterlich ausgesehen haben, denn als unsere Mutter nach Hause kam, gab's außer Geschimpfe erstmal für jede einen ordentlichen Klaps auf den Po. Am nächsten Tag nahm sie uns beide an die Hand und ging mit uns zum Friseur. Bei mir und meinen verschnittenen Haaren wurde gerettet, was noch zu retten war. Im Endeffekt hatten wir beide kurzes Haar vom Typ Topfschnitt. Genau kann ich gar nicht mehr sagen ob ich Lis bei unserer Mutter noch verpetzte, meiner Meinung nach hätte sie sich das ja mehr als nur verdient gehabt. Aber wahrscheinlich hatte sie einfach nur eins und eins zusammen gezählt. Das Rumgezicke ihrer zwei kleinen Mädchen war ihr ja nichts Neues.

    Aber auch als wir beide etwas älter waren, blieb meine Schwester nicht davor verschont, immer mal wieder auf mich aufzupassen. Sie war bereits in der Pubertät, traf sich oft mit einem Mädchen aus unserer Nachbarschaft und auch diese schien wenig erbaut darüber, mich ständig im Schlepptau zu wissen. Von daher war es keine Seltenheit, dass sie mich im Laufe eines Nachmittags einfach irgendwo in der Nähe absetzten mit dem Versprechen, gleich zu mir zurückzukommen und mich zu holen. Einmal saß ich auf einer Parkbank in der Nähe des Friedhofes und es begann langsam schon zu dämmern. Ich traute mich weder aufzustehen, noch alleine weiter zu gehen, sondern blieb einfach reglos sitzen in der Hoffnung, dass mich in der Zwischenzeit keine Geister heimsuchten. An einem anderen Tag sollten wir beim Bäcker Brot holen gehen und Lis schlug mir vor, den Weg über die Wiese zu gehen. Ich schlenderte mit ihr durch das Gras, doch dann sah ich den Bach und ahnte sogleich, was sie vorhatte. Sie sprang über den Bach, mit dem Wissen, dass ich noch zu klein war um es ihr gleichzutun. Doch ich versuchte es dennoch und erreichte mit meinem Sprung die gegenüberliegende Seite des Baches natürlich nicht und landete im Wasser. Ihre Schadenfreude war wie immer groß. Solche und ähnliche Streiche brachten ihr Spaß aber den Ärger hinterher mit unserer Mutter bekamen wir jedoch meistens beide zu spüren. Ganz oft aber war ich bei einer Nachbarin, deren Tochter zwei Jahre jünger als ich war, um den Nachmittag bei ihr mit Malen und Zeichnen zu verbringen. Ich mochte das Zeichnen, ich konnte mich damit für lange Zeit mit mir selbst beschäftigen, gedanklich als auch gefühlsmäßig ganz und gar darin versinken. Klar zog ich einige Zeit später auch kleine Vorteile daraus mit Lis mit zu müssen, denn es brachte ja hin und wieder auch gewisse Lerneffekte für mich mit sich. Um nicht meinetwegen auf einige ihrer Verabredungen verzichten zu müssen, nahm sie mich einmal zu heimlichen Treffs mit Jungs ihres Alters mit und somit wusste ich bereits schon mit zwölf Jahren was es mit dem Flaschendrehen auf sich hatte. Selbstverständlich erinnere ich mich diesbezüglich auch noch daran, wie fehl am Platz ich mich fühlte als der Flaschenhals auf mich zeigte und ich verschämt knallrot im Gesicht und eingeschüchtert einen von den Jungs auf den Mund küssen sollte. Das war ein Spiel unter Teenagern und dies war noch nicht wirklich interessant für mich, alle sahen in mir halt eben mal wieder nur die kleine Schwester von Lis, aber um einiges meiner Zeit voraus. Wenn es darum ging, mich wenigstens für eine kurze Zeit lang abzuschütteln, dann war ihr Einfallsreichtum grenzenlos. Sie ließ mich unaufhörlich spüren, wie lästig es ihr war mich überall hin mitnehmen zu müssen. Meine Mutter wollte auch des Öfteren, dass sie mich mit in den Keller nahm um Getränke zu holen. Da schloss sie mich gerne mal ein und ließ mich in dem dunklen, feuchten Keller zurück. Sie gab mir hämisch Tipps, ich sollte laut singen oder pfeifen, dann würden die Spinnen nicht so schnell kommen und mich fressen.

    Als ich etwa 14 Jahre war durfte ich endlich alleine Freunde besuchen gehen oder Freundinnen zum Spielen zu uns nach Hause einladen. Ich schloss mich dem Kinderchor und später auch dem Musikverein an. Nun war ich nicht mehr so sehr von Lis’ Willkür abhängig. Mit Lucy verstand sie sich prima, aber ich fühlte mich nie wirklich dazugehörig. Es war für uns alle drei nicht einfach, denn schließlich wollte jede im Zimmer mal zu ihrem Recht kommen. Lis musste für die Schule Hausaufgaben machen und brauchte die Ruhe, ich wiederum wollte Ruhe um Querflöte zu üben. Aber natürlich wurde entschieden, dass ihre Hausaufgaben für die Schule Vorrang hatten. Lucy war schon in der Ausbildung zur Arzthelferin und das bedeutete für uns beide, dass wir ständig Rücksicht zu nehmen hatten. Überhaupt sollte ich andauernd Rücksicht nehmen da unsere Eltern schon relativ alt waren. Meine Mutter war bereits 41 als ich zur Welt kam, mein Vater sogar schon 60. Somit war mein Vater bereits Rentner als ich in die Schule kam. So allmählich entwickelte ich eine regelrechte Aversion gegen dieses Wort Rücksicht. Es bedeutete für mich, dass ich störte und mich am besten unsichtbar machen sollte. Wollte ich etwas wissen, bekam ich des Öfteren zu hören Jetzt nicht. Du störst! Aber ich profitierte davon, dass sich meine Schwestern in ihrer Teenagerzeit schon viele kleinere Freiheiten erkämpft hatten, wie etwa die längeren Ausgehzeiten bei einem Besuch in der Disco oder einem Konzert. So durfte ich mit 14 Jahren in Begleitung schon mal etwas länger wegbleiben. Mit 15 fing ich an mir einen Ausbildungsplatz zu suchen und ich verbrachte deshalb relativ viel Zeit im Offenburger Arbeitsamt um mich zu informieren. Ich wollte einen Beruf erlernen, in dem ich auch ein Stück weit meine Kreativität leben konnte. Aber die Ausbildungsplätze waren rar und um einen Ausbildungsplatz zur Modezeichnerin oder Dekorateurin zu bekommen, welches ursprünglich mein Plan war, hätte ich zumindest einen Realschulabschluss gebraucht aber ich hatte eben nur meinen Hauptschulabschluss vorzuweisen. Einige Wochen später jedoch war per Annonce in der Zeitung ein Ausbildungsplatz zur Friseurin ausgeschrieben und sowohl meine Mutter als auch meine Schwester drängten mich förmlich dazu, mich zu bewerben. Ich bewarb mich daraufhin und konnte bereits zwei Monate später mit der Ausbildung beginnen. Es war zwar ganz sicher nicht mein Traumberuf, aber kreativ sein zu können war mir erst mal das Wichtigste.

    Fast parallel zu Beginn meiner Lehre verliebte ich mich obwohl ich mir noch Wochen zuvor absolut sicher war, dass außer David Cassidy niemand für mich in Frage kommen könnte. Ich hatte im Sommer am Baggersee schon öfter einen Jungen gesehen, war aber viel zu schüchtern um ihn anzusprechen. Auch konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass er Interesse daran haben könnte mich kennenzulernen, da er um einiges erwachsener und reifer wirkte. Im Herbst dieses Jahres ging ich mit meiner Freundin Julia zum Weinfest, wir setzten uns eher abseits auf eine Bank und bestellten uns etwas zu trinken. Es war ein lauer Sommerabend und die Stimmung war prächtig, es wurde getanzt, es wurde gelacht. Ich spähte weiter in die Runde um zu sehen ob vielleicht noch auch mir bekannte Menschen anwesend waren. Und tatsächlich, mein Herz machte einen Freudensprung, denn der Junge, der mir immer wieder am See aufgefallen war, saß einige Tische weiter zwischen zwei Jungs etwa im gleichen Alter. Just in dem Moment sah auch er mich an und ich spürte, dass mein Gesicht knallrot anlief und mein Herz zu rasen begann. Natürlich wollte ich nicht, dass er gesehen hatte, wie mein Gesicht sich rot verfärbte wie bei einem kleinen Mädchen, das sich bei etwas Verbotenem ertappt fühlte. Immer wieder trafen sich unsere Blicke und jedes Mal erlebte ich das gleiche wunderschöne Gefühl in mir. War das alles aufregend! Ich kann nicht mehr sagen, wer von uns beiden mit dem ersten Schritt auf den anderen zuging aber ich schätze mal, dass er es war. Sein Name war Jochen und nach einem schönen Abend begleitete ich ihn nach Hause und wir verbrachten die halbe Nacht im Flur des Hauses, in dem er mit seiner Familie wohnte. Was ich von dieser Nacht nie vergessen werde, war wie er alle drei Minuten die Treppe hoch ging um den Lichtschalter zu drücken damit wir nicht im Dunkeln stehen mussten. Von diesem Zeitpunkt an verabredeten wir uns so oft wie möglich denn wir beide waren Hals über Kopf in einander verliebt und jeder von uns wollte den anderen so oft wie nur möglich um sich haben. Was ich wunderschön und als sehr gutes Zeichen für unsere Beziehung ansah war, dass er im dritten Monat Anfang des Jahres und ich im dritten Monat Ende des Jahres geboren war.

    Jochen war zwei Jahre älter als ich und besuchte das Gymnasium in Gengenbach, die gleiche Stadt, in der ich meine Ausbildung begann. Es war immer wieder aufs Neue aufregend wenn ich ihn kurz vor meiner Mittagspause oder kurz vor Feierabend auf der gegenüberliegenden Rathaustreppe sitzen sah und wusste, dass er auf mich wartete. Ab dem Moment konnte ich es kaum erwarten neben ihm zu sitzen. Es war ein verdammt schönes Gefühl freudig von ihm erwartet zu werden. Entweder ich gesellte mich dann mit meinem Mittagssnack zu ihm auf die Treppe oder wir gingen Hand in Hand für eine Stunde im Park spazieren. Es war so wunderschön verliebt zu sein und die Stunde war immer viel zu schnell vorbei. Wie so oft während unserer Beziehung waren Jochen und ich mal wieder in der für uns angesagten Disco der Stadt mit einigen Freunden verabredet. Wir unterhielten uns, alberten herum, tanzten und hatten einfach unseren Spaß. Ich war so unsagbar stolz darauf, dass Jochen und ich uns gefunden hatten und ich mit ihm meine erste große Liebe erleben durfte. Wir saßen wie schon so oft am Tisch nahe am Ausgang, da es an dieser Stelle trotz laut dröhnender Discomusik noch einigermaßen möglich war sich in normaler Lautstärke zu unterhalten. An diesem Abend war ich ohne die Begleitung meiner Freundin Julia zur Disco gekommen und war somit nur von Jungs umgeben. Diese hatten andere Gesprächsthemen und ich konnte nicht überall mitreden da ich auch von allen die Jüngste war. Ich wollte kurz ein bisschen alleine sein, nahm meine Zigaretten und ging nach draußen um eine zu rauchen und kam mir dabei mächtig erwachsen vor. Kaum war ich draußen, zündete ich mir meine Zigarette an. Kurz darauf winkte mir ein junger Mann, der neben seinem Motorrad stand, zu und bat mich per Handzeichen um Feuer. Ganz selbstverständlich ging ich die Treppe runter ihm entgegen und reichte ihm das Feuerzeug. Und was dann geschah raubte mir sämtliches Vertrauen in die Menschen, in das Leben und auch in mich. Er schlug mir so dermaßen heftig ins Gesicht, dass ich mein Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. Er zog mich an den Haaren wieder hoch und schubste mich Meter für Meter in Richtung des Hinterhofs, worauf sich eine Autowerkstatt mit etlichen davorstehenden Autowracks befand. In einem davon verging er sich an mir mit so einer Brutalität, dass mir bei dem Gedanken daran heute noch ganz schlecht wird. Direkt nach der Vergewaltigung schlich ich mich unauffällig auf die Toilette und versuchte am Waschbecken alle Spuren abzuwaschen. Niemand sollte etwas davon erfahren. Ich ging zurück in die Disco, setzte mich zurück in unsere Runde und ließ mir nichts anmerken. Niemand ahnte etwas von dem, was geschehen war. Auch Jochen nicht. Aber ab diesem Zeitpunkt war mein Leben ein anderes. Es war meine erste sexuelle Erfahrung und ich fühlte mich schmutzig, gedemütigt und zutiefst verletzt. Ich wollte und konnte keiner Menschenseele davon erzählen. Ich schämte mich abgrundtief und hatte auch Angst, dass mir niemand Glauben schenken würde. Stattdessen verurteilte ich mich selbst und fing an alles in und an mir abzulehnen. Heute, vierzig Jahre später, ist mir klar, dass es so ziemlich das Dümmste war, was ich tun konnte, aber ich war zu diesem Zeitpunkt zu nichts anderem in der Lage.

    Seit diesem grauenhaften Erlebnis war ich unfähig zu jemandem Vertrauen aufzubauen, geschweige denn es zu jemandem zu haben. Ich wurde verletzt und wollte verletzend sein und biss um mich wie ein verwundetes Tier. Ich konnte den Menschen, von denen ich wusste, dass sie mich lieben, nur noch wehtun, in der Hoffnung, dass sie mich dann in Ruhe ließen und ich somit keinen Grund mehr hätte sie zu kränken. Niemand bekam das wohl mehr zu spüren als Jochen in den kommenden Wochen und Monaten. Natürlich blieb ihm meine Veränderung nicht unbemerkt. Er war für zwei Wochen in Südfrankreich und hatte wohl die Entfernung und seine freie Zeit dazu genutzt sich über uns und einiges in unserer Beziehung Gedanken zu machen. Ich konnte ihm keinen verlässlichen Grund mehr geben mir auch weiterhin sein Vertrauen zu schenken. In der Zeit nach der Vergewaltigung hatte ich mich zu oft mit ihm verabredet und ihn versetzt. Oder ich lud ihn und unsere Freunde zur Party zu mir nach Hause ein, wo wir auch alle in meinem Zimmer übernachteten. Aber sobald wir das Licht löschten und er und ich Zärtlichkeiten miteinander austauschten, wehrte ich ihn ganz plötzlich wieder ab und drehte ihm den Rücken zu, denn alles in mir war in solchen Momenten voller Widerspruch, Ekel und auch Ablehnung. Ich erinnere mich noch allzu gut daran, wie sehr ich ihn damit kränkte und werde das Unverständnis in seinen Augen wohl nie vergessen. Aber ich schaffte es einfach nicht ihm von meiner Vergewaltigung zu erzählen. Ich wusste, dass er wieder von Südfrankreich zurück war, aber er meldete sich nicht bei mir. Nach zwei Tagen liefen wir uns zufällig über den Weg. Auch er war überrascht mich zu sehen aber anstatt mir den erhofften sehnsuchts- und liebevollen Kuss zu geben überreichte er mir sehr eilig und förmlich einen Briefumschlag. Den Brief trug er bei sich, wissend, dass er mir irgendwann begegnen würde. Ich setzte mich auf die nächstbeste Treppe und öffnete den Umschlag. Der Brief war sein Abschiedsbrief an mich. Abschied von mir und unserer Liebe. Ich hatte das Gefühl als würde mir mit seiner Entscheidung der Boden unter den Füßen weggerissen. Wie versteinert blieb ich lange mit diesem Blatt Papier in der Hand auf dieser kalten Treppe sitzen in der Hoffnung, dass Jochen nochmal zu mir zurückkommen würde und sich alles als großer Irrtum herausstellte. Aber dem war nicht so und insgeheim wusste ich auch, dass Jochen nur so handeln konnte.

    Jetzt, vier Jahrzehnte später, weiß ich, dass ich nach dieser Zeit jedem Mann gegenüber misstrauisch war. Wenn ein Mann mit mir flirtete, ließ ich mich zwar oft ein Stück weit darauf ein aber es lief immer wieder nach dem gleichen Muster ab: Nach Wochen oder Monaten fing mir seine Nähe an zu viel zu werden und ich konnte es auch nicht mehr glauben wenn mir derjenige versicherte, wie viel ich ihm bedeutete. Im Grunde meiner Seele hatte ich einen Hass und eine Wut auf Männer und immer wieder war es nichts weiter als ein Spiel für mich. Ehrliche Gefühle gab es für mich nicht mehr. Ich wurde verletzt und genau diesen ungeheuerlichen Schmerz sollte mein Gegenüber ebenfalls erfahren. Ich verletzte Menschen, die mir lieb und teuer waren und tat mir selbst damit am meisten weh, aber zu nichts anderem war ich mehr fähig. Sie sollten genauso verzweifelt sein wie ich es war. Doch in Wirklichkeit half mir dieses Verhalten in keiner Weise. Meine Verbitterung und Wut auf das damals Geschehene wurde dadurch nicht weniger. Ich kam mit meinen Gefühlen immer weniger klar, dabei wollte ich doch nur wieder ein ganz normales, fröhliches Mädchen sein, welches wieder auch Spaß und Freude in ihrem Leben finden konnte.

    Aber ich machte zusammen mit meiner Freundin Petra meine erste Bekanntschaft mit Drogen und nach den ersten bekifften Tagen und Nächten war mir als würde ich ganz langsam etwas zur Ruhe kommen. Aber weit gefehlt! Natürlich blieb es nicht unbemerkt, dass ich mich veränderte. Ich verstrickte mich mehr und mehr in meinen Lügen. Mit meiner Mutter geriet ich oft schon morgens in Streit, weil trotz geöffnetem Fenster, Tag für Tag der gleiche, für sie seltsame Geruch in meinem Zimmer schwebte. Auch meine Pflichten, sei es nun im Haushalt oder für die Gewerbliche Schule, begann ich zu vernachlässigen. Ich legte sozusagen eine Null Bock Stimmung an den Tag und die Menschen um mich herum wurden immer misstrauischer. Innerhalb meiner Familie hatte ich das Gefühl, dass ich nur noch kritisiert und verbal angegriffen wurde. Ein Wort ergab das andere, ich konnte ihnen nichts mehr recht machen und eine Auseinandersetzung in einer angemessenen Lautstärke war zwischen uns schon gar nicht mehr möglich. Nein erklärte ich zu meinem absoluten Lieblingswort. Jede Art von Vertraulichkeit schmetterte ich ab und vom Gefühl her hatte ich bald kein zu Hause mehr, von einer Familie ganz zu schweigen. Ich war mittlerweile die einzige Tochter, die noch zu Hause wohnte und meine Eltern waren gnadenlos überfordert mit mir und der Situation, welche sich immer mehr zuspitzte. Meine Mutter bat meine Schwester Lucy um Unterstützung und diese kontaktierte telefonisch eine Drogenberatungsstelle in Offenburg. Zum ersten Beratungsgespräch begleitete sie mich und war auch während des Gesprächs mit dabei. Die darauffolgenden Termine einmal pro Woche allerdings nahm ich alleine wahr. Aber ich sah immer noch keine Notwendigkeit und keinen Sinn darin denn ich trank ja nur hin und wieder Alkohol und rauchte nur mal einen Joint. Doch so nach und nach gestaltete sich alles für mich immer nur noch komplizierter.

    Eines Tages beim Besuch bei Petra, die im nächstgrößeren Ort Gengenbach wohnte, wartete in ihrem Zimmer eine Überraschung auf mich. Sie holte aus ihrer Tasche ein Tütchen mit braunem Pulver, eine Einwegspritze und einen Kaffeelöffel heraus. Ich wusste in diesem Moment nicht, was das war. Der Anblick der Spritze erschreckte mich. Mir war alles andere als wohl dabei zumute, doch meine Neugier war geweckt aber vor allem wollte ich vor ihr nicht als Feigling dastehen. Sie erklärte mir, es handele sich dabei um Heroin. Als ich mich dennoch nicht traute mir die Nadel in die Vene zu piksen, übernahm Petra diesen Part. Mir wurde übel, ich weiß nicht mehr, wie oft ich mich übergeben musste, doch sie beruhigte mich mit den Worten, dass das die ersten Male jedem so erginge. Mein Selbstzerstörungsdrang war aber bereits so ausgereift, dass ich einige Wochen danach diese unangenehme Prozedur dennoch wiederholte. Mir war immer noch überhaupt nicht klar, was einige der Drogenabhängigen, die ich zwischenzeitlich kennengelernt hatte, an diesem braunen, bitteren Pulver so toll fanden. Doch bei jedem erneuten Mal empfand ich die Wirkung des Heroins als wohltuender. Die Abstände der Injektionen wurden kürzer, der Drang und ebenso die Gier danach immer stärker. Bald wollte ich das Gefühl, welches mir das Heroin möglich machte, nämlich mich mit meinen Erinnerungen, Gedanken und Ängsten in Watte gehüllt zu fühlen, nicht mehr missen. Ich wurde immer unzufriedener mit so ziemlich allem, was ich tat und war deswegen auch immer wieder auf der Suche nach dem Gift. Tatsächlich stand ich meinem eigenen Leben hilflos gegenüber und wusste wirklich nicht mehr weiter. Meine Familie und meine Freunde kamen genauso wenig wie ich mit meiner Veränderung klar. Wie denn auch, ich war mir ja selbst fremd geworden. Ich verstrickte mich immer wieder in Widersprüche und in Lügen, reagierte auf irgendwelche Fragen oder Hilfsangebote nur noch ablehnend und überwiegend aggressiv. Es war nicht zu verbergen, dass ich litt, ich konnte es aber auch nicht ertragen von jemandem umarmt oder getröstet zu werden.

    Es war als würde ich mich immer mehr von mir selbst entfernen, mich nur noch von außen betrachten. Ich wollte zu dieser Zeit so unauffällig wie möglich durch mein Leben schleichen und tat durch meine unmögliche Umgangsweise mit Menschen meines Umfeldes genau das Gegenteil. Mit einigermaßen offenen Augen träumte ich mich durch die Tage, so weit weg es vor meiner Realität eben ging. Das ewig zuversichtliche und fröhliche Wesen in mir hatte sich verabschiedet. Drogen wurden mehr und mehr zum Freund und Begleiter, durch die es gelang mich in meinem Leben immer noch einige Farben sehen zu lassen.

    Das Gemälde „Begrenzte Freiheit" entstand im Jahr 2014.

    2

    Kettenkarussell

    Bald war ein Tag ohne Drogen undenkbar, denn sie vermochten es mich wie in einem abgesicherten, geschützten Vakuum fühlen zu lassen. Ich beendete meine Friseurausbildung ohne meinen Gesellenbrief gemacht zu haben, in der Hoffnung, diesen irgendwann einmal nachzuholen. Die schriftliche und praktische Abschlussprüfung hatte ich mit Gut bestanden. Es stand lediglich noch das Gesellenstück, ein Haarteil geknüpft aus einzelnen echten Haaren, aus. Aber dank meiner damaligen Unfähigkeit überhaupt irgendetwas in meinem Leben noch ernst und wichtig zu nehmen, zog ich es vor, anstatt an meinem Gesellenstück zu knüpfen, mich lieber mit meinen sogenannten Freunden zu treffen und meine Zeit mit Kiffen, Haschisch rauchend zu verbringen. Ich war inzwischen 17. Einer der Bekannten, mit denen ich gemeinsam gekifft habe, war Felix. Zwischen uns entwickelte sich mehr, bald war es eine richtige Beziehung. Wir waren aufgrund unseres Drogengebrauchs hin und wieder in die Niederlande gefahren da es dort für uns wesentlich preisgünstiger war an Drogen mit guter Qualität ranzukommen. Auch stellte es keine Schwierigkeit für mich dar wenn mich jemand darum bat ihm ausnahmsweise ein Briefchen mitzubringen. Für mich war das in keiner Weise eine kriminelle Handlung, sondern ich tat lediglich jemanden einen Gefallen, wenn ich eh für mich Drogen hole konnte ich ihm auch gleich welche mitbringen. Wie naiv ich mit solchen Angelegenheiten umging war mir zu dieser Zeit überhaupt nicht bewusst. Es war illegal und kriminell aber es fühlte sich für mich nicht so an und auch Felix hatte keinerlei Skrupel. Gregor, ein gemeinsamer Kifferfreund, fuhr einmal mit nach Amsterdam, denn er hatte die größere Erfahrung und die besseren Kontakte als wir. Er war in Sachen krimineller Handlungen kein unbescholtenes Blatt aber auch das hatte ja nichts mit uns zu tun. Wir waren im gleichen Alter und fanden uns sympathisch, nicht mehr und nicht weniger. In Amsterdam angekommen legten wir etwas Geld zusammen besorgten uns Drogen und zogen uns in ein Hotelzimmer zurück. Ich fand die ganze Aktion schon deshalb spannend weil es etwas Verbotenes war. Ich schätze, dass ich mal wieder meine Grenzen austesten wollte. Jede Art von Gefahr hatte schon immer einen bestimmten Reiz auf mich ausgeübt, erklären konnte ich mir das nie. Bereits am darauffolgenden Tag fuhren wir, nicht unbedingt nüchtern, zurück und nach mehreren Stunden Fahrt luden wir Gregor bei sich zu Hause ab. Ich übernachtete bei Felix als morgens das Telefon klingelte und Gregor ihm mitteilte, dass bei ihm soeben die Polizei zugange war und eine Hausdurchsuchung vornahm. Wir sollten alles verstecken, was wir noch an Drogen besaßen denn die Polizei sei bereits auf dem Weg zu uns. Das bisschen Heroin, das wir noch hatten, spülte Felix umgehend die Toilette runter. Die Polizei klingelte an der Haustür Sturm, Felix öffnete und drei Polizisten mit einem Spürhund machten sich ans Werk. Es wurde nichts gefunden aber anscheinend hatte uns zuvor schon jemand telefonisch und anonym bei der Polizei angeschwärzt. Einige Zeit später bekamen wir einen Termin bei der Kripo, jeder wurde einzeln verhört und wir begriffen nicht weshalb hier so ein Aufstand gemacht wurde. Das konnte doch nicht angehen, dass sie uns wegen dem bisschen Heroin wie Schwerverbrecher behandelten ohne etwas bei uns gefunden zu haben.

    Vier Wochen darauf bekam jeder von uns die Anklageschrift per Post. Ich konnte es gar nicht fassen, was mir da vorgeworfen wurde. Ich stand ernsthaft unter dem Verdacht Mitglied einer kriminellen Vereinigung zu sein. Diesen Begriff brachte ich vielleicht mit Mitgliedern der RAF in Verbindung aber doch nicht mit mir wegen so einer Bagatelle. Weder hatte ich etwas mit Gudrun Enzlin gemein, noch Felix mit Christian Klar. Während der Gerichtsverhandlung schwitzte ich dennoch Blut und Wasser. Eigentlich war es schon beinahe vorbildlich mit welcher, sagen wir mal, majestätischen Körperhaltung ich auf der Anklagebank saß, nichts ahnend, was mir bevorstand. Dann stand der Staatsanwalt von seinem Stuhl auf, forderte und setzte sich wieder. Der Rechtsanwalt trat vor und plädierte. Draufhin zogen sich die Geschworenen erstmal zurück und meine Nervosität stieg von Minute zu Minute ins Unermessliche. Es waren nicht viele Zuschauer anwesend aber auch so schon fühlte ich mich wie sich ein Tier im Käfig fühlen musste, nämlich gnadenlos begafft. Die Geschworenen kamen mit ihren ernsten, bedeutungsschwangeren Mienen wieder zurück in den Gerichtssaal. Ein Mann trat vor den Richter und überreichte ihm ein Blatt Papier, dieser erhob sich von seinem Platz, hämmerte und sprach danach sein Urteil. Jeder von uns wurde zu 18 Monaten Gefängnisstrafe verurteilt. Mein Kopf fühlte sich an als hätte der Richter mit seinem Gerechtigkeitshammer nicht den Schreibtisch, sondern aus Versehen Teile meines Kopfes zertrümmert. Gregor wurde wegen Fluchtgefahr direkt nach der Verhandlung in Handschellen abgeführt, Felix und mir wurde mitgeteilt, dass uns der Termin für den Haftantritt per Einschreiben zugestellt würde. Die Gefängnisse waren anscheinend gnadenlos überfüllt und somit wurde uns sozusagen noch eine Galgenfrist gewährt. Wir redeten sehr selten über die Ängste vor der Haft, die uns unwiderruflich bevor stand, ich wollte mir dies selbst nicht eingestehen und ich denke, dass es Felix ebenso erging. Und dann war es soweit, jeder von uns erhielt per Post den Termin des Haftantritts, Ort und Name der Haftanstalt. Der Termin bei uns beiden war exakt am gleichen Tag, mit dem Unterschied, dass ich im Frauengefängnis Schwäbisch Gmünd und Felix im Ravensburger Männergefängnis die nächsten eineinhalb Jahre verbringen musste. Ab dem Tag kam ich immer mal wieder darauf zu sprechen und machte Felix den Vorschlag, dass wir gemeinsam mit der Bahn bis Stuttgart fahren sollten, bis sich dann eben unsere Wege für eine Weile trennen würden. Aber davon wollte er nichts hören, so als würde es nicht wirklich auch ihn betreffen. Immer mit dem Argument, dass er sich doch nicht freiwillig hinter Gitter begibt. Auch mir war bei dem Gedanke bald 18 Monate eingesperrt zu sein sehr unwohl zumute. Er dachte sich immer neue Möglichkeiten aus um der Haftzeit zu entgehen, neue gefälschte Pässe um in einem anderen Land unterzutauchen, ziemlich unrealistisch alles. Für uns sogar utopisch, da wir weder das Geld noch die Verbindungen hatten. Ich konnte ihn nach und nach davon überzeugen, dass sich unsere Situation nur verschlechtern und die Haftzeit sich eventuell dadurch noch verlängern würde falls wir ohne plausiblen Grund unsere Haftstrafe nicht pünktlich antreten würden. Also setzten wir uns an dem Morgen vor unserer Zugfahrt nach Stuttgart noch einen Schuss, damit wir nicht nüchtern miterleben mussten wie wir Kilometer um Kilometer die Freiheit hinter uns ließen. Am Stuttgarter Hauptbahnhof verabschiedeten wir uns in einer innigen Umarmung voneinander und wünschten uns gegenseitig viel Glück und ein gutes Durchhaltevermögen während unserer Zeit in Haft. Ich fuhr weiter nach Schwäbisch Gmünd und lief von dort zum Gefängnis. Noch relativ locker, mit meiner schweren Reisetasche um meine Schulter, ging ich auf die Pforte des Frauengefängnisses zu und klingelte. Ein älterer Mann öffnete mir das Tor und bat mich herein. Ich übergab ihm die Unterlagen mit dem Haftantrittstermin und meinen Personalausweis und dann ging alles irgendwie ganz schnell. Ich erschrak, wie viele Eisentüre auf- und wieder abgeschlossen wurden bis ich endlich von der Schließerin in Empfang genommen wurde, die mich kurz darauf in einen Raum führte und ich mich meiner privaten Kleidung entledigen musste bis ich ganz und gar nackt vor ihr stand. Sie trug Einmalhandschuhe und ging nicht gerade zimperlich mit mir um als sie meinen Körper abtastete um nach Gegenständen oder Drogen zu suchen, die ich mit eingeschleust haben könnte. Ich wartete nur noch darauf nun die Gefängniskleidung überziehen zu müssen, aber dem war zum Glück nicht so. Ich kannte das ganze Prozedere bisher ja nur aus Fernsehfilmen, aber dem ähnlich war das alles schon. Die Kleidung, die ich für die nächsten 18 Monate immer wieder am Körper tragen musste, war durch und durch in Mausgrau gehalten. Ein Lächeln bekam ich nicht zu sehen aber mir war zu diesem Zeitpunkt auch nicht nach einem Lächeln zumute. Ich war bepackt mit Bettlaken, Bett- und Kopfkissen-Überzug. Wir gingen einige Treppen nach oben, wo uns ein steriler langer Flur erwartete. Ich war schockiert, eine dunkle Zellentür folgte auf die nächste. Vor einer Tür machte die Schließerin Halt, schloss diese auf und kaum war ich drinnen, knallte die Eisentür hinter mir auch schon wieder zu. Eine Frau etwa in meinem Alter sah mir entgegen und lächelte mich kurz an. Ihre ersten Worte an mich waren je schneller du dich daran gewöhnst umso leichter wird’s für dich hier werden. Ich hatte das Gefühl als würde ich aus meiner Gefühlsstarre gar nicht mehr rauskommen. Doch der wirkliche Schock traf mich erst am nächsten Morgen als ich, wieder völlig nüchtern, meine Augen aufschlug und direkt auf ein vergittertes Fenster blickte. Die ersten Tage im Gefängnis hielt ich mich erstmal mit allem dezent zurück und beobachtete nur. So lernte ich schneller die Umgangsweise miteinander kennen und entschied daraufhin mich niemandem anzuschließen. Auch vermied ich es mich in irgendwelche Diskussionen oder Streitereien, welche hier anscheinend zur Tagesordnung gehörten, einzumischen. Nach einigen Wochen wurde ich lockerer denn ich hatte in etwa verstanden worauf ich hauptsächlich in den noch vor mir liegenden Monaten in Haft achten sollte. Mit so vielen Frauen auf so engem Raum zusammengepfercht, konnte über Monate nur gutgehen für mich, indem ich mich aus sämtlichen Intrigenspielchen raushielt. Wenn ich mal nicht umhin kam bei einer lauteren Debatte auch mal meinen Kommentar dazu abzugeben kam mir zum Glück immer wieder mein diplomatisches Geschick zugute. Dieser sich täglich wiederholende stumpfsinnige Ablauf hatte zur Folge, dass es für mich so nach und nach an Bedeutung verlor ob und wie sich die einzelnen Tage voneinander unterschieden. Welche große Freude jedoch als ich endlich nach zwei Monaten tatsächlich den ersten Brief von Felix in meinen Händen hielt. Ich war schon leicht versucht gewesen an der Glaubwürdigkeit des Gefängnispersonals zu zweifeln, denn mir wurde immer wieder versichert, dass für mich wirklich kein Brief mit in der Post gewesen war. Ich freute mich wie ein verliebter Teenager nun doch endlich mal von ihm zu lesen und öffnete dementsprechend voller Ungeduld den Umschlag des Briefes. Seine ersten geschriebenen Worte waren Lieber Spatz und schon bei diesen zwei Worten musste ich unweigerlich lächeln, denn ich dachte sofort daran, wie lustig ich es immer fand wenn er das Wort Spatz aussprach, ganz so als würde er seine Zunge nicht richtig hinter seinen Zähnen hervorbringen. Daran erinnerte ich mich gerne zurück. Doch seine darauffolgenden Worte waren alles andere als lustig für mich und tagelang war ich davon überzeugt, dass es sich dabei nur um einen Irrtum handeln konnte. Er schrieb mir, dass er schon lange mit dem Gedanken spielte sich von mir zu trennen und dieses hiermit tatsächlich auch tat, da ich die Ältere von uns beiden und die treibende Kraft bei unseren kriminellen Handlungen und somit verantwortlich war, dass wir beide eine Gefängnisstrafe absitzen mussten. Ich behielt den Brief noch zwei, drei Wochen bei mir, las ihn immer mal wieder durch, darauf hoffend doch noch den für mich entscheidenden Hinweis darin zu finden, dass dieser Brief nicht ernst zu nehmen war. Ich befand irgendwann morgens nach dem Erwachen, dass meine Augen nun genug Tränen geweint und mein Herz genug geblutet hatte. Aber dennoch weinte meine Seele leise bevor ich das Blatt Papier, wütend und traurig zugleich, in tausend Fetzen zerriss.

    Irgendwann war meine Gefängnisstrafe abgesessen und ich war wieder zuhause im Schwarzwald bei meinen Eltern. Meine Drogensucht brachte ich allerdings auch in die Heimat mit zurück. Die Drogen hatten noch eine ähnliche Macht über mich und dies blieb nicht ohne Konsequenzen. Die Lage spitzte sich zu und eines Abends hörte ich wie meine Mutter sich mit meiner Schwester Lucy unterhielt, es waren nur Gesprächsfetzen, einzelne Worte, die ich wahrnehmen konnte. Meine Mutter hatte vermutlich Lucy um ihre Hilfe gebeten. Aber was ich da in Bruchstücken zu hören bekam, jagte mir eine Gänsehaut nach der anderen den Rücken runter. Ich traute zuerst meinen Ohren nicht, aber die Worte Psychiatrie Emmendingen wiederholte Lucy immer wieder. Was ich dann auch hörte war, dass spätestens in einer Stunde ein Krankenwagen mich hier abholen käme. Dies war mehr als ich verkraften konnte, ich fühlte mich verraten und verkauft und für mich kam nur noch eines in Frage: Nichts wie weg hier! Ich rief Petra an und erzählte ihr, wo ich hingebracht werden sollte. Innerhalb von dreißig Minuten parkten sie und ihre Mutter zusammen vor unserer Wohnung und holten mich ab. Ich übernachtete erst mal die darauffolgenden Nächte bei einem Bekannten, fuhr anschließend nach Hause und packte einen Rucksack voll mit den für mich wichtigsten Sachen und ohne größere Erklärung verabschiedete ich mich von meinen Eltern. Wir waren alle drei damit überfordert, mit dieser Situation und unserer innerlichen Zerrissenheit. Kurzerhand beschloss ich mit Petra nach Berlin abzuhauen, obwohl ich keinerlei Vorstellung hatte, wie es für mich weitergehen sollte, doch im Grunde genommen war es mir auch egal wohin, ich wollte einfach nur noch ganz schnell weit weg. Das Paradoxe aber daran war, dass ich entgegen meiner Hoffnungen alles vergessen zu können, meine Erinnerungen an das grausame Erlebnis und die daraus resultierende verachtende Haltung mir und meinem Leben gegenüber überall mit hin nahm und mit mir herumschleppte. Das war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Ruhelos, ziellos, und ohne jegliche Zukunftsperspektive fuhr ich los nach Nirgendwo ins Niemandsland mit einem Rucksack voller Hoffnungen und Illusionen.

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    Flucht nach Berlin oder einfach nur weg

    In Berlin angekommen, wohnten wir für die erste Zeit bei einem Bekannten von Petra. Auch er war drogenabhängig und Tag für Tag am Rätseln wie es für ihn weitergehen könnte. Keine Ahnung, was ich mir von Berlin erhofft hatte, zumindest eine Abwechslung. Aber sehr schnell war mir klar, wie unerfahren, naiv und blauäugig ich doch war. Ich würde in dieser Stadt nichts an meiner verfahrenen Situation ändern können. Hier gab es keine Menschen, die mir ihre Hilfe anboten oder sich Gedanken um mich machten. Jetzt war

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