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Meine Entdeckungen als Kleiner Uhu
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eBook474 Seiten6 Stunden

Meine Entdeckungen als Kleiner Uhu

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Über dieses E-Book

Auf der Suche nach seinem Ich erkennt ein kleiner Junge, dass er zur Lösung eines weltpolitischen Problems auserwählt ist, das zeitgleich die Regierungschefs der Länder beschäftigt.
Zusammen mit seinem intelligenten, technischen Komplizen identifiziert er sich als ›Kleiner Uhu‹. Die Erfindung, an der die beiden arbeiten, wird an Weihnachten installiert – doch was wird passieren?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum29. Mai 2015
ISBN9783739270616
Meine Entdeckungen als Kleiner Uhu
Autor

Barbara von Thane

Die 1977 geborene Autorin hat Schulmusik, Musikpädagogik, Musiktheorie und Germanistik studiert und in Philosophie promoviert. Sie ist im Höheren Lehramt tätig und verwendet in der Belletristik ein Pseudonym.

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    Buchvorschau

    Meine Entdeckungen als Kleiner Uhu - Barbara von Thane

    Inhalt

    Was ich bin – Der Auftrag

    Was es ist – Die Erfindung

    Wie es ist – Das Geschenk

    Für V. David,

    L. Gabriel und K. Nikolaus

    1

    Was ich bin –

    Der Auftrag

    1

    »Und wer bist du?« wurde ich in meiner ersten Musikstunde gefragt. Ich nannte meinen Namen. So weit war die Sache klar. Es ist ja schließlich eine ganz gewöhnliche Frage. Jeder beantwortet sie mit seinem Namen. Und nach dem wird man ständig und bei jeder Gelegenheit gefragt. Niemand fragt jedoch »Was bist du?«. Weil jeder zu glauben meint, er wüsste, was der andere sei: ein Mensch. Kind oder erwachsen. Junge oder Mädchen. Mann oder Frau.

    So einfach kann das aber nicht sein. Das wäre auch viel zu langweilig. Denn wenn ein Junge einfach nur ein Junge und ein Mädchen einfach nur ein Mädchen wäre, dann wären Männer und Frauen nichts anderes als ausgewachsene Jungen und Mädchen. Wenn ich mir meinen Papa und meinen kleinen Bruder ansehe, glaube ich allerdings, dass es so einfach nicht sein kann. Die beiden haben eigentlich gar nichts gemein, außer dass sie hinter den gleichen Toilettentüren verschwinden. Mit dem Hosenmännchen drauf. Ich gehe meistens mit Mama mit. Obwohl ich Mama erst einmal in einem Kleid gesehen habe, nehmen wir immer die Türen mit der Kleidfigur drauf. – Ich mag gerne Kleider. Und lange Haare. Und schöne Frisuren mit Haarspangen. Aber ich darf weder Kleider noch Haarspangen tragen, obwohl meine Haare so lang sind, dass sie beim Hüpfen auf und ab wippen. Dabei gefällt mir all das so sehr. Es hat mir auch gefallen, als ich diese Sachen einmal heimlich ausprobiert habe. Zu Hause. Mit Mamas hohen Schuhen, umgewickelten Geschirrtüchern und Spangen, die meine Haare zu kleinen Palmen auftürmten. Mir hat das so gut gefallen, dass ich meinte, durchaus ein Mädchen sein zu können. Aber Mama lachte und hielt meinen Aufzug für eine gelungene Verkleidung. Mich ärgerte das. Weil sie sich plötzlich genauso anhörte wie die anderen, für die ein Junge ein Junge und ein Mädchen ein Mädchen ist. Wegen der Sache mit dem Zipfelchen. Aber so einfach kann das doch nicht sein! Ich stritt mit meiner Mama über die Frage, was ich eigentlich sei. Und wie immer, wenn ich über eine Sache anders denke als Mama, war ich am Ende sehr zufrieden. Denn Mama folgerte: »Auf jeden Fall bist du kein Mädchen.« – Das war doch mal etwas anderes! Sie hat mir klar gemacht, was ich nicht bin und offen gelassen, was ich tatsächlich bin.

    So konnte ich weiter über die Frage nachdenken, was ich bin.

    Ich bin verliebt. In ein Mädchen. Es ist größer als ich und sehr hübsch. Es heißt Marja. Eigentlich Maria. Aber um sie von den anderen vier Marias, die ich kenne, unterscheiden zu können, nenne ich sie Marja. Schließlich ist sie etwas Besonderes. Manchmal kommt mich Marja mit dem Auto besuchen. Es ist klein und niedlich. Wenn ich am Fenster stehe und sie erwarte, sieht es fast aus wie ein Spielzeugauto. Ich habe alle möglichen Fabrikate in meiner Modellfahrzeugsammlung. Nur dieses nicht. Weil es schon in echt zu klein ist. Darin ist nicht einmal Platz für eine Rückbank mit Kindersitzen. Trotzdem sieht es süß aus, wenn Marja mit dem motorisierten Winzling angerollt kommt. Und weil wir wegen der fehlenden Rückbank keine Spritztour zusammen machen können, spielt sie mit mir, wenn Mama und Papa abends allein unterwegs sind. Das kommt leider viel zu selten vor. Umso mehr freue ich mich auf diese besonderen Abende mit meiner Freundin. Sie ist lieb und witzig und lacht so viel. Und ich merke, dass sie mich auch sehr gern hat. Aber sie mag auch meinen kleinen Bruder Lenny. Er sagt, Marja sei auch seine Freundin. Dagegen habe ich nichts. Aber ich hoffe doch, dass sie mich mehr mag als ihn.

    Beim Zubettgehen kuschelte ich mich dann wie immer an Mama. Das Licht war bereits gelöscht. So traute ich mich, ihr zu sagen, dass ich verliebt bin. Ich wollte mehr über das Verliebtsein erfahren. Im dunklen Zimmer. Unter der weichen Bettdecke. Wir sprachen über allerhand komische Dinge. Zum Beispiel habe ich Mama erzählt, dass ich nie genau weiß, ob ich die Haustür öffnen soll oder nicht, wenn ich meine Freundin im Lichtschein vor der Haustür erblicke. Dann kribbelt es plötzlich so in meinem Bauch, und mein Herz klopft so schnell gegen meinen Hals wie ein Specht gegen den Stamm. – Es ist aufregend. Das Verliebtsein. Und weil es für sie genauso aufregend sein soll, möchte ich mit meiner Freundin etwas Aufregendes erleben. Am liebsten würde ich mit ihr in die Geisterbahn gehen. Ob sie sich wohl gruselt? Und kreischt wie die kleinen Mädchen? Ich nehme sie dann an die Hand. Ich grusel mich nicht. Ich hab ja keine Angst. Denn ich bin – verliebt.

    Wenn ich weiter darüber nachdenke, glaube ich, dass ich tatsächlich ein Junge sein könnte. Denn ein Junge verliebt sich in ein Mädchen, und ein Mädchen verliebt sich in einen Jungen. Ich mag sie, sie mag mich. Aber sie mag auch Lenny, meinen Bruder. Und der weiß ganz genau, was er ist.

    2

    Lenny ist anderthalb Jahre jünger als ich und trug bis vor Kurzem noch Windeln. Obwohl er immer sagte, dass er keine mehr bräuchte. Er sagt so alles Mögliche. Er redet den ganzen Tag. Am liebsten in Gegenteilen oder mit selbst erfundenen, neu zusammengesetzten, gereimten, verdrehten oder sonstwie verworrenenWorten. Er ist so eine Art Worterfindungs- und -verdrehungsmaschine. Diese unbezähmbare Quasselstrippe arbeitet den ganzen Tag mit dem Munde. Und hinterlässt dabei jede Menge hörbare, bisweilen auch sichtbare Spuren. Auf meiner Schulter, auf meinem Rücken, auf meinem Arm. Kleine Rillen in zwei Reihen übereinander. Er weiß genau, dass er das nicht darf. Wenn Mama und Papa ihn dabei erwischen, sperren sie ihn in den dunklen Keller. Das haben sie jedenfalls gesagt, als wir bei Tisch über Nachbars Rottweiler und diesen Boxer aus Amerika gesprochen haben. – Nein, ich meine nicht die Hunderasse, sondern den Sportler. Den, der seinen Gegner wie ein Raubtier gebissen hat und seine Strafe bei Wasser und Brot absitzen musste.

    Lenny hatte sich schaudernd ausgemalt, wie er allein bei Wasser und Brot im dunklen Keller sitzen sollte und schnell beteuert, mich nie wieder zu beißen. Jemand, der für sein Leben gern fette Wurst, weichgekochte Eier, Käsepralinen, Sellerie und Oliven isst und Halloween-Gespenster mit Schokolade zu besänftigen sucht, kann doch nicht auf Schmalkost gesetzt allein im Verlies hocken! Wem sollte er da die Ohren abquatschen? – Im Verlies gibt es keine Kunden! Also kann niemand etwas kaufen. Lenny würde keine Geschäfte machen. Und darin ist er doch Weltklasse! Schnell und geschäftig hin- und herlaufend schafft er es, einem in kürzester Zeit irgendwelches Zeug aufzuschwatzen, das man in hundert Jahren nicht brauchen wird. Darin gehe ich ihm immer wieder auf den Leim. Wenn wir Kaufmann spielen. Er ist in dieser Rolle einfach nicht zu übertreffen. – Ein erstklassiger Verkäufer!

    Mir liegt das viele Reden nicht sehr. Ich bin ein stiller Denker, Beobachter und Baumeister. Mama hat mich mal als ›den größten Konstrukteur aller Zeiten‹ bezeichnet. Weil mich die Bau- und Funktionsweise von Maschinen und Fahrzeugen so wahnsinnig interessiert, dass ich alle nur erdenklichen Renn- und Baufahrzeuge sowie Land- und Flugmaschinen aus Lego nachbaue und eigene Modelle erfinde. Diese lässt sich Mama immer ganz genau von mir erklären. An einem Sonntag habe ich Mama und Papa, Oma und Opa, die in der Wohnung unter uns wohnen, und meinen Bruder Lenny in meine eigene Modellfahrzeugausstellung eingeladen. Ich hatte die Fahrzeuge aus Lego gebaut und alles so aufgebaut wie in einem Museum. Die Oldtimer auf erhöhten Plattformen, Geländewagen, Sportwagen und Limousinen auf Pfosten gestützt, und bei jedem Fahrzeug eine technische Besonderheit vorgestellt.

    So etwas hatte ich mal gesehen. Als wir in den Bergen waren. Und weil es auch im Urlaub manchmal Regentage gibt, gingen Mama und Papa mit uns – nein, nicht ins Museum. Da waren ja schon all die anderen, denen das Wetter zu schlecht erschien! Wir gingen stattdessen zum Frisör. Genau genommen zu einer Frisörmeisterin, die gewohnt war, Leute zu frisieren, die sich ihren Termin offenbar so fest in den Kopf zementiert hatten, dass sie selbigen nicht mehr bewegen konnten. – Und dann kamen wir! Lenny und ich. Zwei Kinder! Ohne Termin, aber mit höchst beweglichen Köpfen. Und neben uns eine Wand, die ich aus dem Ballettsaal der Musikhochschule von Papa kannte: eine riesige Spiegelwand, an der ich zu gerne mal dieses lustige Veränderungsspiel mit dem Groß- und Klein- und Dick-und Dünnwerden ausprobiert hätte! In dem Moment aber, in dem ich den Spiegel nur ein wenig berührt hatte, war klar, dass es kein Spiegel-, sondern ein Gruselkabinett war. Mit einer Scherenhexe, die hektisch und keifend um Lenny und mich herumtänzelte und Horrorgeschichten von Ruderern erzählte, die vom Schlick des heimischen Bergsees gefressen worden seien. Es war zum Totlachen! Nachdem wir an den heißen Sommertagen wieder und wieder auf diesem überschaubaren See umher gerudert waren. Und mit uns Hunderte von anderen Urlaubern. – Aber wir durften nicht lachen. Nicht einmal atmen. Die Hexenmeisterin bestand nämlich darauf, dass Mama unsere Köpfe so festhielt, dass wir gerade noch die Luft anhalten konnten. Beim geringsten Hauch wäre womöglich der gespannte Riesenspiegel in tausend Scherben zerbrochen. Als ich nach dem Haareschneiden die beiden anderen Gestalten auf den Frisierstühlen besah, war ich ehrlich gesagt nicht sicher, ob das nicht vielleicht Mumien gewesen waren. Die bekamen doch immer so einen besonderen Kopfschmuck. Mit viel Farbe. Warum also nicht Perücken mit Bleikristall? Jedenfalls haben wir alle nach diesem Hexenspuk einen furchtbaren Lachanfall bekommen. Und beschlossen, beim nächsten Regenwetter lieber Bummelbahn oder Taxi zu fahren, um über derlei heimatlichen Spuk in Tratsch- und-Klatsch-Geschichten auf dem Laufenden zu bleiben. Das erschien uns wesentlich harmloser als diese… – wie heißt nochmal das altertümliche Wort für ›Frisörin‹? – … ja, genau: diese Barbie mit Bleikristallspiegel und Kinderallergie!

    Im Museum waren wir dann am nächsten Tag. Nicht etwa, weil es geregnet hätte, sondern weil wir es so wollten. Lenny und ich. Allerdings mussten Mama und Papa Lenny vorher versichern, dass wir keine ausgestopften Tiere anschauen würden. Sie versprachen ihm, dass wir gewissermaßen das Gegenteil besichtigen würden: nichts Gehörntes, nichts Behuftes, weder lebendig noch ausgestopft, nicht einmal aus Plüsch. Stattdessen: Technik. Die nackte Technik! – Er war einverstanden. Weil er eigentlich immer vom Gegenteil überzeugt ist. Und weil er sich nicht fürchten musste. Und: Er war begeistert, obwohl die Ausstellung eigentlich gar nicht für Kinder war. Vielleicht waren Lenny und ich gerade deswegen so fasziniert. Weil alles echt war. Und funktionierte. Ich durfte den Rotor eines echten Hubschraubers in Gang setzen. Das war wahnsinnig! Es gab Militär- und Rettungshubschrauber. Man konnte über fahrbare Treppengestelle zu den Cockpits hinaufsteigen und die vielen Hebel, Knöpfe und Schalter anschauen. Über uns hing ein Doppeldecker, daneben ein Drachenflieger. Mit festen Koordinaten. Ohne Landemöglichkeit. Krampfhaft einen Triangel umklammernd. Ohne Klangerzeugung. Wie ein Patient am Triangel eines Bettgalgens. Nur ohne Schmerzen. Ein verhinderter Freiflieger als eingefrorener Schnappschuss. Und dann gab es dort natürlich – wie bei mir – die verschiedensten Autos zu bestaunen. Neu waren für mich Oldtimer mit Flügeltüren. Ich durfte mir einen aussuchen. Ich wählte schwarz. Den mit dem Stern drauf. 300 SL. Ich habe dieses Modellauto auf der siebenstündigen Heimreise unzählige Male in seine Einzelteile zerlegt und wieder zusammengesetzt. Wie alle Autos aus meiner Modellfahrzeugsammlung. Danach habe ich zu der neu entdeckten Technik eigene Versuche mit Lego gemacht.

    So kam ich überhaupt erst auf die Idee, neue Lego-Fahrzeuge in einer eigenen Museumsausstellung vorzuzeigen. Natürlich exklusiv. Nur für VIP-Gäste. Gäste des Hauses sozusagen. Und meine Besucher waren begeistert von den neuen Modellen. Sie haben sich alles genau angeschaut. Die Fragen zur Technik habe ich ausführlich beantwortet. Nebenbei habe ich höflich darauf hingewiesen, dass die Ausstellungsstücke nicht angefasst werden dürften. Also schauten sie. Sie schauten und schauten und schauten. Niemand berührte etwas. Auch Lenny nicht. Und obwohl sich niemand bewegte, sondern alle ins Betrachten versunken und mit Staunen beschäftigt waren, strömte etwas durch die Luft. Und dieses Etwas machte mich sehr glücklich.

    Zum ersten Mal hatte es Besucher in meiner eigenen Lego-Modellfahrzeugausstellung gegeben! Wenn ich Mama richtig verstanden habe, zeigen Modelle in klein, was es in Wirklichkeit in groß gibt. Zum Beispiel Schiffe. Oder Flugzeuge. Sogar Häuser. Und Kirchen. Ganze Städte! Und natürlich – Autos. Davon habe ich ja, wie schon gesagt, eine ganze Sammlung. Aber wenn ich mir vorstelle, dass später mal eines meiner Lego-Modelle in echt gebaut werden sollte… – Das wäre der Coup! Dann würden meine Besucher nicht in ein Museum, sondern in große Fertigungs-und Verkaufshallen kommen, um meine Fahrzeuge zu besichtigen. Die Fragen zur Technik könnte ich ganz genau beantworten. Aber verkaufen? Leute in Grund und Boden quatschen? Versichern, dass ihnen etwas so Einzigartiges und Noch-nie-Dagewesenes, das Neuste vom Neusten, das Beste vom Besten, der Wahnsinn auf Rädern nirgendwo sonst garantiert sei? Das liegt mir nicht. Das bringe ich nicht! Das kann ich nicht… – Ich nicht. Aber er. Der kleine Fleischwolf. Nein, nicht der aus der Weihnachtsbäckerei. Der aus dem Nebenzimmer: Lenny. Er hat tatsächlich so hellblaue Augen wie ein kleiner Wolf, und er dreht den ganzen Tag Wörter durch die Maschine. Durch die Worterfindungs- und -verdrehungsmaschine, die er selbst ist. Der kleine Fleischwolf. Ich habe ihn zum Verkäufer meiner späteren Erfindung erwählt, weil ihm so etwas liegt. Und weil ich ihn mag. Er ist ein Spinner. Ein unterhaltsamer Spinner. Witzig. Und immer gut gelaunt. Ein lustiger Typ! – Dennoch werde ich ihn im Auge behalten. Weil ich nebenbei herausfinden muss, ob an der Fleischwolf-Theorie etwas dran ist. Ich werde beobachten, ob sich seine Augenfarbe auf wolftypische Weise verändert… von Blau zu Gelb.

    Wenn ich Lenny fragen würde, ob er ein Wolf ist, würde er kurz und knapp ›Nein‹ sagen. Wie letztens bei Tisch, als sich dem Essensduft ein auffallender Müffelgeruch beimischte und Mama meinen Bruder mit prüfendem Blick fragte, ob er vielleicht ein Skunk sei. Oder ein Kakadu. Oder ein Mufflon. Nachdem Lenny alles kurz und knapp verneint hatte, fragte Mama ihn, was er denn sonst sei. Darauf hatte er mit überzeugtem Blick geantwortet: »Ein ganz normaler Mensch«.

    Ihm ist also völlig klar, was er ist. Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: kurz, schnell, zielsicher. Treffer.

    Und ich?

    3

    Ich weiß immer noch nicht, was ich eigentlich bin. Der Gedanke, dass ich den Menschen einmal eine großartige technische Erfindung vorstellen könnte, gefällt mir. Weil ich so gerne forsche. Die Dinge untersuche. Und neu zusammensetze. Ich – ein Forscher, ein Entdecker, ein Erfinder. Warum nicht? Erfinder sind allerdings immer groß. Erwachsen. Bisher hat noch kein Kind eine Entdeckung gemacht, die das Denken und Leben der Menschen verändert hätte. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Erwachsenen uns Kinder nicht immer richtig verstehen. Sie würden unsere Entdeckungen nicht ernst nehmen oder uns nicht glauben. Sogar den größten Entdeckern der Welt haben die Menschen oftmals nicht geglaubt. Jedenfalls nicht sofort. Sie hatten Angst. Vor dem Neuen. Sie wollten nicht, dass sich für sie und die Welt etwas veränderte. Nichts Gewohntes für etwas Ungewohntes aufgeben. Und wenn die Menschen das Neue so sehr ablehnen, dass sie es mit ihren Gesetzen bekämpfen, dann lebt man als Entdecker gefährlich. Man muss beweisen, dass das Neue besser oder richtiger ist als das Alte. Aber… – kann man denn alles beweisen?

    Als die Menschen vor langer Zeit glaubten, die Sonne würde um die Erde kreisen und Forscher das Gegenteil behaupteten, haben sie sie eingesperrt. Oder ihnen noch schlimmere Strafen angedroht. Ja, manchmal taten sie ihnen tatsächlich Schlimmeres an! Wenn die Forscher nicht genügend Beweise für ihre Entdeckungen liefern konnten. Oder wenn die Menschen das Richtige im Neuen nicht erkennen konnten. Wie zum Beispiel in den Botschaften Jesu. – Später verehren sie diese Neuerer dann. Nachdem sie ihnen Unrecht getan haben. So auch einen jener Forscher, die herausgefunden haben, dass die Erde um die Sonne kreist. Und nicht die Sonne um die Erde. Seinen Namen kann ich mir nie merken. Er ist irgendwie schwierig. Klingt immer nach einem Sprechfehler. So eine Art falscher Versprecher. Weil der Nachname fast genauso klingt wie der Vorname. Etwa, als wenn mein Bruder Lenno Lenny hieße. Aber Namen sind mir auch nicht so wichtig. Mich interessiert vielmehr, was ein Mensch ist, nicht, wer er ist. Und schon stellt sich mir wieder die Frage, was ich bin.

    Ich bin klein. Ein Kind, das noch wächst. Das bauen, aber noch nichts Großes, Weltveränderndes erfinden darf. Weil sie mich nicht verstehen würden. Und ein Kind dürften sie nicht einsperren. Ein Kind darf nicht in Gefahr geraten. Auf Kinder muss man aufpassen. – Das tun die Großen. Sie wissen alles, sie dürfen alles, sie können alles. Manchmal glaube ich allerdings, dass auch sie noch viel größer sein wollen als sie schon sind. In Büchern und Zeitschriften habe ich Bilder von Riesenpyramiden, Wolkenkratzern und Türmen gesehen, die bis zum Himmel hinauf ragen. Gegen diese Bauten sähe auch der größte Mensch der Welt aus wie eine Spielzeugfigur! Das Gruseligste aber, das ich mal gesehen habe, sind hoch und quer aufeinander gebaute Steinklötze. So groß wie Felsen. Sie sehen aus wie Tore für Riesen. Die könnten da bequem hindurch laufen und Packen spielen! Immer im Kreis herum. So sind die Steinbrocken nämlich aufgebaut. Aber obwohl sie so riesig und schwer sind, lassen sie viel Licht und Luft hindurch. Die Steinriesen verschließen, verdunkeln und ersticken nichts. Sie öffnen sich der Sonne und atmen Licht und Wärme. Das gefällt mir. Aber ich frage mich, wie die Menschen vor so langer Zeit diese Steinriesen aufgestellt haben konnten. Denn auch in England hatte es längst noch keine Kräne gegeben!

    Ich muss an Obelix und die Hinkelsteine denken. Einen Kessel mit Zaubertrank. Übermenschliche Kräfte. Meister Proper in längsgestreiften Hosen… Und dann die rätselhafte Bedeutung der Steine! – Irgendetwas ist an der Sache nicht geheuer. Deswegen machen die Forscher heute immer neue Entdeckungen, mit denen sie das Geheimnis lüften wollen. Aber keinem ist es bisher wirklich gelungen. Für mich sehen diese Steintore aus wie Altäre. Altäre kenne ich aus der Kirche. Der Pfarrer steht dahinter und verwandelt Wasser in Wein. Das ist auch schon wieder so ein Ding. Ich habe bis heute nicht verstanden, wie er das eigentlich schafft. Obwohl ich ein aufmerksamer Beobachter bin. Wahrscheinlich ist das auch wieder so etwas, was man nicht beweisen kann. Auf jeden Fall habe ich aber beobachtet, dass man von dem Pfarrer hinter dem Altar immer nur den Oberkörper sieht. So ähnlich wie bei den Nachrichtensprechern im Fernsehen. Nur, dass die einen Stuhl haben, während der Pfarrer hinter dem Altar steht. Wenn ich mir nun vorstelle, dass es jemanden geben sollte, der im Stehen über die Steinaltäre hinweg schauen kann, dann müssten es Monsterriesen sein, die dort Wasser in Wein verwandelten. – Eine gruselige Vorstellung.

    Bei Gruseln muss ich an meinen Bruder denken. Weil er sich schrecklich vor Gespenstern gruselt. Da macht es so richtig Spaß, Gespenst zu sein. ›Hu-huuuh. Hu-huuuh. Hu-huh-huuuuuuh!‹ Als Gespenst bin ich vor ihm sicher. Denn er würde sich nie trauen, ein Gespenst zu beißen. Eigentlich ist er ein ziemlicher Hosenschisser. Er fürchtet sich nicht nur vor großen, sondern auch vor ausgestopften Tieren.

    Nun, ich hatte ja schon Einiges von Lenny erzählt. Dem kleinen Wortverdreher. Ich hatte auch erwähnt, dass er sich prima mit Gegenteilen auskennt, der kleine Fleischwolf. Er weiß längst, dass das Gegenteil von satt nicht etwa sitt, sondern hungrig heißt, dass der Horizont die Linie zwischen Himmel und Erde ist, und dass oben das Gegenteil von unten ist, wodurch er neulich auf die Idee kam, dass das Gegenteil von Untertan eigentlich ›Obertan‹ heißen müsste. Er weiß auch, dass man nicht alle Gegenteile vertauschen kann. Zum Beispiel kann alles von oben hinunterfallen, aber nicht alles von unten hinauffliegen. Dazu komme ich aber später.

    Ich habe ihn neulich nach dem Gegenteil von ›Riese‹ gefragt, und er hat mit ›Zwerg‹ geantwortet. – Ist er womöglich einer? Auf jeden Fall ist er kleiner als ich. Und ich bin ja ein kleines Kind. Wenn ich Lenny genau anschaue, finde ich allerdings nicht, dass er den Zwergen aus den Märchen ähnlich sieht. Er hat kein bärtiges Hutzelgesicht, muss nicht schwer arbeiten und lebt nicht in einem Wichtelhäuschen im Wald. Ganz im Gegenteil: Er hat ein rundes Lachgesicht, treibt immerzu irgendwelchen Unfug und lebt in einem großen Haus mit Garten. – Er ist kein Zwerg. Er ist ein kleiner Mensch, der noch wächst. Ein Kind. Mir ähnlich. Aber eben ein bisschen kleiner.

    4

    Kleine Kinder dürfen nicht in Gefahr geraten. Das hatte ich bereits gesagt. Deswegen passen die Großen ja auf uns auf. Ihre größte Sorge ist, dass wir uns irgendwo, irgendwann und irgendwie bei irgendetwas furchtbar weh tun könnten. – Aber warum? Die Erwachsenen können sich doch genauso verletzen. Zumal sie viel weniger aus Gummi sind als wir Kinder! Zwar glaube ich, dass ich bestimmt kein Gummibärchen bin, weil man mich weder in die Länge ziehen noch in Götterspeise verarbeiten kann. Doch wenn ich an meine waghalsigsten Kapriolen denke, bei denen ich mir alle Gräten hätte brechen können, dann scheint es so, als wäre ich eines. Natürlich ein rotes. Und nur bei Gefahr. Ein Feuerwehrgummibärchen im Einsatz. Eine vollautomatische Kleinkinderverwandlung zu deren eigener Sicherheit. Das wäre fantastisch! Wenn es so etwas gäbe, würde ich mir noch viel mehr akrobatische Kunststücke zutrauen als bisher. Ich würde mir ja nicht mehr weh tun! – Aber das wäre irgendwie komisch. Dann würde ich mein Schutzengelchen gar nicht mehr brauchen. Und das wäre ihm sicher nicht recht. Wo es doch immer für mich da ist, wenn ich es zu bunt treibe. Sollte ich ihm absagen, um mich in einen Gummiklumpen verwandeln zu können, wenn es brenzlig wird? Das wäre sehr unschicklich. Und feige. Und irgendwie auch… – schade.

    Man muss sich schließlich auch mal weh tun dürfen. Nicht zu arg. Aber darauf passt ja das Schutzengelchen auf. Nur eben so, dass Mama oder Papa zum Trösten kommen. Zum Pusten und In-den-Arm-Nehmen. Und dass man sehen kann, wie die kaputte Stelle wieder heilt.

    Nur: Ein Kratzer im Gesicht sieht immer blöd aus. Dann gibt es auch meist so doofe Sprüche, von wegen Kriegsbemalung und so. Und vor solchen Verletzungen haben die Erwachsenen am meisten Angst. Mama hat mir das mal am Beispiel des Rottweilers von gegenüber erklärt. Wenn der einen Erwachsenen angreifen würde, dann hätte dieser aller Wahrscheinlichkeit nach eine Bisswunde am Bein. Bei einem Kind wäre es stattdessen das Gesicht. Weil sich das Hundemaul auf Gesichtshöhe des Kindes befindet. So ähnlich ist es übrigens mit dem Bügeleisen auf Mamas Bügelstation. Ein Erwachsener könnte sich daran am Bein oder am Bauch verbrennen, ein Kind im Gesicht. Und das wäre schaurig. Man müsste sein Gesicht zeitlebens hinter einer Maske verbergen. – Wie das Phantom der Oper!

    Was mit dessen Gesichtshälfte passiert war, wusste Mama leider auch nicht. Aber es könnte schon sein, dass es sich als Kind an einem Bügeleisen verbrannt hatte. Und nun hat sich das Phantom in die hübsche Christine verliebt. Und sie? Liebt sie es auch? Kann man jemanden lieben, von dem man nur das halbe Gesicht kennt? – Vielleicht würde sie zu Tode erschrecken, wenn das Phantom seine Maske verlöre? Ich habe das einmal mit einem Schokoladenriegel ausprobiert. Ihn zur Hälfte aus dem Papier gewickelt und die eingewickelte Seite in der Hand gehalten. Dann habe ich abwechselnd die ausgewickelte und die eingewickelte Seite des Schokoriegels betrachtet. »So etwa sieht Das Phantom der Oper aus«, habe ich dann zu Mama gesagt. Die schöne Gesichtshälfte aufgedeckt, die zerschundene zugedeckt. Im selben Moment merkte ich, dass sich etwas Weiches unter dem Schokoladenpapier in meiner Hand verbarg: Der eingewickelte Teil der Schokolade war weich geworden und fühlte sich plötzlich so widerlich an, dass ich den Riegel angeekelt fallen ließ. Obwohl ich genau wusste, dass sich unter dem Papier genau die gleiche leckere Schokolade befand wie auf der anderen Seite!

    Vorhin habe ich gesagt, dass die Leute immer Beweise sehen wollen für das, was jemand Neues zu wissen vorgibt. In diesem Fall zog ich es allerdings vor, nicht anzusehen, was ich wusste: Nämlich, dass sich unter dem Papier eine braune Matschepampe befand, die man möglicherweise durch Kühlung noch hätte retten können. Irgendwie war mir gerade etwas übel. Nicht von der Schokolade. Ich hatte sie ja gar nicht gegessen. Aber auch davon war mir nicht schlecht. Weder vom Essen noch vom Nicht-Essen. Weder vom Hinsehen noch vom Nicht-Hinsehen. Sondern vom Wissen! – Ich wusste nun, was da vor sich gegangen war. In meiner Hand. In Christine. In mir. Es hatte mit Liebe zu tun. Ich musste an meine Freundin denken. Marja. Und ich wusste plötzlich entschieden mehr darüber, was ich bin: Jemand, der nichts verbergen will. Sondern mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gehen. Die Luft sehen und die Sonne hören. Jemand, der Luft und Sonne braucht, um atmen und strahlen zu können. Und lieben. Ich weiß noch nicht viel über die Liebe. Aber ich spüre sie. Wenn Mama mich anstrahlt und ihr warmer Atem meine Wange streift. Dann brauche ich nicht mehr.

    5

    Mama nimmt mich immer ernst, wenn ich ihr erzähle, worüber ich nachdenke. Zum Beispiel die Sache mit dem Schokoriegel und dem Phantom der Oper. Und sie schaut mich dann an, als hätte ich eine durchsichtige Stirn. Als könnte sie mein Gehirn bei der Arbeit beobachten. Ich bin nicht sicher, ob man ohne Röntgenoder Ultraschallgeräte durch jemanden hindurch sehen kann. Mit ihnen kann man sehen, ob ein Knochen gebrochen ist oder ob das Baby im Bauch der Mama auf der Brust oder auf dem Rücken schwimmt. Aber ohne sie? – So etwas haben Leute in Filmen probiert, hat Mama mir erzählt. Mit Fantasiefiguren und Trickaufnahmen. Das hat mich interessiert. Ich wollte mehr über die Trickaufnahmen erfahren. Wie es sein kann, dass man im Fernsehen in einen Kopf hineinschauen oder mit einem brennenden Fahrzeug durch die Luft fliegen und unverletzt daraus aussteigen kann. Mama hat mir etwas von abgefilmten Bildern, Computeranimation und umhergeschleuderten Puppen erzählt. Ich habe es aber nicht ganz verstanden. Ich darf solche Filme auch nicht sehen, weil ich davon vielleicht schlecht träumen würde. Meint Mama. Eigentlich möchte ich auch gar keine schaurigen Bilder sehen. Aber ich würde schon gerne wissen, wie es geht, dass es sie gibt. Die Technik dahinter erkunden!

    Ich habe mal gehört, dass man hinter die Kulissen blicken kann. Das wäre so, als ob man versuchen wollte, den Kasperle auf der Hand des Puppenspielers zu sehen. Oder die Puppenkiste hinter dem Vorhang. – Ja, und? Das ist doch nichts Besonderes! Jeder weiß, dass der Kasperle eine Handpuppe ist, dass er von einem Puppenspieler bewegt und nach dem Puppenspiel in die Puppenkiste zurückgelegt wird. Hinter die Kulissen zu blicken lohnt sich also nicht. Es wäre langweilig. Aber den Dingen auf den Grund gehen, das klingt spannend. Man muss sich nämlich überhaupt erst einmal trauen, auf den Grund hinunter zu gehen. Dann nach den richtigen Dingen schauen, bevor der Atem aufgebraucht ist. Und dann mit den richtigen Beobachtungen oder Funden wieder auftauchen.

    Das habe ich ausprobiert! Im Schwimmkurs. Seepferdchen. Ich durfte schon Schwimmen lernen, obwohl ich erst vier war. Weil ich groß genug war. Zwar bin ich ja eigentlich noch klein, aber für einen Kleinen doch schon ziemlich groß. Ein großer Kleiner. Jedenfalls konnte ich in dem Lernschwimmbecken stehen und mit dem Kopf über das Wasser hinausschauen. Das Wasser war nicht auf meiner Gesichtshöhe, sondern darunter. Also war es nicht gefährlich. Mama musste auch nicht auf mich aufpassen. Es gab zwei Schwimmmeisterinnen, die mit uns Kindern trainierten.

    Vor dem Tauchen hatte ich am meisten Angst. Weil man plötzlich im Wasser versinkt. Nicht atmen darf. Sämtliche Öffnungen des Körpers verschließen muss. Damit kein Wasser hineinkommt. – Und das Auftauchen? Ob ich es kann? Was ist, wenn nicht? Ich hatte echte Skrupel! – Plötzlich war ich, der weder vor großen Tieren noch vor Gespenstern oder toten Mäusen Angst hat, ein echter Schisshase. Ich übte das Tauchen an den flachsten Stellen des Beckens. Immer wieder falsch geatmet. Wasser geschluckt. Gekeucht. Gehustet. Sogar einmal gespuckt. – Ich hasste es! Das Tauchen. Soll sich doch unter Wasser tummeln, wer sich dort wohlfühlt: Fische, Seeigel, Rochen, Haie, Wasserschlangen, aber warum ich? Für ein Seepferdchen?

    Ich besann mich, kniff Augen, Mund und Ohren zusammen und übte weiter. Weil es etwas gab, das ich mehr hasste als das Tauchen: den Gedanken, dass ich etwas nicht können sollte! Und der Antrieb, es können zu wollen, machte mich besessen. Mit einer Taucherbrille und ›Schildi‹, einem Schildkröten-Tauchring, übte ich so lange, bis ich in einer Schwimmstunde mehr Zeit unter als über Wasser verbrachte. Und mir war klar, was ich für ein Seepferdchen tun würde: tauchen. Wenn es sein musste, bis auf den Meeresgrund. Für ein echtes Seepferdchen, versteht sich. Um es beobachten und beschreiben zu können. Mit Unterwasserkameras filmen und fotografieren. Am Meeresgrund ein versunkenes Schiff erkunden. Und das Leben in ihm. Seepferdchen in der Kombüse der Titanic. – Das wäre unglaublich! Ich könnte ein Tiefseeforscher werden. Kapitän auf einem versunkenen Schiff! Lenny wäre mein Steuermann. Aber er hätte vermutlich zu große Angst dort unten im Dunkeln. Er müsste zuhause bleiben. Ich würde ihm ganz besondere Fische von meiner Expedition mitbringen. Für sein Aquarium. – Er hat keines. Aber er würde dann sicher eines bekommen. Denn er liebt Fische. Überall, wo es Aquarien gibt, drückt er sich die Nase platt und zeigt ihnen, was das Gegenteil von ›stumm‹ ist. So quasselt er ohne Ende auf diese stummen Wesen ein und springt in die Luft, wenn einer von ihnen nach unten taucht. Als müsse er ihnen auch dann das Gegenteil beweisen!

    Und ich? Ich beobachte ihn. Ich beobachte sie. Lenny. Die Fische. Ich atme wie er. Ich schwimme wie sie. Ich tauche wie sie. Habe keine Angst mehr vor dem Wasser. Bin ich wie sie? Ein Wasserwesen? – Ich muss an Lenny denken. Er gruselt sich vor dem dunklen Keller. Vor der Kälte darin. Kein Wunder, dass er nie zum Meeresgrund hinuntertauchen würde! In der Tiefe des Meeres ist es dunkel. Das Wasser kalt. Man kann nicht atmen. Also nicht plaudern. Nicht einmal mit den Fischen, den stummen Gefährten. – Das ist nichts für Lenny, die alte Plaudertasche. Da gehört er nicht hin. Aber… – ich gehöre dort genauso wenig hin! Denn ich brauche Wärme, Licht und Atem. Sonne und Luft.

    Zum ersten Mal habe ich jetzt verstanden, was Lennys Gegenteile für mich bedeuten. Sie helfen mir herauszufinden, was ich bin.

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    Als Tiefseeforscher eigne ich mich also nicht. Es treibt mich in die entgegengesetzte Richtung. In die Luft. Der Sonne entgegen. Alles, was ich brauche, nehme ich mit: eine Sauerstoffflasche, eine Taschenlampe und Fotos von Mama und meiner Freundin. Für die Wärme. Und meine Trommel. Den Schlägel binde ich an meinem Anzug fest. ›Bum, bum… – Echo?!‹ Wie sie wohl klingt? Dort oben. – Draußen. – Im All. Ob ich sie überhaupt treffe? Und ob ich etwas von ihr höre? Oder jemand anderes? Irgendwo? Irgendwann? Irgendjemand? Irgendetwas? Ich würde einen unhörbaren Trommelwirbel im dreifachen Forte erzeugen! – Und dann meine Erfindung dort oben installieren. Das Große, Neue für die Menschheit. Von dem ich noch nicht weiß, was es sein wird. Weil ich ja noch nicht einmal genau weiß, was ich eigentlich bin.

    Aber ich spüre, dass ich für meine spätere Erfindung weit hinauf düsen muss. Vorbei an meinen gefiederten Freunden des Tages, den Flattermännern der Nacht, den Feen und Engeln, dem Christkind. Und natürlich an Frau Holle, die uns in den letzten Jahren Berge von Schnee zugeschüttelt hat. Ich glaube, sie mag uns Kinder. Sie wird nicht müde, ihre Bettfedern für uns herab schneien zu lassen. Damit wir Schlitten fahren und Schneemänner bauen können. Und Schneefrauen. Und Schneekinder. Und… – weiter sind Lenny und ich noch nie gekommen. Denn immer, wenn wir mit dem dritten Schneekind beginnen wollten, kam die Erkältung. Die Nasen fingen an zu tropfen. – Nicht unsere. Die der Schneemannfamilie! Lenny war einmal so lieb, unseren weißen Kumpels Taschentücher hinaus zu bringen. Er hatte sie ihnen um die Möhren gebunden, und tatsächlich: Der Schnupfen hatte sich in langen Eiszapfen daran gehängt. Dass man seinen Schnupfen so schnell und einfach ohne Medizin los werden konnte, entdeckten wir, als wir unseren Schneefreunden die Taschentücher kurz darauf wieder abbanden: Tücher weg, Zapfen weg, Schnupfen weg. Fantastisch. Bei seiner nächsten Erkältung hatte Lenny

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