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Das andere Ende der Nacht
Das andere Ende der Nacht
Das andere Ende der Nacht
eBook731 Seiten11 Stunden

Das andere Ende der Nacht

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Über dieses E-Book

Von Rachegedanken getrieben hat er sich in die High-Society eingeschlichen, doch das was ihn dort erwartete ist schlimmer, als alles, was er sich bisher vorstellen konnte.
Mehrere Mordversuche, Intrigen und Hass, das ist alles was ihm bisher widerfahren ist und er muss sich voll auf dieses Spiel einlassen um seinen Plan zu Ende zu bringen.
Der Weg ist hart, schmerzlich und tränenreich, fordert viele Opfer von ihm und den Menschen die sich um ihn sorgen, doch treibt ihn der Gedanke an das Ziel voran:
Das andere Ende der Nacht
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Apr. 2015
ISBN9783732327539
Das andere Ende der Nacht

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    Buchvorschau

    Das andere Ende der Nacht - Stefan Zieske

    Ein neuer Tag

    4:19:59 – Klick!

    Das grausamste Geräusch des Tages. Klick!

    Es ist ein leises metallisches Geräusch, das ertönt bevor der Wecker lostobt.

    Das erste Geräusch das ich jeden Morgen höre – ich schlafe nicht besonders tief – und das mir befiehlt, die meist kurze Nacht – ich schlafe auch nicht gut – zu beenden.

    Ich drehe mich nach rechts, schalte den Wecker aus. Ein altmodischer Radiowecker. Das Teil hab ich vor ein paar Jahren auf einem Flohmarkt gekauft, da es irgendwie schwer nach frühen 80ern aussah, nach Kindheit, auch wenn die eigentlich beschissen war.

    Doch das ist lange her…

    Aufrecht im Bett sitzend sehe ich nach links.

    Das lange braune Haar lugt unter der Decke hervor.

    Ich mag es immer noch. Auch nach mittlerweile 4 Jahren. Nein, ich liebe es!

    Am liebsten sind mir die Locken, die wie die in einer Haarshampoo-Werbung wirken.

    Jessi und ich kennen uns schon aus der Schule, trafen uns zufällig wieder, es machte „Boom" und die Welt brannte.

    Auch heute noch ist meine Liebe zu ihr ungebrochen – stärker denn je!

    Ehrlich gesagt bin ich mir sicher, ohne sie nicht mehr leben zu können.

    Ich stehe auf, taste mich durch das enge Schlafzimmer, das eigentlich nur ein durch einen Vorhang vom Wohnzimmer abgetrennter Bereich ist und gehe in die Küche.

    „Morgen Kasper." Erst mal den Kater begrüßen.

    Dieser 8jährige 12 Kilo Brocken verpennt fast 90% des Tages. Das ist ein Leben… Hätte ich auch gern.

    Ich greife auf die Anrichte der Küche und nehme meine Zigaretten. Es ist eine dieser Billig-Supermarkt-Cremeweiß- Küchen, die noch vom Vormieter und wohl auch dessen Vormieter stammt, da wir uns bisher keine neue leisten konnten. Fürchterlich!

    Die schmale Balkontür geht schwer auf. Ich will schon seit Monaten was daran machen, aber ehrlich gesagt… Ich habe keine Lust dazu!

    Ich gehe in die eiskalte Oktoberluft hinaus. Das mache ich täglich, schon seit wir hier vor gut 3 Jahren eingezogen sind.

    Ich zünde mir eine an, nehme einen tiefen Zug, stütze mich mit beiden Händen auf das Geländer, die Zigarette in der Rechten, lege den Kopf in den Nacken und blase den Rauch in die Dunkelheit.

    Es ist trüb heute. Die Wolken hängen tief über der Stadt.

    Ich senke langsam den Kopf und blicke in den tristen grauen Hinterhof.

    Vereinzelt Licht in den Fenstern, zumeist aber ist alles dunkel. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist es noch sehr früh, zweitens ist ein Großteil hier in diesem Viertel arbeitslos. Genauso wie Jessi. Schon seit zwei Jahren hat sie keinen Job mehr.

    Sie war Verkäuferin in einem Elektronikmarkt. Dort habe ich sie auch wieder getroffen. Ich wollte eine CD kaufen und stand plötzlich vor ihr. Das war am 14. Juli. Seitdem der schönste Tag des Jahres für mich. Tja, aber der Job ist weg. „Wegen interner Umstrukturierung". Das war der Text, der die ganzen Probleme nur noch größer werden ließ, die finanzielle Knappheit in den sicheren, schleichenden Ruin verwandelte. Das Leben ist halt eine Schlampe…

    Ich schüttele den Kopf, versuche nicht allzu negativ zu denken. Ein weiterer tiefer Zug.

    Ich blase den Rauch aus und blicke auf meine Hände, dann auf meine Arme. Ich sehe die vielen alten Tattoos, die mir kaum noch etwas sagen, die einmal Bedeutung für mich hatten und nun nicht mehr sind, als eine alte vergilbte Tapete. Sie haben ihren Sinn verloren. Eben Bilder aus längst vergangenen Tagen. Ich sehe an mir herunter, erkenne den in altdeutscher Schrift tätowierten Schriftzug „Troublemaker" der sich über meinen fetten Bauch spannt.

    Als ich ihn machen ließ war ich 22 und wog 84 Kilo bei 1,80 Körpergröße. Tja, bis vor etwas mehr als einem Jahr war das auch noch ähnlich. Da trieb ich noch regelmäßig Sport. Kickboxen – meine Leidenschaft. Aber dann…

    Heute bin ich 34 und wiege 108 Kilo, Hefeweizen sei Dank. Scheiße!

    Tja, die Tattoos… Wäre Lister, ein Freund, nicht Tätowierer hätte ich sie mir nie leisten können. Ich habe mich außerdem oft als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt, wenn er mal wieder eine neue Technik oder einen neuen Stil ausprobieren wollte. Zum Glück ist der Mann einfach ein Naturtalent. Und dadurch wurde ich also ziemlich bunt. Bei dem Gedanken an Lister muss ich kurz grinsen. Eigentlich heißt er ja Thomas, aber er hat ständig von diesen Sci-Fi-Büchern „Red Dwarf geredet, so dass er irgendwann den Namen der Hauptperson, eben „Lister bekam.

    Da stehe ich also. Meine Wampe hängt über meine dünne Pyjamahose und meine Füße versuchen krampfhaft nicht an dem kalten Boden festzufrieren. Aber das hat auch einen gewissen Vorteil. Man wird wach!

    Ich ziehe noch ein letztes Mal an der Zigarette, die schon fast bis zum Filter abgebrannt ist und schnippe sie in den Hof. Sie fällt vier Stockwerke tief und erlischt lautlos in einer Pfütze.

    Diesmal kräftig drücken und die Balkontür schließt sich. Wobei man, um der Wahrheit die Ehre zu geben, bei diesem mickrigen Mauervorsprung kaum von einem Balkon reden kann.

    Licht machen. Wie immer erst dann, wenn ich auf dem Balkon war. Komisch, so hat eben jeder seine Rituale.

    Auch für Kasper wird es jetzt Zeit. Er will sein Frühstück. Billigfutter aus dem Discounter. Wenigstens ist er anspruchslos. Für mich gibt’s schwarzen Kaffee. Das muss erst mal reichen.

    Die blaue Plastikkaffeemaschine röchelt und blubbert vor sich hin und die dunkle Brühe tropft langsam in die alte gläserne Kanne.

    Während ich mit der Tasse in den Händen am Tisch sitze und meine Finger langsam wieder etwas Gefühl entwickeln, kreisen meine Gedanken.

    Sie kreisen um alle möglichen Dinge. Düstere Gedanken, böse Gedanken, traurige Gedanken.

    Es fängt damit an, dass ich diese kleine, beschissene Wohnung nicht mehr ertragen kann. Diese Uraltküche, den wackeligen Küchentisch mit den billigen Stühlen, die abgegriffenen Teller, die ich bereits vor Jahren aus dem Nachlass meiner Oma für meine erste Wohnung mitnahm. Der Flur, wenn man diese einen Quadratmeter große Nische so nennen kann, mit der „Kater sei Dank" zerfetzten Tapete, dem Spiegel mit abgebrochener Ecke am unteren rechten Rand – er war mir beim Umzug aus den Händen geglitten – und die vom Sperrmüll gerettete Garderobe. Eiche rustikal mit abgegriffenen, angekratzten, teils abgeplatzten Messinghaken. Dann diese unsägliche Rumpelkammer, die sich Wohnzimmer schimpft. Mit dem alten Teppich, der wohl einmal weiß war, heute jedoch eine undefinierbare Farbe irgendwo zwischen beige und grau aufweist.

    Auch der Schrank ist nicht mehr der Neuste. Er hat mittlerweile ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel, versprüht längst nicht mehr den Charme der 70er oder 80er und auch Glanz und Finish haben sich über die Jahre verwohnt. Er stammt von einer ehemaligen Nachbarin, die inzwischen in einem Altenheim lebt. Auch so ein Ort wo ich niemals hin will…

    Aber der Ort an dem ich momentan nicht sein will ist diese Wohnung!

    Im Wohnzimmer passt nichts zueinander. Dieser grauenhafte Schrank, der Couchtisch Marke „Plastik meets Buche-Dekorfolie", die speckige Eckcouch, die auch Ernie und Bert mit ihrem Streifenmuster gut zu Gesicht gestanden hätte und dann noch der alte Fernseher, dessen Fernbedienung mit Ach und Krach noch die Lautstärke reguliert und ab und an mal Bereitschaft zeigt einen Kanal hoch oder runter zu schalten.

    Das alles kotzt mich so an…

    Einzig das „Der Pate"-Poster an der Wand ist ein Lichtblick. Brando war ein ganz Großer!

    Links neben der Couch spannt sich ein großes weißes Bettlaken als Raumteiler vor die Nische, die uns als Schlafzimmer dient. Dahinter findet sich dann auch das einzige was gut aussieht.

    Das Bett. Nicht etwa weil es besonders schön wäre, sondern weil es verhältnismäßig neu ist. Wir hatten es kurz nach dem Einzug gekauft, es von Jessis Weihnachtsgeld abgezwackt. Links und rechts daneben stehen, wow, passend dazu, zwei kleine Nachttische mit Schubladen. Alles in schwarz gehalten mit Alubeschlägen, naja, Alu-Optik.

    Wie gesagt, es kotzt mich alles an.

    Dieses Dreckloch, dass keine Kohle im Haus ist, dass Jessi keinen Job mehr hat und seitdem immer mehr abstürzt, dass auch mein Job nicht mehr wirklich sicher ist, dass wir den Pfennig immer dreimal umdrehen müssen. Sorry, ich meine natürlich den Cent, Kind der goldenen D-Mark halt…

    Da gibt es noch tausend Sachen, seien es die Asozialen, die sich in den Talkshows, die Jessi sich inzwischen immer öfter ansieht, fetzen, seien es die Arschgesichter und B- bis Z- Promis, die abends in den TV-Promimagazinen ihre Fressen in die Kameras halten, seien es Typen die nichts geleistet haben außer den totalen Dünnpfiff von sich zu geben, wie zum Beispiel diese ganzen Berliner Aso-Rapper oder diese unlustigen Neu-Comedians, die ständig aus dem Fernseh- Einheitsbrei-Kartell-Zauber-Kaninchen-Hut gezogen werden. „Das Comedy-Event des Jahres!, „Der Fun-Freitag!, „Das Highlight des Jahres!" Oha, Ausverkauf!

    Mir fallen da zig Leute ein. Vom Rüpel-Rap-Kasper, der das mittlerweile hundertste erfundene Ghetto glorifiziert und mit einer superharten und gangstermäßigen Attitüde sein dämliches Milchgesicht in die Kameras der Fotografen der Teeniemagazine hält, bis hin zum schwabbeligen TV-Blödel- Praktikant, der sich inzwischen unlustiger als je zuvor durch seine eigene Show kalauert…

    Dann kommt natürlich noch eine gehörige Portion Selbstmitleid dazu. Warum die? Warum nicht ich?

    Ach Scheiße! Ich hab keine Lust mehr!

    Aber jetzt muss ich duschen.

    Auch so was. Ein Bad, in dem ich nicht mal meine Arme auf volle Spannweite ausbreiten kann.

    Waschbecken, darüber ein kleiner Spiegelschrank, Klo, Duschzelle, ein winziges Alu-Hängeregal. So sieht es da aus. Das Hängeregal ist zu 95% mit Jessis Sachen vollgestopft. Sie pflegt sich gerne, auch wenn sie ihre Tage derzeit meist ziemlich depressiv vor der Glotze verbringt.

    Die ganze Schminke hätte Sie eigentlich nicht nötig, denn sie ist von Natur aus einfach wunderschön.

    Egal. Ich schlüpfe aus der Hose, entdecke wieder mal, dass man sich nie im betrunkenen Zustand zu einem Tattoo hinreißen lassen sollte und stelle mich unter die Dusche.

    Das Wasser ist eiskalt!!! Ich bin wach!

    Verdammte Kacke! Ich hab vergessen gestern noch den Boiler vorzuheizen.

    Was soll’s. Beeilen, anziehen, föhnen, Zähne putzen und dann auf den Weg machen.

    Aber zuerst noch einmal ins, naja, Schlafzimmer und ein kurzes „Bis heut’ Abend. Ich liebe Dich!" hinein murmeln.

    Keine Reaktion. Tja… Ist noch zu früh.

    Ich nehme meine Jacke vom Haken, greife den Rucksack, packe aus dem Kühlschrank noch zwei vorbereitete Salamibrote und eine Flasche Wasser hinein und gehe durch die Tür in das graue, kahle Treppenhaus in dem schon seit Wochen keiner mehr sauber gemacht hat. Ich auch nicht!

    Das war früher anders. Besonders als es Jessi noch besser ging. Da haben wir das zusammen gemacht, aber seit wir gemerkt haben, dass wir außer der Kochanski aus der Wohnung über uns die einzigen waren, die hier was gemacht haben, haben wir es sein lassen. Insbesondere, da Frau Kochanski vor einem halben Jahr ausgezogen ist. Mit den Füßen voran… Sagen wir mal so, sie hat’s geschafft.

    Tja, scheiß Wohnung, scheiß Haus… Wenigstens ist die Miete halbwegs bezahlbar. Allerdings ist es seit Jessi den Job verloren hat auch schwer zu stemmen. Mein Lohn ist eben auch nicht hoch.

    So, hier muss ich langsam machen, denn das Licht im 3. Stock geht nicht und von draußen kommt durch das poplige und derb dreckige Fenster um diese Uhrzeit nicht genug Licht herein. Vor einigen Monaten hat’s mich hier mal übel auf die Fresse gelegt. Ist morgens um 5 Uhr nicht gerade die schönste Sache der Welt. Aber diesmal, wie so oft, erreiche ich die Haustür ohne Probleme. Ich öffne sie und… rieche die Stadt, den Gestank. In diesem Viertel ist das auch treffend, da es hier stinkt. Ist ziemlich runtergekommen, dreckig und grau. Das Grau wird lediglich durch ein paar hingeschmierte Tags in schwarz und weiß unterbrochen. Richtige, gutgemachte Graffitis findet man hier nicht. Das Ganze hat auch nicht annähernd etwas von den Bildern mit denen sich diese Stadt online und in ihren Hochglanzbroschüren präsentiert. Tja, würde unserem Oberbürgermeister und seiner Stadtratsbande wahrscheinlich auch nicht gefallen Worte wie „Sozialer Brennpunkt, „Arbeitslosigkeit, „überproportionaler Ausländeranteil, „Jugend- und Bandenkriminalität und natürlich „Ghetto oder eher sogar „Slum zu hören.

    Ich muss wieder versuchen nicht in zu triste Gedanken und Wut abzurutschen und wende mich nach rechts. Ich gehe die Straße entlang in Richtung der Bushaltestelle.

    Die Scheiben des Wartehäuschens sind zertrümmert, die Scherben beseitigt. Das ist schon seit acht Monaten so. Bis dahin wurden sie immer erneuert, aber nach dem sechsten oder siebten Mal haben die Verkehrsbetriebe wohl aufgegeben. Außerdem dauerte es zuletzt gerade zwei Tage bis die Scheiben wieder hinüber waren.

    Nachts hängen hier die Kids rum. Türken, Russen, Albaner, Deutsche, egal… aus allen Nationen. Nur in einem vollkommen gleich: Chancenlos!

    673 – Das ist die Nummer meines Busses.

    Um diese Zeit, es ist jetzt 5:17, sitzt kaum jemand darin.

    Ich steige an der vorderen Tür ein und halte meine Monatskarte unter die ebenfalls noch, vielleicht auch schon wieder, müden Augen des Fahrers. Er nickt kurz und ich gehe durch den Gang. Vorbei an einem Typ der schwer nach Penner aussieht. Ich rieche eine unangenehme Fahne, die irgendwo zwischen billigem Fusel und Traube-Nuss-Schokolade anzuordnen ist. Im Ernst, der Kerl riecht nach Schnaps und besagter Schokoladensorte!

    Er schläft, mit der linken Kopfseite an die Scheibe gelehnt, wobei ihm ein Rotzfaden aus der Nase hängt und sich bereits mit seinem fransigen Bart zu einer unheiligen Allianz verbunden hat.

    Weiter hinten sitzen zwei fette Frauen und unterhalten sich. Beide sehen ungepflegt aus und sind wirklich ziemlich fett. Wirklich, wie kann man sich so…? Bumm! Vor meinem geistigen Auge erscheint mein fetter Bauch. So kann man sich also so gehen lassen… Ich erhasche einige kurze Brocken, ein bis zwei Sätze, des Gesprächs. Kuchen – es geht um Kuchen. Bisquitboden. Was weiß ich. Interessiert mich nicht. Ich hasse Kuchen!

    Ich passiere den letzten Fahrgast. Ebenfalls eine Frau. Wohl Ende 50, Anfang 60. Durchschnittliche Figur, Brille, Kopftuch. Sie schläft.

    Ihr dicker, schwarzer Wintermantel ist nicht mehr der neuste, aber zeitlos.

    Sie ist in den Polstern der Sitzbank zusammengesunken und schnarcht leise. Ein leises, kratzendes Schnarchen. Es ähnelt dem Geräusch eines… Ja, wenn ich es nur wüsste.

    Ich erreiche die hinterste Sitzreihe und setze mich in die rechte Ecke.

    Die druckluftgesteuerten Türen schließen sich mit einem Zischen und mit einem sanften Ruck setzt sich der Bus in Bewegung.

    Ich krame meinen MP3-Spieler aus der Tasche und stecke mir die Kopfhörer in die Ohren. Ein, zwei Knopfdrücke später beginnt „Koma von den Onkelz meine Gehörgänge mit dem auszufüllen was meine Seele fühlt. Traurigkeit, Depression, Schmerz. „Eine Nacht die niemals endet Das trifft es. So, genau so kommt mir mein Leben im Moment vor – Eigentlich schon seit Jahren. Ich habe mir das alles anders vorgestellt, anders erhofft, erwünscht, erträumt. Und nun? Ich gleite nur noch dahin, kann mich kaum noch zu etwas aufraffen und bin nur noch frustriert. Ich hasse es!

    Ich kann nur noch meine Gedanken fliegen lassen und von besseren Zeiten träumen, von Dingen die nie geschehen, von Millionen auf meinem Konto, von Reisen, Luxus, Ruhm… oder einfach nur Ruhe und Frieden zusammen mit Jessi ohne Sorgen und Nöte. Vielleicht Kinder… Ach Scheiße!

    Heute will es einfach nicht gelingen an schöne Dinge zu denken. Immer tiefer und tiefer wird meine Frustration. Ich sehe die beschmierten grauen Wände, die heruntergekommenen Fassaden, die gammeligen Hauseingänge und ich werde mir immer mehr bewusst darüber, dass ich mich hier nicht wohl fühle, nicht hier bleiben will. Nicht auf den Ort allein bezogen, sondern auf mein ganzes Leben.

    Der Bus biegt in die Hauptstraße ein.

    Auch hier das gleiche Bild. Trostlos, deprimierend. Genauso wie der nächste Song der mein Ohr flutet. „The burning red" von Machine Head. Todtraurige Nummer…

    Ich möchte so nicht mehr leben, kann es nicht mehr. Schon seit Monaten kreisen meine Gedanken darum. Erst nur in kurzen Bildern, dann immer klarer und jetzt dreht sich alles in meinem Kopf fast ausschließlich darum. Ich hätte früher nie gedacht, dass ich ernsthaft darüber nachdenken würde mir das Leben zu nehmen. Einzig die Verantwortung, auch und gerade Jessi gegenüber hält mich davon ab, diesen Gedanken die Erlaubnis zu erteilen sich in Taten umzuwandeln. Aber ich weiß nicht, wie lange das noch gut gehen kann…

    Die Hauptstraße zieht sich wie ein langes Band durch die halbe Stadt, aber nur etwa ein Viertel davon liegt in unserem Stadtteil. Diesem Viertel folgt der Bus komplett, hält auf dieser Strecke fünfmal, wobei die Zahl der Fahrgäste um diese Zeit noch nicht übermäßig zunimmt.

    Ich sehe aus dem Fenster und erkenne wie sich die Umgebung allmählich verändert.

    Nicht zum Positiven, nicht direkt zum Negativen. Sie wird nur ausgeprägter deprimierend.

    Kaum hat der Bus die Hauptstraße verlassen und fährt die Klenzestraße hinunter, wandelt sich das Bild von der heruntergekommenen Wohnsiedlung zum heruntergekommenen Industriegebiet.

    Die eingeschlagenen Fensterscheiben des ehemaligen Verwaltungsgebäudes des stillgelegten Zementwerks und die Graffitis an den Backsteinmauern sind nur ein Indiz für den Verfall. Auch das zugewucherte Gelände, die verfallenen Hallen und Fabrikgebäude, die rostigen Maschinen und Maschinenteile haben nur noch wenig mit dem Glanz der Vergangenheit gemein.

    In meiner frühen Kindheit war hier noch alles anders. Das Zementwerk war der zweitgrößte Arbeitgeber in der ganzen Gegend, nur knapp hinter dem, inzwischen ebenfalls stillgelegten Stahlwerk dahinter.

    Ja, das Stahlwerk. Mein Großvater arbeitete hier, ebenso mein Vater. Er hat hier gelernt, hier gearbeitet, hier gelebt. Dann kam die Pleite. Eine Geschichte, traurig und gut, oder auch nicht.

    Wie so viele Geschichten hier im Revier. Billige Konkurrenz aus dem Ausland, ein großer Investor als Heilsbringer und Retter, Steuergeschenke, Jubel und… Pleite! Abschreibungsobjekt!

    Ja, es war eine harte Zeit. Man konnte dem Verfall richtig zusehen. Nicht nur den alten Firmengebäuden, auch den Menschen. Meinem Vater beispielsweise.

    Kaum kam das Aus für seinen Job kam auch die Resignation.

    Es war schon zu diesen Zeiten schwer mit knapp 50 einen neuen Job zu finden und Stahlarbeiter waren nicht mehr besonders gefragt zu der Zeit.

    Er hing also nur noch daheim rum, dachte dann auch nicht mehr daran sich irgendwo zu bewerben. Erst recht nicht für einen Hilfsjob mit weniger Anspruch. Nein, das war dann der falsche Stolz. Allerdings erledigte sich der Stolz auch ganz schnell, denn der Suff wurde ebenso schnell ein fester Freund für den ganzen Tag. Er war ja noch nie dem Alkohol besonders abgeneigt gewesen. Aber dann… Er war ein Trinker, Säufer, Alki. Egal wie man es nennen will.

    Wie auch immer. Es ging damals vielen hier so. Der einzige Vorteil meines alten Herrn war, dass er trotz der Sauferei nicht körperlich gewalttätig wurde. Dafür war er ein Ass in „psychologischer Kriegsführung".

    Er war schon zuvor nicht gerade „ein Fan" von mir gewesen, aber jetzt ließ er offen raus was er dachte. Ich war für ihn ein Stück Scheiße, aus dem sowieso nichts werden würde, ein Taugenichts, ein Versager. Das waren zumindest seine Worte und die taten verflucht weh.

    Ich hoffte auf Unterstützung und darauf, dass meine Mutter, die im Grunde auch nicht besser war, sich wenigstens jetzt für mich einsetzen würde, doch das Gegenteil war der Fall. Denn nun wurde auch ihr Frust immer größer und sie wurde schmerzlich an all das erinnert was sie verdrängt hatte. Ich war der Grund dafür, dass sie hier festsaß. Sie wollte immer groß rauskommen, zu den oberen Zehntausend gehören. Das wäre sicher auch möglich gewesen, denn sie sah wirklich gut aus. Nun ja, aber wenn man sich dann besoffen nach einer Party von einem ebenso besoffenen Stahlarbeiter auf der Rückbank eines Opel Ascona vögeln und schwängern lässt, was dann? Naja, mein Vater hatte also mit ein paar mehr oder minder rhythmischen Bewegungen ihre Zukunftsplanung zerstört.

    So fuckin’ what? Sie wollte, er machte oder umgekehrt. Das spielt heute keine Rolle mehr. Das Endergebnis fährt gerade mit dem Bus zur Arbeit. Es ist einzig die Bitterkeit die sich in diesen Überlegungen widerspiegelt. Die Bitterkeit, dass man ungewollt und ungeliebt war und ist.

    Auf jeden Fall waren beide gefrustet und angepisst, was sich in immer mehr Hass aufeinander entlud, der aber vielfach auf mich projiziert wurde. So ging es hin und her und immer weiter und… es war kein Wunder, dass sie ging.

    Ich kam von der Schule und sie war weg.

    Der Alte saß im Wohnzimmer und heulte.

    Ich hatte ihn nie zuvor weinen gesehen und, egal was war, ich wollte ihm helfen, ihn trösten, etwas für ihn tun. Aber bevor ich etwas sagen konnte war er aufgesprungen und hatte mich an den Armen gepackt. Er hatte Hände wie Schraubstöcke und ich dachte, dass meine Arme jeden Moment brechen. Der Wahnsinn hatte ihn gepackt und er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an während er mich schüttelte und mich anschrie: „Das ist Deine Schuld, Du beschissener Bastard! Hättest Du nicht verrecken können? Du hast alles kaputt gemacht! Verschwinde! Für immer!!!" Mit diesem letzten Satz stieß er mich in den Flur, rannte mir nach, packte mich wieder am Arm, riss mit der anderen Hand die Wohnungstür auf und warf mich in den Hausflur.

    Ich war 12.

    An diesem Tag zog ich zu meiner Großmutter.

    Meinen Vater sah ich nie wieder. Er starb 3 Jahre später. Hat sich zu Tode gesoffen.

    Meine Mutter hat sich auch nie wieder blicken lassen. Ich habe gehört, dass sie wohl einige Jahre später wieder geheiratet hat. Tja, mich wollte sie trotzdem nicht haben… Hat sich also nichts geändert.

    Ich fühle gerade wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet und ich mit den Tränen kämpfe.

    Nein! Nicht heulen! Nicht hier und jetzt und am besten nie! Durchatmen!

    So, geht wieder…

    Egal wie, sie hat die Vergangenheit hinter sich gelassen und sie wird den Teufel tun und noch mal zurückblicken. Irgendwie versteh ich sie sogar. Verzeihen kann ich ihr trotzdem nicht. Es kommt immer wieder die Frage auf wieso sie mich allein ließ. Warum nur? Und dann schiebt sich ein Bild als Antwort in meinen Kopf. Dieser schäbige orange 74er Ascona …

    Nun saß ich also bei meiner Oma.

    Eine wirklich liebe und fürsorgliche Frau. Sehr streng aber gerecht.

    Viel hat sie mir nie erlaubt aber sie hat es immer begründet. Nicht diskutiert, sondern wirklich begründet. Kurz, knapp, präzise. Man könnte auch Schluss, Aus, Basta sagen, denn wenn sie etwas erklärte hatte man es entweder verstanden und tat wie geheißen oder man hatte es nicht verstanden und tat es trotzdem, denn wie gesagt, Diskussionen gab es nicht.

    Ich bin ihr aber im Nachhinein dankbar, auch wenn es mir damals oft so vorkam als würde sie mir gar nichts erlauben. Aber mit ihrer Art schaffte sie es, dass ich nicht zu sehr über die Stränge schlug. Das hat sie hinbekommen, diese kleine, zierliche Frau, die stets elegant und adrett gekleidet, mit dezentem Schmuck und Make-up Eindruck machte. Das tat sie wirklich. Sie sprach mit fester unerschütterlicher Stimme, blickte einem immer fest in die Augen wenn sie sprach, wich nie, aber auch wirklich nie, auch nur einen Zentimeter zurück und kämpfte für all das ihr wichtig war. Ich wünschte, ich hätte auch nur ein bisschen von ihrer Stärke …

    Oma hatte sich danach stets durchbeißen müssen nachdem mein Opa bei einem Autounfall gestorben war. Das machte sie dann zu dem was sie war. Eine wirklich starke Frau.

    Kein Wunder, dass sie also recht hart und streng war, aber wie gesagt, sie war nie ungerecht. Das war dann eher mein Job. Wie oft hab ich mich auf der Straße herumgetrieben – mit den anderen Birnen aus zerrütteten Familien – mich fast ins Koma gesoffen oder anderen Mist angestellt.

    Aber noch bevor es wirklich schlimm werden konnte, griff Oma.

    Eines Abends rief sie mich, hart und direkt wie immer, zu sich. Und wie immer kamen kurze knappe Anweisungen, die nicht wiederholt wurden.

    Keine Erklärung, keine Diskussion, kein Widerspruch. Das hätte auch keinen Sinn gemacht. Widerspruch gab es bei ihr nicht.

    An diesem Abend brachte sie mich zur Kampfsportschule, denn sie hatte ganz klar und schnell mein Aggressionspotenzial erkannt und etwas dagegen in die Wege geleitet. Besser so, denn sonst hätte auf mich irgendwann der Knast gewartet.

    So kam ich dann also zu meiner großen Leidenschaft, dem Kickboxen.

    Ich wunderte mich natürlich woher Oma eine Kampfsportschule kannte, beziehungsweise wie sie darauf kam, mit mir dort hinzugehen. Auch schien sie Ahnung vom Boxen zu haben.

    Doch im Eingangsbereich der „Fighters Academy klärte sich bereits alles, denn dort hingen Bilder von lokalen Boxgrößen, die dort früher trainiert hatten. Auch zu Zeiten, als es noch „Herberts Boxbude hieß. Und das Bild des lokalen Meisters 1938/39 zeigte meinen Großvater. „Und auch in der Wehrmacht hat er jeden in seiner Gewichtsklasse geschlagen", flüsterte meine Oma mit Stolz vor sich hin. Sie hatte ihn wirklich sehr geliebt und wenn sie von ihm sprach, dann immer mit einer warmen und sanften Stimme.

    Ich fand später heraus, dass er im Krieg in amerikanische Gefangenschaft kam und nach seiner Rückkehr sogar im Jahr 46 und 47 nochmals den Titel holte. Allerdings gab es aus dieser Zeit keine Bilder.

    Ich begann auf jeden Fall ab diesem Tag mit dem Kampfsport und es war die beste Therapie. Es half zwar nicht über die Verluste an sich hinweg, aber es war die willkommene Gelegenheit alles rauszulassen und meine Wut sinnvoll zu nutzen.

    Wenn ich daran denke, hellt sich meine Stimmung etwas auf.

    Es war einfach eine schöne Zeit.

    Doch dann kommen die anderen Bilder.

    Bilder die ich nicht mehr sehen will, die weh tun, die mich quälen.

    Der Tag an dem ich morgens aufwachte und feststellte, dass es schon 10 Uhr war. Hatte Oma verschlafen? Ich ging in die Küche, ins Wohnzimmer, ins Bad. Nirgends eine Spur von ihr. Dann ging ich in ihr Schlafzimmer und der Schlag den es mir versetzte kann nicht in Worte gefasst werden. Eine Ohrfeige Gottes – oder auch des Teufels. Das trifft es wohl am ehesten. Sie lag auf dem Boden. Wie sich später herausstellte war sie nicht einmal mehr im Bett gewesen. Der Herzinfarkt hatte sie einfach aus dem Leben geschlagen. Unerwartet, unvorbereitet…

    Ich war 17, fast 18 und endgültig allein.

    Die Trauer warf mich weit zurück.

    Anstatt mein Abitur zu machen wie Oma es gewollt hätte, brach ich die Schule ab. Ich konnte mich einfach nicht mehr konzentrieren. Ich hatte nichts mehr was mich hielt.

    Auch konnte ich kaum etwas von Oma mitnehmen, bis auf die bereits erwähnten Teller.

    Warum? Weil plötzlich ein Anwalt aus dem Nichts auftauchte, der für meine Mutter das gesamte Erbe beanspruchte. Die Schlampe hatte es nicht mal nötig das selbst zu machen, geschweige denn zur Beerdingung zu kommen.

    Ich frage mich nur bis heute wie sie überhaupt zu der Verfügung gekommen ist, denn schließlich war sie ja nur die Schwiegertochter. Naja, letztlich ist das genauso egal wie alles was mit ihr zu tun hat. Sie hat auf jeden Fall alles bekommen und ich musste in meine erste eigene Wohnung ziehen. Ein 1- Zimmer-Mini-Loch. Das Jugendamt übernahm die Einrichtung per Gutscheine für den Second-Hand-Einrichtungsladen. Vieles davon hat bis heute überlebt.

    Und so saß ich also in dem schäbigen Glasscherbenviertel, in dem ich heute noch sitze.

    Einziger Vorteil war, dass ich zum Training nur 5 Minuten zu Fuß gehen musste.

    Tja, Sport und Arbeit, das waren dann meine einzigen Beschäftigungen. Zu mehr reichte mein Antrieb nicht.

    Arbeit – Ein Kapitel für sich. Ich hatte nach Omas Tod keinen Antrieb, keine Motivation und keine Lust mir einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu suchen. Ich kam schließlich dazu wie die Jungfrau zum Kinde.

    Einer meiner Trainingskumpels sprach mit seinem Lehrmeister und so konnte ich wenigstens einen Hilfsjob im Lager bekommen.

    Ein Jahr später gab mir der Chef die Chance eine Ausbildung zum Lagerist zu machen. Heute heißt das Fachkraft für Lagerlogistik. Zudem half er mir bei der Finanzierung meines Führerscheins.

    Ich hatte zwar nicht so wirklich Lust auf diesen Job. Wenn überhaupt, dann wäre mir etwas im kaufmännischen Bereich lieber gewesen, aber dazu konnte ich mich damals einfach nicht aufraffen. Das war dann auch egal, denn der Job machte nach einiger Zeit sogar Spaß. Auch wenn in der Berufsschule zu 99% nur Trottel waren, aber das war ja nur ein kleiner Teil des Ganzen. Das wichtigste aber war, dass ich endlich etwas tat worauf meine Oma stolz gewesen wäre. Auch wenn es kein Studium oder eine gehobenere Ausbildung war, so hatte ich doch endlich mein Leben in die Hand genommen, die richtige Entscheidung getroffen und darauf war ich – und das gestehe ich mir so gut wie nie zu – auch stolz.

    Ich schaffte die Ausbildung mit einem sehr ordentlichen Ergebnis und konnte danach 2 Jahre in dem Unternehmen arbeiten. Dann kam die Pleite.

    Mit knapp 22 war ich also arbeitslos.

    Soll jetzt keiner denken, dass ich nichts gemacht hätte um einen Job zu finden, aber zu der Zeit war es gerade ziemlich schlecht in dem Bereich was zu bekommen. Daher hab ich also nach kurzer Zeit meine Ansprüche runtergeschraubt und den nächstbesten Job angenommen den ich bekommen konnte.

    Die nächsten 3 Jahre hab ich dann so ziemlich alles gemacht. Ich hab als Malerhelfer gearbeitet, hab Regale im Supermarkt eingeräumt oder auch Fenster geputzt. Zwei kurze Gastspiele als Helfer in einem Lager hatte ich auch, aber das war jeweils nur projektbezogen und daher nicht von Dauer.

    Allerdings darf ich mich nicht beklagen. So ging es zu der Zeit fast allen Leuten die ich kenne. Viele verloren ihre Jobs und kamen nur schwer oder gar nicht mehr aus der Misere. Dass es heute noch so ist, beziehungsweise die Nachwehen noch zu spüren sind, beweist mir unser Viertel jeden Tag aufs Neue.

    Ich hatte dann Glück und fand einen Job in einem großen Logistikunternehmen. Gering bezahlt, aber zumindest fest angestellt. Allerdings 100 Kilometer entfernt. Jeden Tag 3 Stunden hin und 3 Stunden zurück. 5 Mal umsteigen je Strecke. Fuck, das war echt bescheiden…

    So war ich jeden Tag 15 bis 16 Stunden außer Haus. Wenn Überstunden anfielen auch deutlich länger. Aber egal… Hauptsache Arbeit.

    Das lief dann zwei Jahre so, dann wurde Personal eingespart. Ich, jung, unverheiratet, keine Kinder, war einer der ersten die gehen mussten.

    Tja, gehe zurück auf Los, ziehe nicht 4000 ein…

    Also mit 27 schon wieder ohne Job.

    Und wieder das alte Spiel. Bewerben, Klinken putzen, Vorstellen. Die Zeit verfliegt so wahnsinnig schnell. Es war wieder mehr als ein Jahr rum bis ich was Neues hatte. Diesmal in der Produktion eines Werkzeugherstellers hier in der Stadt. Tja, hier wartete dann die Erfüllung all meiner feuchten Fieberträume auf mich. Nämlich die beschissene Aussicht für winziges Geld den ganzen Tag Metallstücke zu entgraten. Hauptsache Arbeit… Ich kotz gleich, wenn ich an den Spruch denke.

    Meine Stimmung war ja schon vorher gesunken, aber ab diesem Moment war mir endgültig klar, dass mein Leben nicht so verlief wie ich es mir vorgestellt, gewünscht hatte. Und es läuft immer noch nicht so!

    Doch dann kam Jessi!

    Sie ist das was mir Halt gibt, das einzige das wirklich wichtig ist. Der einzige Grund morgens aufzustehen.

    Ich sehe sie vor mir, mit ihren langen, braunen Locken, ihrem niedlichen Puppengesicht und dem wunderschönen Körper. Sie ist perfekt. Nicht nur unter optischen Gesichtspunkten, auch durch ihr ganzes Wesen. Sie ist so liebevoll und geduldig und ich mache es ihr nicht gerade leicht.

    Ich lasse häufig meine Launen, meinen Seelenschmerz und auch mein verschissenes Selbstmitleid an ihr aus. Sie erträgt es und stützt mich. Und das, obwohl sie selbst so empfindsam ist, so zerbrechlich, so deprimiert. Sie hat eine so verwundbare Seele, dass ich mich verfluche und mich so abgrundtief hasse, wenn ich wieder mal gemein und ungerecht zu ihr war, da ich merke wie weh es ihr tut, auch wenn sie es nicht zeigen will. Ich liebe Dich, Jessi! Über Alles und für immer!

    Wir leben jetzt seit 3 Jahren zusammen in unserer kleinen Wohnung, diesem Dreckloch. Ehrlich, das ist es. Keine echte Basis für weitere Planungen, Erfolge oder auch einfach nur Hoffnungen.

    Erschwerend kommt hinzu, dass sie einfach keinen neuen „richtigen" Job findet. Sie hilft zwar schwarz ab und an in zwei Eckkneipen hier in der Gegend aus, aber das ist vielleicht einoder zweimal im Monat für zwei oder drei Stunden. Also nichts was wirklich etwas bringt. Sie macht das mehr aus Freundschaft heraus, da sie die Wirte dort kennt und zudem hilft es schon, wenn man 50 Euro mehr im Monat in der Tasche hat. Auch wenn sich das nicht viel anhört, so hilft es doch weiter, wenn man ganz schön knapp rechnen muss.

    Wir haben Bewerbungen zusammen geschrieben und abgeschickt. Über 200 mittlerweile. Es bringt einfach nichts, denn hier liegt auch das Problem. Bewerbungen schreiben. Schreiben und Lesen sind, um es vorsichtig zu formulieren, nicht ihre große Stärke. Das belastet sie sehr.

    Als sie die Stelle im Elektronikmarkt bekam hatte sie Glück, dass es keine Sau interessierte. Im direkten Vergleich mit anderen Bewerbern wäre sie sofort ausgeschieden.

    Ich habe auch schon oft mit ihr geübt und versucht, dass es besser wird. Viel hat es allerdings nicht gebracht. Das liegt nicht daran, dass sie nicht wollte, nein das nicht. Es liegt an einer Art Legasthenie, die die Buchstaben für sie, wenn sie sich nicht übertrieben viel Zeit nimmt, zu einem sinnlosen Brei werden lässt. Wir waren deswegen auch bei einem Arzt, aber außer Konzentrations- und Leseübungen hat der auch nicht mehr mit ihr gemacht. Ja, viel mehr geht auch nicht, aber es wird kaum noch aufzuholen sein was bereits versäumt wurde, denn es hat sich nie jemand darum gekümmert. Das war schon in der Schule so. Entweder wurde sie als faul oder dumm abgetan. Von den Lehrern, den Schülern, ihren Eltern, von mir. Ja, auch ich war nicht besser als alle anderen. Ich habe sie geärgert und gehänselt. Heute würde man sagen gemobbt. Im Nachhinein tut es mir so wahnsinnig leid, dass ich es nicht besser wusste. Aber sie war auch eine super Schauspielerin. Ganz egal wie schwer es war und wie sehr sie litt, sie spielte die Coole, so als wäre ihr alles vollkommen egal.

    Sie musste die Schule wechseln und dümpelte so nach und nach durch die Zeit der Schulpflicht. Kaum dass sie dann nicht mehr musste verließ sie die Schule – Ohne Abschluss.

    Ihre Eltern hatten sowieso nie Verständnis für sie. Diese Arschgeigen… Der Alte verdiente viel Geld bei einer Bank, die Mutter war so was wie eine Society-Charity-Lady im Vorstadt-Format. Ihre ältere Schwester machte ein 1er Abi und studierte, soweit ich es weiß, später Jura. Auch der kleine Bruder hatte keine Probleme. Aus diesem Grund nahmen Jessis Eltern einfach pauschal an, dass Jessi dumm und faul sei. Nicht einmal machten sie sich Gedanken darüber, dass es vielleicht eine Erklärung geben konnte. Nein, denn zwischen Tennisspielen und Wohltätigkeitsveranstaltung blieb dafür keine Zeit. Es hieß dann immer nur „Deine Geschwister können es auch, wieso Du nicht?".

    An Jessis letztem Schultag bekam sie einen Umschlag mit 5000 Mark darin. „Das reicht für Mietkaution, Einrichtung und das was weiter nötig ist. Du nennst uns bitte bis zum Ende der Woche eine Adresse an die wir Deine Sachen schicken lassen sollen. Hier hast Du kein Heim mehr! Wir werden nicht länger tolerieren, dass Du Dir ein faules Leben machst und damit den Familienfrieden störst!" Jessi sagte mal, dass die Worte aus dem Mund ihrer Mutter wie auswendig gelernt geklungen hätte. Irgendwie so, als hätte sie jahrelang daran gefeilt. Wer weiß … Jessi ging an diesem Tag mit zwei Reisetaschen aus dem Haus, warf den Umschlag mit den 5000 Mark draußen wieder in den Briefkasten und ging ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie hatte damit abgeschlossen. Zumindest sagt sie das. Was danach kam weiß ich nicht, denn darüber spricht sie nicht. Und ich respektiere es und frage nicht.

    Wie dem auch sei, ich versuche alles ihr zu helfen, doch manchmal ist selbst das nicht genug.

    So wie vor knapp einem Jahr.

    Ich kam ausnahmsweise früher von der Arbeit und fand Jessi im Schlafzimmer. Sie hatte einen Cocktail aus allen möglichen Tabletten geschluckt. Sie lebte kaum noch und war wirklich nur noch um Haaresbreite am Exitus vorbei geschlittert. Der Notarzt war schnell da und sie kam ins Krankenhaus. Danach Psychiatrie und dann wieder ins Leben. Naja, sie geht zu einer Therapeutin, aber es scheint ihr nicht viel besser zu gehen. Ich muss mich um sie kümmern, stark sein, für sie, für mich, für uns. Scheiße! Ich hoffe echt inständig, dass es nie zum Äußersten kommt, denn ohne sie kann ich, will ich nicht sein. Daher bin ich seit diesem Tag außer auf der Arbeit nur noch bei ihr. Das führt dann dazu, dass ich abends, wenn sie eingeschlafen ist, auf der Couch im Wohnzimmer sitze und mich allmählich betrinke. Das sind dann die Momente wo alles über mich hereinbricht und ich mir wieder mal, teils auch voll Selbstmitleid, darüber klar werde wie unglücklich ich bin. Auf jeden Fall ist das das falsche Rezept, da eben die Trinkerei und das absolute Aus für den Sport zu meinem fetten Bauch geführt haben.

    Was soll ich sagen, weder Jessi noch ich kommen mit unserer Lebenssituation klar und wir beide wünschen uns immer wieder und wieder, dass es anders wäre. Aber es passiert einfach nicht…

    Ein weiterer depressiver Song in den Ohren… „The Idol" von W.A.S.P.

    Ach, fuck it, ich schwelge mal wieder in Todesfantasien und, ich glaub langsam, dass ich es mir immer wieder sage um mein Gewissen zu beruhigen, Selbstmitleid. Aber was soll ich machen? Es gefällt mir einfach nicht so wie es ist. Mein Job kotzt mich an, die Tatsache, dass das Geld nie reicht, einfach alles drum herum. Ja, einfach alles!

    Der Bus hat mittlerweile bereits die Hartener Straße erreicht. Das andere Ende des Industriegebiets. Hier blüht die Wirtschaft…

    Hier muss ich aussteigen.

    Der Bereich Hartener Straße, wozu auch noch 8 weitere Straßen gehören, die jedoch kleiner sind und die Hartener kreuzen, ist ein Industriegebiet der Sorte die man gerne sieht. In jedem Hochglanzprospekt der Stadt wird es mit Bild und Text erwähnt. Ja, denn es strahlt Zuversicht, Verantwortung, Halt und Sicherheit aus. Stahl- und Zementwerk? Diese Zeiten sind längst vergessen bei den Stadtobersten. Das war einmal.

    Die meisten der Gebäude, zumindest die Bürogebäude, sind weiß gestrichen oder verputzt. Maximal ein dezentes hellgrau oder beige schleicht sich ein.

    Dies ist die Ikone der Wirtschaft der Stadt, der Region, des Landes.

    Ich laufe an der Möbeltischlerei vorbei, die nicht mehr auf den persönlichen Geschmack eines einzelnen Kunden ausgerichtet arbeitet, sondern die ihr gesamtes Schaffen auf das Finish von in Osteuropa billig gefertigten Möbelstücken verlegt hat. Diese werden hier schick aufgebrezelt, mit teuren Beschlägen versehen und als Edel-Linie einer großen Möbelhauskette für sündhaft teures Geld vertickt. Tja, plötzlich steht da dann wieder „Made in Germany" auf dem Möbelstück, das ja eigentlich nur hier nachbearbeitet wird.

    Daneben kommt gleich die nächste größere Firma. Eine riesige LKW-Werkstatt mit angeschlossenem Handel. Hauptgeschäft ist der Ankauf, die Reparatur und der anschließende Weiterverkauf – meist nach Nahost – von alten und runtergekommenen LKW. Klingt nach einem guten und auch ehrlichen Geschäft. Ja, wenn nicht ein Teil der Laster und, wie man munkelt, auch weniger friedliche Güter an irgendwelche Terrorstaaten gehen würden. Es gibt immer mal wieder Ermittlungen gegen das Unternehmen, aber bisher waren die Verträge und alles drum herum zwar immer grenzwertig, aber nie wirklich illegal. Grauzonen eben.

    Nun ja, man könnte sicher in jeder größeren Firma hier Dreck finden, denn das gibt es überall. Was natürlich nicht heißt, dass alle hochgradig kriminell sind. Das ist sicher nur ein verschwindend geringer Teil, aber gerade kotzt mich alles und jeder an. Eigentlich ist aber nicht der Zorn auf eventuelle Gauner im Chefsessel, sondern eher der pure Neid. Ich ertappe mich selbst, wie ich auf dem Weg zur Arbeit oder auch abends zur Bushaltestelle mit neidvollem Blick die Chefparkplätze beobachte. S-Klassen, 7er BMW, Porsche, Jaguar XJ, Maserati. Egal welches Modell auch immer, ich bin einerseits neidisch, obwohl es viele der Leute sicher verdient haben, andererseits stelle ich fest, dass hier in der Region die Arbeitslosenzahlen nicht gerade berauschend aussehen, es genug Leute gibt, die kaum auskommen und die Wirtschaft hier vielfach mit Steuervergünstigungen und sonstigen Bonbons ihre Gewinne steigert. Der Protz der Bosse steigt, die Gehälter der Angestellten nicht und mehr Jobs kommen auch nicht dazu. So läuft der Hase nun mal.

    Jetzt sind es noch etwa 300 Meter, dann komme ich am Gelände meines Arbeitgebers, der „Halmsteiner Metallverarbeitung" an. Ein großer Name hier im Revier. Mittlerweile allerdings, seit knapp 6 Monaten, ist dieser Name Teil einer Unternehmensgruppe, eines holländischen Investors. Irgendein Monsterkonzern. Tja, ist nur noch eine Frage der Zeit wann die kleinen Jobs, darunter auch meiner, wegrationalisiert werden. Abwarten.

    Wie auch bei vielen anderen Firmen stehen hier fette Autos auf den Parkplätzen der Chefetage. Die beiden Geschäftsführer fahren Audi A8 und Porsche 911 Turbo.

    Das sind auch zwei Vögel. Sehen aus als wären sie gerade mit der Uni fertig. Irgendwie schreit das geradezu nach Abwicklung. Nun ja, wer weiß es schon.

    Um die Uhrzeit, es ist jetzt 6:15, ist ohnehin noch keiner der beiden Armleuchter hier. Einzig die Karre des neuen Blablabla- Irgendwas-Managers, demjenigen, der Quasi die Übersetzung beziehungsweise die Weitergabe der Anordnungen von oben nach unten inne hat, ist bereits auf ihrem Platz. Audi A6.

    Natürlich nicht das Einsteiger-Modell. Tja, das braucht man eben als Mister Blablabla.

    Wieso ist der denn jetzt schon da? Ungewöhnlich, um nicht zu sagen noch nie vorgekommen. Das sieht nach schlechtem Zeichen aus. Naja, danach sieht der ganze Tag schon aus. Was soll da noch kommen? Vielleicht schmeißen sie uns heute endlich raus. Hurra, wer hätte es geahnt… Scheiß Ironie, scheiß Sarkasmus. Ich denke mir gerade nur eines:

    Was soll’s! Beschissener kann es eh nicht mehr sein.

    Ein Zwischenspiel – Der Morgen danach

    Das Licht fiel durch die seidenen Vorhänge und trotz des trüben Wetters bahnten sich ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen ihren Weg durch das Grau, um schließlich durch die hohen Fenster und die Balkontür des Schlafzimmers zu dringen.

    Sie fühlte die Wärme, die Sonnenstrahlen, die sie sanft an der Nase kitzelten. Sie drehte sich um, schob mit den Füßen die weiche, seidene Bettdecke etwas herunter, streckte und räkelte sich. Sie fuhr sich durch ihr langes blondes Haar, strich sich beidhändig sanft über ihr Gesicht, den Hals herunter, über ihre … Nein, bei ihren Brüsten hielt sie einen Moment inne. Sie konnte es wieder einmal nicht fassen, wie perfekt sie seit dem Eingriff von Professor Höbelmeyer waren. „Hhmmmmm …" ein kurzer lustvoller Seufzer und ihre Hände setzten die Reise fort. Über ihren flachen Bauch auf ihre Oberschenkel. Und mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht glitten ihre Hände zwischen ihre Schenkel, die sich fast wie von selbst zusammenpressten und kamen auf ihrer Vagina zur Ruhe.

    Seit langem schon liebte sie es nackt in ihrer Seidenbettwäsche zu schlafen. Ein wohliges, erregendes, fast schon orgiastisches Gefühl.

    „Was für eine Party!" Sie war nicht sicher ob sie den Satz gesagt oder nur gedacht hatte. Sie war einfach selig. Ihr Lächeln war noch zufriedener geworden und die Gedanken an den letzten Abend, die letzte Nacht waren so wahr, so greifbar, dass sie beinahe glaubte es wäre gerade erst in dieser Sekunde passiert.

    Was für ein Empfang nach der Gala, tolle Leute, gute Stimmung, guter Wein. Dann noch ein heißer Quickie mit ihrem Ex in einem versteckten Winkel der Tiefgarage. Er trauerte ihr immer noch nach, hätte alles für sie getan – Ihr Lächeln hatte jetzt leicht diabolische Züge angenommen – das wusste sie genau. Er liebte sie, sie wollte ihn. Aber nur ab und zu, zu ihren Bedingungen. Sie bestimmte. Kein anderer würde je über sie bestimmen und sie würde sich nie fügen. Das wusste sie.

    „War das geil! Diesmal war sie sicher, dass sie gesprochen hatte. Allerdings nur sehr leise, noch leicht im Traum versunken. Ihre Schenkel ließen den Druck auf ihre Hände nach und gaben diese wieder frei. Sie griff die Decke, zog sie wieder hoch und dachte noch einmal „Was für eine Party!

    Jetzt öffnete sie zum ersten Mal ihre wunderschönen blauen Augen und drehte den Kopf um die Uhr sehen zu können.

    10:30. „Noch zu früh…" murmelte sie und zog sich die Decke über den Kopf während sie, immer noch selig, wieder in die Traumwelt abtrieb.

    In etwa einer Stunde, dachte sie, würde sie aufstehen und sich von der Haushälterin ein Frühstück machen lassen. Oder sie könnte mit einer Freundin Essen gehen. Ach, so viele Möglichkeiten… Jetzt war sie endgültig wieder eingeschlafen.

    Sie würde erst 3 Stunden später wieder erwachen. Auch wenn sie es jetzt noch nicht ahnen würde, so würde es noch an diesem Tag nicht mehr dieselbe Welt sein, in der sie in der Nacht zuvor eingeschlafen war. Ihr Schicksal war besiegelt. Und auch wenn ihr Ankläger, zugleich auch ihr Richter und Henker zu diesem Zeitpunkt noch nichts von ihr ahnte, so gab es doch kein Entrinnen mehr, sie würde bezahlen müssen für das was sie getan hatte, für das was sie war, für das was sie repräsentierte.

    Schuldig im Sinne der Anklage!

    Das Ende – Ein Anfang?

    Wie vermutet. Entlassen!

    Der Blablabla-Mann hat es mitgeteilt. Nicht persönlich, nein, das dann doch nicht. Es lag bei zwölf Kollegen ein Brief im Postfach. Jeder Mitarbeiter hat eins. Bei uns in der Produktion ist das je ein flaches Plastikkörbchen, das auf dem jeweiligen Spind steht.

    Der Text des Schreibens ist so unwichtig, überflüssig, nichtssagend… Diese „Wir bedauern außerordentlich…- Floskeln hätten sich die Arschgeigen sparen können. Ein einfaches „Sie sind gefeuert! hätte es auch getan.

    Man hat uns dazu dann mitgeteilt, dass Blablabla, als Vertretung der Geschäftsleitung, bei Fragen für uns da ist. Tja, deshalb stand die Karre heute schon so früh da. Macht auch nichts. Ich hab nichts zu fragen. Ich hab noch nicht einmal miese Laune. Selbst die pest- und todgeschwängerten Gedanken haben sich auf ein Minimum reduziert. Ich fasse es kaum, aber ich denke positiv. Ich habe im Kopf, dass das auch ein Neuanfang sein kann. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass wir es schaffen, Jessi und ich, dass wir vielleicht einfach noch mal von vorne anfangen müssen. Es könnte ja vielleicht sogar klappen…

    In dem Schreiben stand, dass wir, sofern gewünscht, sofort freigestellt werden könnten. Und ob das gewünscht ist! Ich bleibe hier nicht. Ich lasse nichts zurück und nehme nichts mit. Ich stelle fest, dass ich seit einer Stunde auf der Bank der Herrenumkleide der Produktion sitze. Und ich stelle fest, dass in mir der Aufbruch beginnt, wie ein Klavierstück von Chopin – ja, auch wenn es manchen wundern mag, ich höre gerne und viel klassische Musik –, wie der verwegene Held eines dieser Burt-Lancaster-Piratenschinken. Irgendwie bin ich erschrocken und glücklich zugleich. Vielleicht ist das nur Selbstschutz?

    Drehe ich jetzt durch? Komm ich in die Klapsmühle? Wer weiß … Jedenfalls fühlt es sich gerade jetzt richtig an!

    Ich nehme meinen Rucksack wieder aus dem Spind, den ich noch nicht mal zugemacht habe. Nein, das habe ich mir gespart, nachdem ich den Brief gelesen habe. Die anderen Kollegen sind gleich wie aufgescheuchte Hühner herumgerannt und haben ihrem Ärger lautstark Luft gemacht. Dann sind sie geschlossen zu Blablablas Büro gegangen. Mit typischen Mutmachsprüche wie „Mit uns nicht!, „Jetzt zeigen wir denen mal wer wir sind! und „Die Bonzen können was erleben!" haben sie sich auf den Weg gemacht. Ich hab das kaum noch mitbekommen, denn in mir machte sich diese merkwürdige Entspannung breit, von der ich nicht weiß wie ich sie jemandem erklären soll. Sie ist so weich wie ein Federkissen und doch so stabil wie eine Holzpritsche. Keine Ahnung, Ach Scheiße, womöglich nur Illusion. Was weiß ich?!? Ist mir ehrlich gesagt auch egal. Wichtig ist nur, dass ich nicht um einen Job kämpfe, den ich nicht leiden kann und der mir auf den Senkel geht.

    Ich habe wieder einen leichten Anflug von Stolz, von Ehre in mir. Wo war das nur hingekrochen? Es fühlt sich gut an!

    Scheiße ja!!! Das tut es!

    Und daher nehme ich also den Rucksack. Ich mache ihn auf und packe die persönlichen Sachen aus dem Spind hinein. Das Foto von Jessi und mir, den Zettel mit den wichtigsten Nummern für den Notfall, das kleine Keramikherz, dass sie mir voriges Jahr zu Weihnachten geschenkt hat, zwei T-Shirts, die Arbeitsschuhe, eine alte Autozeitschrift, die auf dem Titel einen 52er Chevrolet BelAir Custom Umbau zeigt. Ich habe die nur wegen dieses Wagens gekauft und mir gesagt, dass ich irgendwann mal so einen Wagen besitzen werde. Aber dazu fehlt leider ein wenig Kleingeld…

    Ich habe alles. Die Arbeitsoveralls hänge ich ab und werfe sie einfach auf den Boden des Schranks. Ebenso das Vorhängeschloss nebst Schlüsseln. Ich nehme das Kündigungsschreiben und einen dicken Filzstift, den ich im Rucksack dabei habe und setze mich auf die Bank. In fetten Lettern schreibe ich der Bande meinen Antwort- naja, sagen wir eher Abschiedsbrief. Ein monumentales Meisterwerk, ein literarisches Werk das seinesgleichen sucht. Mit klaren Worten, treffender Ausdrucksweise und genialer Rhetorik mache ich mich daran das auszudrücken, was einen Mann in einem so schicksalsträchtigen Moment bewegt.

    „LECKT MICH AM ARSCH!"

    Naja, nicht gerade Schiller, Goethe oder Lessing, aber zumindest mal Kinski und damit dann auch tauglich. Das Land der Dichter und Denker…

    Ein wenig Nostalgie kommt dann aber doch in mir auf. Ich erinnere mich an meinen ersten Arbeitstag. Daran wie ich Spind Nummer 13 bekam, der mir bis heute gehört. Naja, sagen wir eher „gehörte". Dann auch die lustigen Momente mit den Kollegen und natürlich auch die schlechten Zeiten in denen mich alles ankotzte und ich realisierte, dass man hier nur ausgenutzt wird. Zumindest als einfaches kleines Rädchen im Getriebe. Das macht den Abschied leicht. Ich zieh den Rucksack auf, klemme mir meine Jacke unter den Arm und gehe aus der Umkleide, durch den Vorraum. Ich ignoriere die Kollegen die zeternd zurückkommen. Ist mir ehrlich gesagt egal was da passiert ist, ich gehe weiter.

    Durch den langen Flur zu der Gabelung, bei der es links durch den Personalein- und -ausgang ins Freie geht oder aber rechts ins Foyer. Ein absolutes Tabu seit jeher! Kein Produktionsangestellter darf dort hindurch laufen. Aber was soll’s? Ein paar Eier in der Hose sollte man zumindest in so einer Situation haben. Ich biege also nach rechts ab und stoße die Tür auf die ins Foyer führt. Bumm! Das muss meine Wirkung sein, denn die beiden Schicksen am Empfang schauen mich an als hätte ich ihnen ein paar in die Schnauze gehauen. „Tag die Damen!" rufe ich laut in ihre Richtung, doch sie können nichts erwidern, schauen mich nur mit offenen Mündern an. Eine der beiden ist brünett und Ende 30. Sie ist übertrieben geschminkt und das Empfangsdamenkostüm, blau wie das einer Lufthansa-Stewardesse, spannt in der Taille ziemlich. Die zweite ist Anfang 20. Sie hat rötliches Haar, Sommersprossen und wirkt etwas verschüchtert. Eigentlich ganz niedlich.

    „Sie dürfen ruhig wieder anfangen zu atmen, zu denken und zu arbeiten…" rufe ich ihnen zu als ich durch die große Drehtür marschiere.

    Mist! Noch einmal die Runde mit der Tür machen. Wieder rein. Die Schicksen sammeln sich. „Das ist ja unverschämt hoch zehn!" poltert die Brünette los.

    „Wie mans nimmt, Frau… ich lese ihr Namensschild an ihrem Kostümjäckchen „…Frau…Frau…Kalcher-…Kalcher- Soviejetczik.

    Was für ein Name. Unaussprechlich. Vielleicht. Aber jetzt bring ich sie zum Schweigen. „Es tut mir leid sie verärgert zu haben. Ich mache es umgehend wieder gut! Ich kann den Sarkasmus in meiner Stimme nicht verbergen und … Ich packe ihren Kopf mit beiden Händen, ziehe sie blitzschnell zu mir und drücke ihr einen dicken feuchten Schmatzer auf die Lippen. Sie kann gar nicht so schnell reagieren wie sie möchte und der Ohrfeige weiche ich geschickt aus. Oh Mann, ist das lustig! „Ich hab noch was vergessen. und werfe ihr die Stechkarte auf den Tresen. Dann gehe ich zurück, ignoriere dabei das Geschrei von der Brünetten, wieder durch die Drehtür und verlasse die „Halmsteiner Metallverarbeitung". Für immer!

    Ich stehe auf dem Hof und atme tief ein. Ein schöner Tag…

    Ja, ich weiß, entlassen zu werden kann man jetzt nicht gerade toll nennen, doch was soll’s? Soll ich jetzt in Depressionen verfallen? Hatte ich die nicht heute Morgen? Was ist denn mit mir los? Bin ich irgendwie nicht mehr ganz normal? Ich bin gerade so überschäumend motiviert und zuversichtlich, dass es beinahe weh tut. Was geht hier vor sich? Ich weiß es nicht. Das erinnert mich gerade an einen Film mit Richard Gere den ich mal gesehen habe. „Mr. Jones". Bin ich etwa manisch depressiv? In den letzten Monaten ging es mir oft dreckig.

    Kaum ein Funke Hoffnung. Und jetzt? Ich versteh es einfach nicht, aber es fühlt sich gerade so gut an…

    Ich stelle meinen Rucksack auf den Boden und ziehe die Jacke an. Ich krame in den Taschen nach meinen Zigaretten und einem Feuerzeug. Ich finde beides und zünde mir eine an. Dann verstaue ich alles wieder in der Gewissheit beim nächsten Mal wieder zu suchen, denn Ordnung in Taschen aller Art war noch nie mein Ding. Ich nehme einen kräftigen Zug und greife während ich den Rauch ausblase meinen Rucksack. Los geht’s! Auf in die Zukunft. Ich weiß, dass es heute Abend oder auch schon in einer halben Stunde anders aussehen kann, aber das kann und will ich jetzt nicht glauben.

    Ich laufe wieder einmal, zum letzten Mal, das schwöre ich mir, die Straße entlang Richtung Bushaltestelle. Wieder vorbei an den Chefparkplätzen. Und ich stelle fest, dass Neid und Missgunst sich nicht durch einen übereuphorischen psychotischen Anflug vertreiben lassen.

    Tja, eben doch alles wie bisher. Ich bleibe einen Moment vor dem Parkplatz einer Firma für Software-Entwicklung stehen und halte vor einem schwarzen Jaguar XJ inne. Ein schönes Gerät. Wohl aus den 70ern, in perfektem Zustand. Das wäre mein Ding. Oder natürlich der 52er BelAir. Ich ziehe an meiner Zigarette und gehe weiter. Plötzlich fällt mir Jessi ein. Was wird sie wohl sagen? Wird sie mich für komplett verrückt erklären? Oha! Das habe ich nicht so wirklich bedacht. Wie erkläre ich ihr das am besten? Und zwar so, dass sie nicht gleich in Panik gerät. Vielleicht sage ich erst mal nichts? Hhm… Aber sie merkt ja, wenn ich heute schon vormittags nach Hause komme. Naja, ich könnte zuerst direkt zum Arbeitsamt gehen. Ich muss mich ja ohnehin arbeitslos melden. Und bei denen dauert es eh immer ewig bis man drankommt. Dann wäre das auch gleich erledigt. Mist! Die Überlegerei hat meiner Euphorie einen ordentlichen Dämpfer verpasst.

    Die Zigarettenkippe schnippe ich nach einem letzten Zug auf die Straße, wo sie langsam vor sich hin glimmt bis sie irgendwann verlischt. Nun ja, es sei denn, sie wird vorher von einem Reifen der durchfahrenden Autos und Laster ausgelöscht.

    Das ist das passende Wort. Gerade jetzt beginnt sich in mir das Gefühl zu manifestieren ebenfalls ausgelöscht zu sein. Verdammt, wieso muss ich nur so viel nachdenken?

    Ok, dann also zuerst zum Arbeitsamt. Hhm, wie komm ich da am besten hin? Mit der 658 bis zur Hauptstraße. Dann mit der 241 zur Prinz-Eugen-Straße und von dort zu Fuß circa 5 Minuten bis zum Kaiser-Friedrich-Platz. Dort ist sie, die Verwahrstelle für alle Arbeits-, Lust-, Motivations- oder auch Glücklosen. Tja, so what?!? Bleibt ja nichts sonst übrig…

    Ich habe mittlerweile die Bushaltestelle erreicht und stelle fest, dass der Bus erst in einer halben Stunde kommt. Ich setze mich also auf die Bank des Wartehäuschens, lege den Rucksack ab und hole meinen MP3-Player heraus. Etwas Berieselung und eine Zigarette. Kaum habe ich die Kopfhörer in meinen Ohren platziert startet auch schon „Touch of evil" von Judas Priest. Ich weiß nicht wieso, aber ich werde wieder extrem deprimiert und ich lasse wieder meinen Gedanken freien Lauf. Ich merke wie ich wieder tiefer und tiefer sinke. Ich ziehe an der Zigarette und lasse den Rauch durch meine Nase entweichen.

    Niemand ist hier, keiner bei mir, niemand der mich hält und ich kann mir nicht helfen. Ich kämpfe mit den Tränen. Es gelingt mir gerade so, dass die Augen nur feucht werden und keine Sturzbäche herniedergehen, dennoch, der Klos im Hals ist so groß wie ein Basketball, verhindert, dass ich schlucken, atmen oder sprechen kann. Mir ist schlecht. Ich kann nicht mehr. Wie soll ich Jessi das erklären? Von meiner Aufbruchsstimmung ist nichts übrig, gar nichts…

    Ob sie das verkraften wird? Noch eine Enttäuschung. Ich habe versagt! Ich kann ihr doch so nicht gegenübertreten. Was soll ich ihr nur sagen? Dass ich sie über alles liebe? Ui toll, das ist es sicher was sie braucht. Ihr ging es sowieso nicht so gut in den letzten Tagen. Wie soll ich ihr das nur sagen?

    Ich würde gerade am liebsten all meine Morgen für ein gutes Heute eintauschen…

    Aber ich muss mich zusammenreißen, funktionieren. Ich muss mich daran machen schnell einen neuen Job zu finden und irgendwie vorwärts zu schauen. Na toll, das klingt so leicht und ist sicher auch nicht so schwer, doch im Moment fällt mir allein schon der Gedanke daran schwer, dass ich mich um irgendetwas kümmern soll. Ich kann eigentlich nicht mehr, doch treibt es mich weiter, dass Jessi mich braucht und ich ihr helfen will. Und dafür brauche ich eine Arbeit, denn das Leben ist ein teurer Spaß und ich setze mich sicher nicht einfach

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