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Melange, Verkehrt und Einspänner: Ein Wirtschaftskrimi aus Wien
Melange, Verkehrt und Einspänner: Ein Wirtschaftskrimi aus Wien
Melange, Verkehrt und Einspänner: Ein Wirtschaftskrimi aus Wien
eBook505 Seiten7 Stunden

Melange, Verkehrt und Einspänner: Ein Wirtschaftskrimi aus Wien

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Über dieses E-Book

IT-Spezialist Ron Sturiak wird nach Wien beordert, um einen Fehler in einer von seinem Konzern gelieferten Software zu finden. Bei seiner Ankunft am Flughafen entgeht er nur durch Zufall einer Entführung. Er versucht seine Spuren für die Entführer zu verwischen und über einen Mittelsmann mit seinem Auftraggeber Kontakt aufzunehmen. Wer ist hinter Sturiak her – und warum? Und welche Verbindung gibt es zum Verwender der Software, einem kleinen, in der Pharmaforschung engagierten Unternehmen am Wiener Stadtrand. Der Softwarefehler gibt jede Menge Rätsel auf. Dagegen wird Sturiak immer klarer, dass es mehrere "Player" in einem brutalen Kampf um einen möglichen sensationellen Durchbruch in der Forschung geben muss.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Feb. 2017
ISBN9783742795854
Melange, Verkehrt und Einspänner: Ein Wirtschaftskrimi aus Wien

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    Buchvorschau

    Melange, Verkehrt und Einspänner - Josef Mugler

    1

    Die Musik wurde jäh unterbrochen. Ron Sturiak wurde aus seinen Gedanken gerissen. In letzter Zeit passierte es ihm öfter, dass er sich in Vorstellungen ver­lor, die mit seiner Realität nichts zu tun hatten.

    Er sah sich zusammen mit seiner Traumfrau einmal auf einer exotischen Insel durch einen Palmenhain an einem weißen Sandstrand wandeln. Dann wieder sprang das Bild in das abendliche Paris, wo er – wieder in Begleitung – am Ufer der Seine entlangschlenderte, gerade als ein Boot aus dem Dunkel einer Brücke auftauchte. Waren das bloß unwillkürliche Wunschbilder, die das Gehirn im Wach­­­­zustand produzierte, oder war er eingenickt und hatte geträumt?

    Er spürte das Verlangen, nach dem Auftrag, den er jetzt in Wien auszuführen hatte, einige Wochen an einen fernen Strand zu verschwinden und auszu­span­nen. Aber wo war die Traumfrau? Gerade als seine Gedanken auf die Suche gingen, wen er sich als Begleiterin für dieses ersehnte Hide-away wünschen könnte, brach die Musik im Kopfhörer ab. Der Kapitän meldete sich und ver­kün­dete, dass sie aufgrund der stürmischen Atmosphäre zehn Minuten früher als geplant landen würden.

    Ron Sturiak war im Flugzeug von Zürich nach Wien unterwegs. Auf dieser Strecke kam es immer wieder vor, dass bei starkem Westwind die Flugzeit kürzer als vorgesehen ausfiel. Anders als in früheren Jahren, als die Swiss Air noch dafür sorgte, dass Zürich ein überlastetes Drehkreuz im internationalen Flugver­kehr war, wurden die Abflugzeiten dort nunmehr in der Regel pünktlich einge­halten. Sturiak überlegte: Er sollte in Wien-Schwechat von einer Mitar­beiterin der österreichischen Tochtergesellschaft von Global Consulting Support abgeholt werden. Sicher würde sie seine frühe Ankunftszeit mitbekommen, wenn sie auf Draht war. Und das konnte man von einer Mitarbeiterin des Consulting-Support-Konzerns, egal wo auf der Welt, durchaus erwarten. Von allen Mitgliedern des großen, weltweiten Teams wurde größte Aufmerksamkeit in allen persönlichen Angelegenheiten verlangt. Das war essenzieller Bestandteil der „Support"-Philo­sophie.

    Sturiak war von Wien angefordert worden; das heißt, nicht er persönlich, son­dern ein Spezialist für die Aufdeckung versteckter Softwarefehler. Er hatte sich das Attachment der Mail wiederholt durchgesehen, das den Anlass für seine Reise gab. Ein Kunde in Wien hatte Probleme. Vielmehr: Er machte Probleme. Es handelte sich um eine Software, die nicht das gewünschte Resultat lieferte. Er konnte aus dem Text nichts Konkretes über den behaupteten Mangel heraus­lesen. Wahrscheinlich hatte man wieder einmal einen dieser Studenten für die Installation eingesetzt. Die Wiener Tochtergesellschaft hatte das in letzter Zeit öfter getan, weil sie sparen musste. Ihre Kosten lagen im internationalen Ver­gleich auf­fällig über dem europäischen Durchschnitt. Deshalb setzten sie hier jetzt wohl mehr Aushilfspersonal ein. Das funktionierte manchmal ganz gut. Aber wenn es Probleme gab, dann brauchte man einen Experten, der die ver­fahrene Situation wieder in den Griff bekam. Wie im Fall von Ron Sturiak musste man einen solchen dann womöglich aus irgendeinem entlegenen Winkel der Welt kommen lassen, aus dem es nicht einmal einen Direktflug nach Wien gab, jedenfalls nicht mit einer der vom Konzern unter Kontrakt genommenen Flug­linien. Nun war Sturiak im Anflug auf Wien. Er wusste nicht, was dort das Problem sein würde. Und er würde zu früh landen.

    Die Maschine tauchte in eine weiße Nebelsuppe ein. Wien hatte nicht nur stür­mischen Westwind, sondern auch jede Menge Wolken. Der Kapitän hatte Regen bei zehn Grad Celsius angesagt. Die Bewölkung war stellenweise aufgerissen. Sturiak konnte dann die „Türme aus Watte" sehen, die – wie es schien – wenige Meter neben dem Flugzeug hoch in den Himmel ragten. Dann war es draußen wieder für das Auge vollkommen undurchdringlich weiß. Die Scheinwerfer hellten die Umgebung auf kurze Distanz auf, obwohl es schon dunkel war. Der Sturm rüttelte das Flugzeug heftig hin und her und ließ es manchmal auch ein paar Meter absacken. Sturiak störte das nicht sonderlich. In den pazifischen Zonen, wo er sich oft aufhielt, waren die Turbulenzen ärger als im gemäßigten Mitteleuropa.

    Sturiak war in den letzten Jahren immer häufiger dienstlich im Fernen Osten unterwegs. Die Softwareproduktion schien sich aus den Vereinigten Staaten und Europa immer mehr dorthin zu verlagern. Angestellt war er bei Global Consul­ting Support, der Muttergesellschaft eines weltweit agierenden Softwarepro­duzenten und -dienstleisters mit der Zentrale in London. Erst am Vortag war er aus Taiwan zurückgekommen und nun schon wieder quer durch Europa unter­wegs.

    Obwohl sein Name das nicht andeutete, stammte Sturiak eigentlich aus Deutsch­land. Seine Vorfahren waren im Ersten Weltkrieg vom Balkan nach Frankfurt gelangt, warum, das wusste er selbst nicht genau. Einige Verwandte gab es dort noch, in Swischtow an der Grenze zu Rumänien. Bulgarien war im Ersten Weltkrieg mit dem Deutschen Kaiserreich verbündet. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun.

    Das Flugzeug setzte zur Landung an. Es war bereits ziemlich dunkel, aber noch nicht ganz. Man konnte nach dem Austritt aus der Wolkendecke immerhin noch die flache Landschaft und einige Häuser erkennen. Das Flugzeug hatte wegen des Westwindes Wien im Norden umfliegen und von Osten her zur Landung an­setzen müssen.

    Sturiak hatte nur Kabinengepäck, denn sein Einsatz sollte in maximal drei Tagen beendet sein. Mehr Budget war dafür in Wien nicht vorhanden. Gelänge es ihm in dieser Zeit nicht, das Problem zu lösen, müssten die Wiener selbst sehen, wie sie zurechtkämen, hatte es in der Londoner Zentrale geheißen.

    Wohl musste er an einer Passkontrolle vorbei, da er aus einem Nicht-EU-Land einreiste, aber er beeilte sich, rasch in die Ankunftshalle zu gelangen, was auf dem vergleichsweise kleinen Flughafen von Wien-Schwechat auf kurzem Weg möglich war. Er war neugierig, ob es die Dame von Consulting Support Vienna geschafft hatte, vor ihm da zu sein. Die Schiebetür zur Ankunftshalle öffnete sich und er trat hinaus. Trauben von Menschen warteten hier auf ankom­­mende Passagiere. Er blickte die erwartungsvoll gespannten Gesichter ent­lang, um ein Schild oder wenigstens ein Blatt Papier mit der Aufschrift „Mr. Sturiak oder, was wahrscheinlicher war, mit „Consulting Support zu er­blicken.

    Wen würden sie geschickt haben? Er erinnerte sich an die Dame von seinem ersten Besuch vor einigen Jahren. Er gestand sich ein, dass er lieber die Be­kannt­schaft mit einer anderen machen würde. Die von damals war die ganze Zeit ziemlich trocken und unnahbar geblieben. Wie hieß sie doch gleich? Sturiak wusste es nicht mehr. Aber es schien diesmal überhaupt noch niemand da zu sein. Consulting Support Vienna sparte also neuerdings beim qualifizierten Personal.

    Da sah er es auf dem Boden liegen: eine Tafel aus Karton mit seinem Namen. Ja, er konnte es deutlich lesen: „Mr. Sturiak". Aber warum lag diese auf dem Fußboden? Wo war die Person, die sie hier fallen gelassen hatte? Sturiak hob den Karton in der Größe des A4-Formats auf. Niemand schien ihn zu beobach­ten. Auch nicht die Frau, die in der Nähe stand und angestrengt auf die sich ständig öffnende und wieder schließende Tür starrte, aus der die ange­kom­menen Passagiere herausströmten.

    „Entschuldigung, gehört das vielleicht Ihnen?"

    „Nein!"

    Ein Nein war die Antwort, sonst nichts.

    „Aber, ich bitte nochmals um Entschuldigung, Sturiak bemühte sich in einen seiner Meinung nach in Wien angebrachten höflichen Tonfall zu gelangen, „haben Sie vielleicht jemand gesehen, der diese Tafel in Händen hielt?

    „Ja!"

    „Und wo ist diese Person, ich nehme an, es war eine Dame, hingekommen?"

    „Weiß nicht! Die hat jemand in Empfang genommen … ist mit denen weg."

    „Aber …, in Sturiak begann ein ganzes Glockenspiel Alarm zu läuten. Wieso kam ihm diese Auskunft plötzlich so unheimlich vor? Warum kroch ihm eine Angst in die Glieder, für die er kein Bedrohungsszenario vor sich sah? Ein paar Sekunden später hatte er den Faden gefunden, an dem seine Reaktion hing: Einem Kollegen war es vor Monaten bei seiner Ankunft in London ähnlich ergangen. Wieso ähnlich? Bislang lag nichts vor, was auf eine echte Parallele zu dem Vorfall in London schließen ließ. Es war doch bloß mit seiner Abholung etwas schief gelaufen. Sie war offenbar schon hier gewesen. Viel­leicht war ihr in der stickigen Atmosphäre – Sturiak fand die Luft in der Ankunftshalle des Wiener Flughafens zum „Schneiden – übel geworden und sie hatte die Halle deshalb eilig verlassen müssen, wobei ihr vielleicht die Tafel mit seinem Namen aus der Hand gerutscht war, ohne dass sie es gemerkt hatte.

    Das Gehirn vieler Menschen reagiert in solchen Situationen mit einem Trom­mel­feuer an Vermutungen, die das Ausmaß der wahrge­nommenen Bedrohung entweder zu verstärken oder abzumildern suchen. In Sturiak errang das Gefühl, einer unbekannten und bislang unsichtbaren Bedrohung ausgesetzt zu sein, die Oberhand. Er war nicht der Mutigste. Und er war allein. Und er hatte die Geschichte von London im Kopf, wo ein Mitarbeiter seiner Firma gekidnappt worden war. Man hat ihn bis heute nicht gefunden. Und in­zwischen soll auch noch ein anderer verschwunden sein, ein Experte, der auf dem gleichen Gebiet arbeitete wie er. Das hatte er erst vor Kurzem in Taiwan erfahren. Man konnte ihm aber dort keinen Namen nennen. War er der Nächste? Wie konnte er sich Klarheit verschaffen? Jetzt, in dieser Situation, allein, aber für etwaige Gegner leicht sichtbar, in der dicken Luft der An­kunftshalle des Wiener Flughafens, aus dem er am liebsten Hals über Kopf hinausgelaufen wäre – und damit womöglich seinen Kidnappern direkt in die Hände!

    „Können Sie mir beschreiben, wie der Mann aussah, mit dem die Dame, die diesen Karton in Händen hielt, weggegangen ist?"

    „Warum? – Wer sind Sie und was wollen Sie? Ich warte hier auf meinen Sohn, der aus Südafrika zurückkommt. Da kommt er schon. Hallo, hallo …", die Dame bemühte sich, mit der einen freien Hand – in der anderen hielt sie einen dick wattierten Anorak – über die Köpfe der vor ihr stehenden Wartenden hinweg zu winken.

    „Nur ein Wort noch: Ich bin dieser Mr. Sturiak! Er deutete auf die Tafel mit seinem Namen. „Sie verstehen? Ich bin beunruhigt. Eine Verwechslung, ein Irrtum vielleicht. Ich sollte hier abgeholt werden.

    „Es waren zwei Männer. Die kamen nicht aus der Tür dort. Die kamen von hinten. Nach ein paar Worten, die ich nicht verstand, folgte ihnen die Frau. Das ist alles, was ich weiß. Sie nahmen sie in die Mitte, da fiel wahrscheinlich der Karton zu Boden. Und jetzt tschüss!"

    Sturiak war über das unwirsche Ende des Gesprächs verärgert. Aber er war zu besorgt, dass etwas nicht stimmte, womöglich er selbst in Gefahr war, sodass er der Frau nichts mehr erwidern wollte. Warum hatte man die Person, die ihn abholen, in ein Hotel bringen und über seinen Einsatz in Wien instruieren sollte, aus dem Verkehr gezogen? So wie die Augenzeugin die Sache darstellte, war es kein Irrtum. Die Mitarbeiterin von Consulting Support Vienna hatte nicht einen falschen Passagier abgeholt. Sie selbst war hier offen­sichtlich von zwei Män­nern weggelockt worden. Hatte das etwas mit ihm zu tun? Wenn ja, dann konnte jeden Moment hier wer auftauchen, ihn abfangen und an eine falsche Adresse bringen. Instinktiv hatte er die Tafel, nachdem er sie aufgehoben hatte, verkehrt gehalten, sodass sein Name nach innen gerichtet war. Wenn jemand an ihm interessiert war, dann wäre gerade diese spontane Handlung, durch die er die Tafel mit seinem Namen an sich nahm, für den Betreffenden gleichzeitig seine Identifikation gewesen. Er blickte bemüht teilnahmslos um sich, während er innerlich auf das Äußerste gespannt war. Niemand schien sich ihm zu nähern. Allerdings war die Halle nach wie vor ziemlich voll. Es waren relativ viele Flug­zeuge hintereinander angekommen. Einen ungebetenen Abholer in dieser Menge rechtzeitig zu erkennen und vor ihm zu flüchten, erschien unmöglich. Entweder hatten sie es nicht auf ihn abge­sehen oder sie hatten eine Panne. Die Tafel musste weg, auch wenn sie nicht seinen Namen nach außen zeigte. Er faltete sie schnell zusammen und steckte sie in ein Außenfach seines Handge­päcks.

    Als Nächstes galt es unauffällig von hier zu verschwinden. Die Dame neben ihm hatte ihren Sohn in den Armen. Sturiak bemühte sich, so zu tun, wie wenn er dazugehörte. Die über das Wiedersehen ihres Sohnes überglückliche Mutter merkte nicht, dass er noch da war und sich an sie hielt, als wäre er der Vater.

    Der Sohn merkte es sehr wohl und fragte: „Mutter, wer ist das?"

    „Sie sind noch immer da?!", stellte sie halb fragend, halb vorwurfsvoll fest.

    „Madam, ich brauche vielleicht Ihre Hilfe! Erschrecken Sie nicht! Bitte lassen Sie mich zusammen mit Ihnen und Ihrem Sohn diesen Raum verlassen, so als würde ich zu Ihnen gehören, als wäre ich … Ihr Mann. Ja, bitte, tun Sie es für mich! Nur bis zur Taxe … zum Taxi", korrigierte Sturiak, sich an die Wiener Rede­weise erinnernd.

    „Hören Sie …"

    „Bitte fragen Sie mich jetzt nicht nach Erklärungen. Ich erkläre es Ihnen später. Bitte gehen wir!"

    „Das ist ja wie im Kino, sagte der Sohn, „ja, gehen wir! Hier ist es ja aufre­gender als in Johannesburg! Und das will was heißen!

    Die Mutter war nun bereit. Sturiak dankte still dem Sohn und dessen Aben­teuersinn. Er begann über seine eigenen Eindrücke aus Südafrika zu erzäh­len, um die beiden, vor allem den Sohn, der hier offenbar der „Chef" war, bei Laune zu halten. Schließlich waren sie draußen beim Taxistand. Es hatte keine Kompli­kationen gegeben. Sturiak dankte nochmals kurz, ließ sich in den nächsten bereitstehenden Wagen fallen, gab dem Fahrer Anweisung, ins Zen­trum zu fahren und verbarg sein Gesicht, solange sie im Flughafengelände waren, so gut es ging. Es regnete. Und es war inzwischen ganz finster. So konnte ihn im fahrenden Auto sicher niemand erkennen. Aber was nun?

    Obwohl er keine genauen Angaben über das Problem hatte, das er bei einem Kunden der Wiener Tochtergesellschaft seines Konzerns lösen sollte, vermutete er, dass dieser Auftrag brisant war. Schließlich ging es um den Einsatz einer neuen Software in der Forschung eines Pharmaunternehmens. Das Funk­ti­onieren oder Nicht-Funktionieren eines einzigen Rädchens in diesem For­schungs­­­getriebe konnte Milliarden bedeuten – für das betroffene Unternehmen oder für dessen Konkurrenten. Wer für eine der letalen Krankheiten wie Krebs oder SARS oder Aids ein wirksames Medikament oder einen Impfstoff hatte – oder zuerst hatte, konnte mit einem weltweiten kaufkräftigen Markt rechnen.

    Wenn man die Durchführung seines Auftrags verhindern wollte, dann würden die Auftraggeber keine Kosten scheuen, ihn von seinem Einsatzort fernzuhalten. Das würde bedeuten, dass man mit allem rechnen musste. Dass er nicht am Flughafen abgefangen wurde, war möglicherweise eine Panne der anderen Seite. Oder bildete er sich das alles doch nur ein?

    Wenn man allerdings Interesse an der Verhinderung seines Einsatzes hatte, dann würde der betreffende Auftraggeber durch diesen Misserfolg unter erhöhtem Zugzwang stehen. Man würde alles tun, um seine Kontaktaufnahme mit Consul­ting Support Vienna zu unterbinden. Man würde ihn bei seinem diesbezüglichen Versuch erneut ausfindig machen und an seinem Einsatz hindern. Wie konnte er bloß herausbekommen, fragte er sich, wie ernst seine Situation wirklich war?

    Da fiel ihm Mario ein. Mario war mit ihm zusammen in mehreren Seminaren an der Universität gewesen und sie hatten sich im Verlauf ihres wiederholten Zusammentreffens angefreundet. Das war allerdings Jahre her. Was Sturiak von Mario Andolfi zuletzt vor zwei Jahren erfahren hatte, war dessen Übersiedlung nach Wien. Er arbeitete hier für eine Investmentgesellschaft, die von Wien aus Beteiligungen an mittel- und osteuropäischen Projekten und Firmen verwaltete.

    Mario war wahrscheinlich irgendwo in dieser Stadt. Aber das sollte leicht herauszubekommen sein. Sturiak entschloss sich nach seiner „Flucht" aus dem Flug­hafengebäude, sein Mobiltelefon vorläufig nicht zu verwenden. Wenn er für irgendjemanden wirklich wichtig war, dann konnte es leicht sein, dass seine Telefonverbindungen abgehört wurden. Wie einfach das in Österreich ging, wusste er zwar nicht. Aber dass es technisch kein Problem war, ihn über sein Mobiltelefon zu orten, war ihm als EDV-Experten jedenfalls klar. Sie würden gewiss nur darauf warten, dass er sich durch das Telefon verriet. Also musste er zuerst ein Hotelzimmer finden, von wo aus er weitere Aktionen starten konnte. Natürlich kam das für ihn gebuchte Hotel nun nicht mehr in Frage. Wenn man ihn suchte, dann sicher zuallererst dort. Noch tappte Sturiak über seine Gegner im Dunkeln. Immerhin passierten ihnen Pannen, sonst hätten sie ihn schon geschnappt.

    Sturiak dirigierte das Taxi zu einem kleineren Hotel knapp außerhalb der Wiener Innenstadt in der Margaretenstraße, das er von früher kannte. Er trug sich sicherheitshalber unter einem falschen Namen in das behördlich verlangte Gästeblatt ein. Während er den Lift zu seinem Zimmer im dritten Stockwerk benützte, dachte er nach, mit wem er sich in der Außenwelt in Verbindung setzen sollte. Bloß nicht mit Consulting Support Vienna! Auf diese Kontakt­aufnahme würde die andere Seite gewiss ebenso setzen. Anderseits war es ein Risiko, sich dort nicht zu melden. Schließlich hatte er einen Auftrag zu erledigen und sollte nach maximal drei Tagen wieder in der Londoner Zentrale von Global Consulting Support zurück sein. Er konnte nicht ewig in Wien herumlungern und warten, was passieren würde. Konnte ihm eine Mel­dung bei seiner Zentrale in London etwas bringen? Wahrscheinlich würde ihn sein Chef angesichts seiner dort gut dokumentierten Überlastung in den letzten Wochen für überdreht halten.

    Also war es vielleicht doch das Beste, einen unverfänglichen Mittelsmann wie Mario ausfindig zu machen. Er fand in seinem Terminkalender eine Telefon­nummer, die ihm Mario nach dessen Übersiedlung nach Wien hatte zukommen lassen, und tippte sie, nachdem er sein Zimmer betreten hatte, in den auf dem Nachttischchen stehenden Telefonapparat.

    Mario meldete sich tatsächlich. Natürlich war er erfreut, seinen ehemaligen Studienkollegen zu hören. Sturiak schilderte seine Eindrücke der vergangenen Stunde. Es war nun 7 Uhr abends. Mario lebte mit seiner Frau und einer achtjährigen Tochter in Währing, einem Bezirk nordwestlich des Zentrums. Sie erwarteten an diesem Abend Gäste, die in Kürze eintreffen würden. Ron solle doch vorbeikommen und den Abend mit ihnen verbringen. Er würde nicht stören, im Gegenteil, ein Mann wie er, der viel in der Welt herumkomme, schon viel gesehen und erlebt habe, wäre will­kommen.

    Sturiak schauderte bei der Vorstellung, dass er in der Situation, die ihn in große Unruhe versetzte, einen Abendunterhalter abgeben sollte. Er lehnte ab, bat aber Mario, morgen früh mit der Geschäftsleitung von Consulting Support Vienna Kontakt aufzunehmen und seine Bedenken zu schildern. Man möge ihn, wenn aus Sicht der Consulting Support kein Grund für einen Verdacht eines Anschla­ges gegen ihn bestünde, in seinem Hotel abholen. Er würde jedenfalls bis 10 Uhr auf einen Kontakt warten. Mario versprach, das zu tun.

    Zu dumm! – Er musste Mario nochmals anrufen, denn er hatte nicht daran ge­dacht, dass er sich hier unter einem falschen Namen eingetragen hatte. Nicht auszudenken, was für Komplikationen das wieder verursachen konnte, wenn jemand nach ihm fragte!

    Nachdem außer Mario Andolfi niemand von seinem Aufenthalt in diesem Hotel wissen konnte, fühlte sich Sturiak für die kommende Nacht einigermaßen sicher. Aufgrund der Zeitverschiebung gegenüber dem eigentlichen Ausgangspunkt seiner Anreise spürte er nach der Aufregung, die mit seiner Ankunft in Wien verbunden war, nun quälende Müdigkeit. Er fiel rasch in einen unruhigen Schlaf, aus dem er immer wieder emporschreckte. Dann versuchte er sich zu vergewissern, was von den Erfahrungen der letzten Stunden Wirklichkeit, was Täu­schung oder gar nur ein eben abgebrochener Traum war.

    *

    Anke fühlte den Schmerz in der Stirn, im Nacken, an den Schläfen, überall. Es war anders als sonst, wenn sie mit Migräne aufwachte. Alles schien anders. Sie versuchte, sich zu erinnern. Woran sollte sie sich erinnern? Mehrere Bilder der letzten Tage bauten sich vor ihr auf. Welches war das gewünschte? Waren alle diese Bilder real oder befanden sich auch ein paar Traumgespinste darunter? Anke hatte Mühe, die Realität, eine ihr ungewohnte Realität von den unwirk­lichen Fantasiebildern zu unterscheiden, die in ihrem Kopf um Anerkennung rangen.

    Bevor sie den Gedächtnisspuren weiter nachgehen wollte, versuchte sie sich ihre Lage zu erklären. Welche Zeit war es jetzt? Menschen wie sie, die beruflich vom Zeitmanagement für sich selbst und für andere geprägt waren, fragen immer zuerst nach der Zeit und nicht nach dem Ort, an dem sie sich befinden. Die Zeitfrage hatte am Beginn des 21. Jahrhunderts die Ortsfrage, welche die Menschheit über Jahrtausende beherrscht hatte, an Wichtigkeit bei Weitem über­holt. Sie konnte nicht abschätzen, wie spät es war, ja nicht einmal, welcher Tag eben jetzt war. Es war völlig finster um sie herum. Sie versuchte, sich zu bewegen. Sie registrierte, dass sie an Händen und Füßen gefesselt war. Sie versuchte ihre Stimme. Es ging nicht. Ihr wurde bewusst, dass ihr Mund mit einer Folie ver­klebt war. Sie hatte keine Chance, ihre Lage zu beurteilen. Aber sie lebte. Daran hatte sie keinen Zweifel. Im Jenseits würde der Kopf nicht so schmerzen, würde ihrer Vorstellung nach überhaupt nichts schmerzen.

    Wenn schon eine Beurteilung der gegenwärtigen Lage unmöglich schien, dann war es wohl am besten, sich einmal darüber klar zu werden, wie es dazu gekom­men war. Anke dachte als Erstes an einen Autounfall. Vielleicht befand sie sich in der Intensivstation eines Krankenhauses. Dagegen sprachen natürlich der verklebte Mund und die totale Finsternis. Hatte sie ihr Augenlicht verloren? Das konnte sie nicht sofort ausschließen. Aber die Tatsache, dass man sie an Händen und Füßen gefesselt und ihr den Mund verklebt hatte, sprach nicht für die Folgen eines Unfalls. Himmel, jetzt wurde ihr klar, dass sie Opfer eines Ver­brechens geworden sein könnte! Ihre Abwehrkräfte, ihr Lebenswille erhiel­ten starke Impulse. Wenn sie in verbrecherischer Absicht hier festgehalten wurde, dann hieß es besonders aufmerksam und vorsichtig sein. Man hatte sie offenbar aus dem Verkehr gezogen, aber nicht beseitigt. Die Gefahr war noch nicht vorbei. Man hatte mit ihr also noch etwas vor. Sie lebte noch und sie begann zu denken, strategisch zu denken.

    Der stechende Schmerz in ihrem Kopf schien sich ein wenig zu mildern. Die Feststellung zu leben, die Erkenntnis, nicht irgendwelchen Räubern in die Hände gefallen zu sein, welchen ihr Leben egal war, gaben ihr das Gefühl, wichtig zu sein, eine bestimmte Rolle in dem, was vorging, zu spielen. Als Nächstes dachte sie an Herbert. Sie war seit einigen Monaten mit Herbert liiert. Da sie aber nach wie vor in ihrer Wohnung allein lebte, konnte es leicht sein, dass Herbert ihr Verschwinden noch nicht aufgefallen war. Weder traf sie Herbert täglich noch telefonierte sie wegen jeder Kleinigkeit mit ihm. Sie war kein Teenager mehr, der ständig jemandem seine Erlebnisse mitteilen musste. Das Telefon war ihr nicht Ersatz für persönliche Begegnungen, sondern ein professionelles Instru­ment. Wo war ihr Handy wohl, wo waren überhaupt ihre Sachen? Ihre Hand­tasche mit ihrem Terminkalender und sonstigen Aufzeichnungen?

    Der Gedanke an das Telefon brachte ihr die Erinnerung an die Situation zurück, als sie ihr Handy in der Handtasche zuletzt läuten gehört hatte. Das war in der Ankunftshalle des Flughafens. An dieses Ereignis konnte sie sich plötzlich gut erinnern. Da war doch der Anruf aus ihrer Firma, aus der Telefonzentrale, von irgendeinem der Studenten, die dort nach Dienstschluss die Stellung hielten, dass Herr Sturiak sich gemeldet hätte, dass er wegen verspäteter Ankunft in Zürich den Anschlussflug nach Wien versäumt habe und erst mit der nächsten Maschine kommen würde. Und sie hatte sich so beeilt, wegen der verfrühten Ankunft noch rechtzeitig am Flughafen zu sein! Das war umsonst, wie es eben manchmal vorkommt. Anke hatte schon einige Erfahrungen mit Handlungen, die sich nachträglich als vergeblich herausgestellt hatten, sowohl in der Firma als auch privat. Damit musste man immer rechnen.

    Nachdem sie dieses Telefonat entgegengenommen und eben schon überlegt hatte, ob es Sinn machen würde, nochmals in die Stadt zurückzufahren, war sie von einer ihr bekannten Stimme angesprochen worden. Es war Fred. Und Stoffel war auch da. So ein Zufall! Die zwei Männer kannte sie seit einer Tour durch das Bermudadreieck, jenem Vergnügungsviertel in der Wiener Innenstadt nahe dem Donaukanal, wo man die ganze Nacht verbringen und für seine Angehö­rigen verschwinden konnte, allerdings um am nächsten Morgen doch wieder in der realen Welt aufzutauchen. Man war in diesem Wiener Bermudadreieck nicht für immer verschwunden. Sie war mit einer lustigen Runde unterwegs gewesen, um Annies dreißigsten Geburtstag zu feiern. Annie war seit der Schul­zeit Ankes Freundin. Auch Annie war nicht verheiratet, aber sie schaffte es, alle ihre bisherigen Freunde (oder sollte man besser sagen: Liebhaber? – Anke hätte es gerne genauer gewusst, aber Annie erzählte ihr nicht alles) zu ihrem Geburts­tagsfest zu versammeln. Anke hatte befürchtet, dass das eine ver­krampfte Sache werden würde, aber sie hatte sich geirrt. Alle waren guter Laune und die Freunde oder Liebhaber Annies schienen geradezu das Ereignis gesucht zu haben, um miteinander Freundschaft zu schließen.

    Die Stimmung hatte weit nach Mitternacht einen Höhepunkt erreicht, als Fred und Stoffel dazustießen. Anke kannte die beiden überhaupt nicht, hatte sie im Freundeskreis von Annie bisher nie wahrgenommen. Aber alle hatten damals – in nicht mehr ganz nüchternem Zustand freilich – behauptet, die beiden schon lange zu kennen. Schließlich hatte Anke sie besonders lustig und charmant gefunden. Herbert war schon nervös geworden, weil sie ihn gegenüber den beiden vernachlässigt hatte. Als die Partie schließlich gegen früh auseinan­der­ging, jeder seinem Domizil zuströmte oder vielleicht sogar direkt ins Büro, waren die beiden verschwunden, worüber Anke fast ein wenig traurig gewesen war. Gern hätte sie die beiden wieder getroffen.

    Umso mehr war sie erstaunt und erfreut zugleich, Fred und Stoffel zufällig am Flughafen zu begegnen. Sie hatten ihr erklärt, dass jemand, den sie abholen sollten, erst mit der nächsten Maschine aus Zürich kommen würde. War das naiv von ihr gewesen, fragte sie sich jetzt, das so einfach zu glauben und ihrer Ein­ladung zu einem Drink ins nahe Flughafenhotel zu folgen. Hätte sie die Parallele zu ihrem Fall, dem verspäteten Eintreffen Sturiaks, stutzig machen sollen? Hätte sie überhaupt der Zufall, die beiden hier wieder zu treffen, stutzig machen sollen? Nein, das konnte man ihr nicht als Fehler anrechnen! Schließlich hatte sie die beiden auf der nächtlichen Spritztour im Bermudadreieck als äußerst freundliche und seriöse Junggesellen kennengelernt – mit ähnlichen Interessen wie die ihren, was Musik und Theater betraf. Sie hatte sich doch gleich mit ihnen verstanden. Und jetzt sollten sie der Anlass für ihre missliche Lage sein? Sie konnte, sie wollte es nicht glauben. Sie versuchte sich verzweifelt an andere Personen zu erinnern, die sie am Flughafen getroffen haben könnte. Zu ihrer Enttäuschung kam ihr keine Alternative zu Fred und Stoffel ins Gedächtnis.

    Da es regnete, hatten die beiden sie überredet, die paar Meter zum Hotel mit dem Auto zurückzulegen, und sie war ihnen in das Parkhaus gefolgt. Dann aber verlor sich jede Spur in ihrem gestörten Erinnerungsvermögen. Sie konnte sich nicht an ein Auto erinnern und schon gar nicht an die Fahrt zum Hotel. Ob sie jetzt in einem Hotelzimmer festgehalten wurde? Doch sogleich wurde ihr bewusst, dass sie sich wahrscheinlich irgendwo anders befand. Das Hotel war sicher nicht der wirklich angepeilte Aufenthaltsort gewesen, sondern nur eine Finte, um sie aus der Halle zu locken. Diese Schurken! Die ganze Sympathie, die sie vorher für Fred und Stoffel empfunden hatte, schlug nun in Hass um. Das waren nicht ihre Freunde, sondern ihre Feinde, und zwar Feinde einer beson­deren Art, nicht Feinde, die ihr im Alltag einen Genuss verdorben hatten, sondern der schlimmsten Art, die sie missbrauchten, die sie erniedrigten, für die sie nichts anderes war als eine Figur in einem Spiel, von dem sie vor­läufig weder das Ziel noch die Regeln kannte.

    Aber sie lebte. Und sie konnte denken. Das war viel und wenig zugleich, wenn sie bedachte, dass sie in einem ihr unbekannten Raum im Finstern zurück­gelas­sen, an Händen und Füßen gefesselt war und sich auch durch Schreien nicht bemerkbar machen konnte. Aber vielleicht war es gut so, dass sie nicht schreien konnte, denn sie hätte sich dadurch womöglich verraten. Man wäre auf ihr wiedererlangtes Bewusstsein aufmerksam geworden und hätte sie vielleicht neuerlich ins Land der Träume versetzt. So konnte sie wenigstens den kleinen Vorteil für sich buchen, dass die anderen meinten, sie wäre nach wie vor außer Gefecht, während sie immerhin ihre Lage vernünftig bedenken und sich auf den Fortgang des Geschehens vorbereiten konnte. Allerdings änderte sich geraume Zeit in ihrer Umgebung nicht das Geringste. Anke begann, ungeduldig zu werden.

    *

    Karl Weissacher blickte von seinem Schreibtisch aus durch ein großes Fenster eines Gebäudes aus der Gründerzeit in einen Hinterhof. Das Büro war in einem der typischen alten Mietshäuser in Unter Sankt Veit, einem der äußeren Stadt­teile im Westen Wiens, untergebracht. Weissacher hatte sich für diese Räume entschieden, die ihre Fenster in den Innenhof des Gebäudes gerichtet hatten. Sie waren billiger als straßenseitig gelegene, weil weniger repräsentativ. Wahr­scheinlich hatte hier in früheren Zeiten eine Großfamilie gewohnt. Erst vor einigen Jahren hatte der Eigentümer einige Wohnungen saniert und einige in Büros umbauen lassen. Viele Hauseigentümer in Wien erwarteten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einen Nachfrageschub für Büroräume, weil man an­nahm, dass Unternehmen aus der Europäischen Union, der Österreich im Jahr 1995 beigetreten war, von Wien aus die neuen Märkte im Osten bearbeiten würden. Aber der Boom bei Bürovermietungen blieb in den neunziger Jahren aus oder war jedenfalls nicht so dramatisch, wie man sich erhofft hatte. Die neuen Metropolen in Ostmitteleuropa erhöhten selbst in kurzer Zeit ihre Attrak­ti­vität für Investoren aus dem Westen.

    Die Büroräume waren jedenfalls für Weis­sacher günstig. Er hatte seine Agentur erst vor zwei Jahren gegründet. Er war hoch in den Vierzigern. Vor drei Jahren war er von seiner Firma gekündigt worden. Er war ein Opfer der Schließung eines ganzen Geschäftsbereichs geworden, der nicht mehr ausreichend Gewinn abgeworfen hatte. Weissacher hatte bis zuletzt geglaubt, seine Abteilung da­durch retten zu können, dass er deren Komple­mentärwirkung auf andere Geschäfts­bereiche nachwies: Ohne ihn wür­den auch die anderen weniger Gewinn machen, weil die lukrativen Kunden dann fehlten, die er ihnen immer wieder zuführte. Aber letztlich ließ ihn die Firmenleitung fallen. Die Kollegen sahen seine Zubringerfunktion nicht so wie er oder sie wollten es nicht zugeben, weil sie in der Geschäftsführung sonst selbst in ein schlechtes Licht geraten wären. Es half nichts. Weissacher musste gehen, wenn­gleich mit dem Vorteil einer großzügigen Abfindung, und mit ihm eine Schar von rund zwanzig Mitarbeitern.

    Nach einer Erholungs- und Nachdenkpause von zehn Monaten startete Weis­sacher neu durch. Er gründete eine Agentur für Personalberatung. Eigentlich war das nur der Aufhänger für seine Dienstepalette: Problemlösungen in allen perso­nellen Angelegen­heiten und darüber hinaus. Schließlich hatte er in seinem frü­heren Job – so nannte er jetzt seine damalige Tätigkeit selbst, nach­dem ihm bewusst geworden war, dass es keine Berufung auf Lebenszeit, sondern ein leicht zu beseitigender Posten gewesen war – viele Menschen kennengelernt. Das ist immerhin ein Vorteil, vor allem wenn man im Vertrieb zu tun hat. Da entwickelt man mehr Gespür für die Menschen, als wenn man in der Produktion oder in der Admi­nistration ständig nur vor einem Bildschirm sitzt und seinem Computer Frech­heiten ohne Rücksicht auf persönliche Folgen sagen kann. Man verliert all­mählich das Gefühl dafür, wie man bei sensiblen Lebewesen an­kommt.

    Weissachers neues Betätigungsfeld war also die Behandlung jener Probleme, die im Berufsleben vorkommen: von der Personalsuche über die Vermittlung von geeigneten Schulungsprogrammen bis hin zur Betreuung von Mitarbei­terfrei­setzungen. Letzteres bedeutete, dass sich Weissacher im Auftrag von Firmen­leitungen darum zu kümmern hatte, dass Kündigungen sang- und klang­los über die Bühne gehen konnten. Er hatte herauszufinden, welche Mitarbeiter Schwie­rigkeiten machen würden und wie man diesen begegnen könnte. Kein schönes, aber angesichts der Flaute in der europäischen Wirtschaft ein durchaus einträg­liches Geschäft. Kurz und gut: Weissacher bot maßgeschneiderten „Ser­vice" in Personalangelegenheiten, die für die Geschäftsleitungen unbequem waren.

    Weissacher war eben erst in sein Büro gekommen, als Ilona ein Gespräch zu ihm durchstellte. Ilona war Weissachers Sekretärin. Sie war es schon in seiner früheren Firma gewesen. Er hatte sie, obwohl sie nach seinem Abgang schon in einer anderen Ab­teilung Fuß gefasst hatte, wieder für sich und seine neue Agentur gewinnen können. Sie waren ein gut eingespieltes Team. Sie freuten sich beide, wieder zusammenarbeiten zu können. Ilona war bereit, das Risiko eines Jobs in einer neu gegründeten Firma auf sich zu nehmen. Sie hatte Ver­trauen in Weissacher.

    Am Telefon war Gerhard Priem, der Assistent der Geschäftsleitung von Consulting Support Vienna. Weissacher kannte Gerhard ebenfalls aus früheren Tagen, als sie beide noch gut im Markt liegende Produkte verkauften und sich gegenseitig so manchen attraktiven Kunden zuspielten. Gerhard Priem war auf­ge­regt und hatte es offenbar eilig, da er gleich zur Sache kam.

    „Karl, wir haben da ein Problem, zu dem ich deinen Rat brauche!"

    „Schon wieder!", dachte Weissacher, nachdem er von Priem erst vor wenigen Tagen über zunehmende Schwierigkeiten mit unzureichend qualifi­zierten Mitar­bei­tern erfahren hatte.

    „Wo brennt es denn?, versuchte Weissacher die Sache erst einmal tröstend herun­terzuspielen. „Braucht ihr wieder eine Nachhilfe für einen eurer Ama­teure?

    „Nein, Karl, es ist etwas Rätselhaftes passiert! Anke ist verschwunden und mit ihr ein Softwareexperte, den sie gestern Abend am Flughafen hätte abholen sollen."

    „Na, die werden verschlafen haben. Weissacher stellte sich vor, dass Priem ob dieser frivolen Mutmaßung ein wenig entspannter sein würde. Er kannte Anke flüchtig. Sie war einmal bei einem Sommerfest, das Priem veranstaltet hatte, zu Gast gewesen. Sie war zweifellos eine attraktive Frau, nicht naiv, aber lebens­lustig, vielleicht sogar gelegentlichen Abenteuern nicht abgeneigt. „Wartet noch eine Stunde, dann hört ihr eine lustige Ausrede für die Verspätung und alles ist wieder in Ordnung.

    Gerhard Priem schien gar nicht erleichtert. „Karl, mach keine Witze! Es handelt sich um Sturiak! Sturiak ist einer der teuersten Support Agents des Konzerns. Jede Stunde, die wir ihn brauchen, kostet uns ein Vermögen. Er ist extra hierher eingeflogen worden, von was weiß ich wo auf der Welt."

    „Auch der teuerste Experte kann ein ganzer Kerl sein und bei Anke schwach werden!"

    „Nein, Karl! Sturiak weiß, was er der Firma kostet. Der macht das nicht. Wir haben bei Anke angerufen. Niemand meldet sich da. Wir haben im Hotel ange­rufen. Sturiak ist dort nicht angekommen. Er war aber an Bord der Maschine, mit der er aus Zürich nach Wien kommen sollte. Anke haben wir zuletzt gese­hen, als sie in aller Eile zum Flughafen aufbrach. Der Flug war früh dran. Sie wollte rechtzeitig in Wien-Schwechat sein. Sie war mit einem Taxi unterwegs. Der Taxifahrer konnte sich erinnern, sie am Flughafen bei der An­kunftshalle abgesetzt zu haben. Dann fehlt jede Spur von ihr. Und ebenso von Sturiak, der in der Maschine aus Zürich war."

    Klingt allerdings merkwürdig, auch wenn ich Anke ein Abenteuer zutraue. Weissacher begann ernsthaft über die Sache nachzudenken.

    „Wisst ihr sonst noch etwas? – Was ist das für ein Auftrag, den euer Sturiak erle­digen sollte? Wozu braucht ihr einen so teuren Experten?"

    „Das kann ich nicht so ohne Weiteres sagen. Unser Kunde war mir gegenüber sehr zugeknöpft. Ich bin persönlich in diesen Geschäftsbereich nicht involviert." Priem klang etwas unsicher und verschämt: Er, der Assistent der Geschäfts­leitung, war in eine Sache von Wichtigkeit für seine Firma nicht voll eingeweiht, nicht einmal jetzt, wo es eine Komplikation gab!

    „Dann lass dich erst einmal informieren, Gerhard. Wenn wir wissen, was Sturiak tun sollte, können wir vielleicht erraten, was dazwischengekommen ist oder wer ein Interesse haben könnte, dass etwas dazwischenkommt."

    „Ich werde es versuchen. Wie immer hast du recht und einen klaren Kopf, wäh­rend ich gleich in Panik gerate. – Bitte halte dich aber bereit! Wir dürfen keine Zeit verlieren."

    Weissacher legte auf. Ilona brachte die Karaffe Wasser, die Weissacher jeden Tag auf seinen Tisch gestellt bekam, damit er in der trockenen Büroluft genug Flüssigkeit zu sich nahm.

    „Ilona, stell dir vor, da holt eine Sekretärin einen wichtigen Mann vom Flug­hafen ab und seither sind beide verschwunden. Was hältst du davon?"

    „Kommt darauf an, wer es ist!", bemerkte Ilona kurz.

    „Wie gesagt, ein Riesenkaliber von einem Experten, kostet der Firma ein Ver­mögen. Und die Sekretärin ist eine attraktive Blondine, aber höchst zuverlässig in ihrem Job."

    „Ist ein bisschen wenig an Information! – Unglücksfälle und Irrtümer sind doch wohl schon ausgeschlossen – oder?"

    „Sind ausgeschlossen!"

    „Die Sache schmeckt mir nicht! Man sollte wissen, welchen Auftrag der Verschwundene in Wien erledigen sollte und was er sonst noch treibt. Vielleicht hat das Ganze gar nichts mit Wien zu tun. Vielleicht hängt irgendein anderes Übel an ihm, das gerade in Wien schlagend wird!"

    „Gut spekuliert, Ilona! Aber eben nur spekuliert. Übrigens: Kennst du vielleicht die Anke von Consulting Support?"

    „Nicht persönlich, aber ich habe von ihr gehört. Die dürfte in Ordnung sein. Die macht angeblich keine unüberlegten Sachen! – Ich würde mich mal darauf ein­stellen, dass da etwas nicht stimmt."

    Das Telefon rührte sich wieder. Wieder Gerhard Priem.

    „Karl, du sollst sofort hierher in unser Büro kommen. Die Alarmstufen steigen bei uns alle paar Minuten weiter an, solange die beiden verschollen sind."

    „Gut, bin schon unterwegs. Ilona, stell die übliche Message in unser Such­netz­werk! Vielleicht erinnert sich jemand, die beiden wo gesehen zu haben."

    „Aber ich habe doch gar keine Details zu den Personen!"

    „Da ist der Hörer, Herr Priem wird dir alles sagen, was notwendig und bekannt ist."

    Damit eilte Weissacher aus seinem Büro

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