Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Heil Kadlatz
Heil Kadlatz
Heil Kadlatz
eBook289 Seiten4 Stunden

Heil Kadlatz

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Kadlatz hätte nicht Berliner Portier sein müssen, wenn es ihn schließlich nicht doch herausgetrieben hätte aus seiner Loge, um zu sehen, was los war. Es gehörte ja sozusagen zu seinen beruflichen Obliegenheiten zu wissen, was im Haus, vor dem Haus und um das Hausherum vor sich ging."
Paul Westheims satirischer Klassiker "Heil Kadlatz", 1936 als Fortsetzungsroman im "Pariser Tageblatt" erschienen, erzählt in rasantem Tempo den aufhaltsamen Aufstieg des Nationalsozialismus am Beispiel des ehrgeizigen Hausmeisters Kadlatz, der buchstäblich über Leichen geht, um am Ende selbst unter die Räder zu geraten: Westheim zeichnet in spannungsreichen, von ironischen Spitzen sprühenden Szenen ein von Großmannssucht, Spießbürgerlichkeit und Selbstgerechtigkeit grundiertes Berliner Sittenbild um 1933, das ein pointiertes Erklärungsmuster für das "neue" Deutschland bot - und Hoffnung auf das baldige Ende des Nationalsozialismus weckte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum23. Apr. 2015
ISBN9783957571335
Heil Kadlatz

Ähnlich wie Heil Kadlatz

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Heil Kadlatz

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Heil Kadlatz - Paul Westheim

    Paul Westheim
    Heil Kadlatz!

    Paul Westheim

    HEIL KADLATZ!

    Der Lebensweg
    eines alten Kämpfers
    Herausgegeben
    und mit einem Nachwort
    von Christian Welzbacher

    Inhalt

    Heil Kadlatz!
    Christian Welzbacher Nachwort
    Anmerkungen
    Weiterführende Literatur in Auswahl
    Editorische Notiz

    »Een Spion! Vater, een englischer Spion in unsere Straße«, aufgeregt stürzte Gustav in die Portierloge.

    Herr Kadlatz, Portier eines hochherrschaftlichen Hauses am Hohenzollerndamm in Wilmersdorf, war gerade vertieft in eine der Broschüren, die jetzt in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch massenweise verbreitet wurden. Es war darin das Ende des englischen Weltreichs prophezeit, das man von der Flankenseite aus nur aufzurollen brauchte. Die Flanke sei Indien. Mit Hilfe der Türken werde man sich des Suezkanals bemächtigen, der Schlüsselstellung nach Indien. Wenn man nach Niederwerfung der Russen dann auf dem Landwege nach Indien marschiere … Und so. Unwillig über die Störung herrschte Kadlatz den Jungen an: »Doofkopp. Von wejen Spion. Jroßer Bengel, der uf Ostern injesejnet werden soll, un lässt dir von alle Welt verkohlen.«

    »Jar nich verkohlen. Hast doch selber in de Loge ein Plakat zu hängen: Achtung Spione!«

    In der Tat verzierten die Loge des Herrn Kadlatz ein paar jener Plakate, die in patriotischem Eifer von amtlichen und nichtamtlichen Komitees gedruckt und in allen öffentlichen Lokalen zum Aushang gebracht worden waren. »Pflanzt Sonnenblumen. Ölgewinnung aus Sonnenblumen!« »Werft keine Obstkerne fort. Deutsches Fett aus Obstkernen.« »Achtung Spione! Mund zu, Augen auf. Bürger seid vorsichtig im Gespräch. Deutschland wimmelt von Spionen, die Euch aushorchen wollen. Jede Nachricht kann dem Feind dienen.«

    Dass Deutschland von Spionen wimmelte, war selbstverständlich auch die Ansicht von Herrn Kadlatz. Alle Zeitungen waren voll davon und alle Welt war bemüht, durch immer neue Geschichten die Spionagepsychose zu nähren. Man hörte von geheimnisvollen Goldautos, die durch Deutschland rasten, um Gold aus Frankreich nach Russland zu bringen … Von der Wasserleitung in Nürnberg, die die Franzosen mit Cholerabazillen verseucht hätten. Das war sogar amtlich geschwindelt. W. T. B. oder so. Von Sprengkörpern, die man unter Eisenbahnbrücken gefunden habe usw. So war er selbst ja auch Mitglied eines freiwilligen Bahnschutzes geworden, der seine Aufgabe darin sah, Bahnübergänge, Brücken usw. gegen heimtückische Anschläge zu sichern. Was umso erfolgreicher gelang, da von niemandem auch nur der Versuch gemacht wurde, dem Bahnübergang von Wilmersdorf oder Schmargendorf ein Leid anzutun. Da Kadlatz gedienter Mann war, hatte man ihm sogar eines der wenigen Gewehre anvertraut, über die man verfügte. Modell 98, mit dem die Truppen ins Feld zogen, war es freilich nicht, sondern ein ganz veraltetes Ding, mit dem man wohl überhaupt nicht mehr schießen konnte. Immerhin, wie es so in der Ecke der Loge stand, machte es doch einen Ehrfurcht gebietenden Eindruck. Kadlatz konnte sich damit als wehrhafter Mann vorkommen, und wenn er gar, das Gewehr geschultert und die schwarz-weißrote Armbinde des freiwilligen Bahnschutzes umgebunden, durch die Straßen marschierte, imponierte er sich selbst.

    Wenn er den Jungen ob seiner Spionenmeldung anschnauzte, so eben weil ihm als Vater und Portier Anschnauzen zur zweiten Natur geworden war. Vor allem aber, weil ihn die Bierbankphantasie jenes politisierenden Broschürenschreibers im Augenblick weit mehr interessierte. Der Spion hätte sich zu einer passenderen Zeit entdecken lassen sollen. Gerade hatte er mal einen Moment Ruhe, das heißt: es hatte sich niemand in der Loge eingefunden, mit dem er die Tagesereignisse zu bequatschen gehabt hätte, und da kam der Junge mit seinem Spion angelaufen. »Am Hohenzollerndamm een Spion —?!«, brummelte er. »Jeh man lieber runter nach die Heizung und schlack den Ofen aus.«

    »Wahrhaftig wahr«, beteuerte der Junge. »Die Schmidten von Nr. 201 hat ihn entdeckt. Aus dem Eckhaus am Emser Platz hat er jeden Abend Pinkelzeichen jejeben!«

    »Pinkelzeichen! Hahaha!«, lachte Herr Kadlatz. »Pinkelzeichen. Du bist mir ein Held. Weest nich ma, wat Blinkzeichen is. Ick möcht bloß wissen, wat ihr den janzen Tag in der Schule treibt.«

    Kadlatz hätte nicht Berliner Portier sein müssen, wenn es ihn schließlich nicht doch herausgetrieben hätte aus seiner Loge, um zu sehen, was los war. Es gehörte ja sozusagen zu seinen beruflichen Obliegenheiten, zu wissen, was im Haus, vor dem Haus und um das Haus herum vor sich ging. Vielleicht war das sogar der Teil seiner Obliegenheiten, dem er am gewissenhaftesten nachging. So schlappte er denn, wie er war, in Pantoffeln und Hemdsärmeln auf die Straße, wo vor dem Eingang zur Post – im Erdgeschoss war ein Postamt – ein aufgeregtes Menschenknäuel sich angesammelt hatte und heftig diskutierte. Mittelpunkt war Frau Schmidt, die jedem, der hinzukam, aufgeregt aufs Neue den Fall in aller Umständlichkeit zu schildern versuchte. »Wat soll ick ihn sahrn, Herr Kadlatz! Heutzutage die Menschen, man sollte’t nich für möglich halten. Sie kennen ihm doch, den Denzer, bei uns an die Ecke. Ingenieur bei Siemens, hat’s immer jeheißen. Soll aber einer sin aus’n Jeneralstab von London, habense jetzt rausgekriegt. Haben ihm ooch schon injesperrt, in’t Konzertionslager oder so. Ick wees nich, mir kam er immer schon verdächtig vor. Hat so’n stechenden Blick in’t Ooge, wissense. Na un neulich uf’n Abend, et war so jejen Uhre neune, Aujuste war noch nich zu Hause, ick liege janz jemietlich in’t Fenster, ick hatt’ jrad een Paar Fersen anjestrickt, wat soll ick ihn sahrn, wie ick so een bisschen übern Platz kieke, wat seh ick? Oben bei Denzern aus’t Fenster wat aufleuchten. Een Oogenblick bloß, un wieder weg, un wieder da. Ick denke, nanu, det hat doch wat zu bedeuten, denk ick. Un jrade kommt ooch Aujuste zu Hause. Ick sahre zu Aujusten: Du Aujuste, sahre ick, kiek ma, ob du nischt siehst. Un richtig. Wieder janz deutlich. Ih, du meine Jiete, sahr ick, wat det woll zu bedeuten hat. Det kommt mir verdächtig vor. Un Abend für Abend. Un Willem, wat Aujusten ihr Freund is, der sagt, det is doch klar wie Hiob: Leuchtsignale. Die Sorte is feindlicher Ausländer. Un is vielleicht bestimmt vor een Flieger un vielleicht schmeißense noch ’ne Bombe bei uns uf’n Hohenzollerndamm. – Ick krieje denn ooch een barbarischen Schreck un sahre zu Aujusten, injerickt in de Zeitung müsste so ’ne Sache werden. So ’ne Engländersche, so ’ne mickrige Schrippe, machen sich mausig hier un spionieren —«

    »Aasbande, rausholen un uf die Wache is det eenzig Richtige«, brüllte einer aus der Menge.

    »Sahr ick ja ooch. So ’ne Brieders. Ooch noch Engländer«, pflichtete ein anderer bei, »Jott strafe England!«

    Kadlatz war sich klar, dass da was geschehen müsse. Das Vaterland in Gefahr. Energisch musste da durchgegriffen werden. Überhaupt eine fabelhafte Gelegenheit, dem ganzen Hohenzollerndamm zu zeigen, wie er, Kadlatz, mit feindlichem Spionengesindel umzugehen verstand. »Een Momeng mal«, sagte er, »die Sache wer ick schon infädeln.« Eiligst rannte er in die Loge zurück, zog Stiefel, Rock und Bahnschutzarmbinde an, nahm das Gewehr und stellte sich an die Spitze des Zuges, der in der Hauptsache aus aufgeregt schreienden und spektakelnden Weibern bestand.

    In der Wohnung der Frau Denzer, die vergeblich versicherte, dass sie gar nicht verstehe, was man von ihr wolle, in Tränen ausbrach und die Polizei anrufen wollte, was Kadlatz aber nicht zuließ, wurde das Eckzimmer gestürmt.

    Es war das Schlafzimmer der Frau Denzer, das durchwühlt wurde. Vergebens suchte sie den Leuten klar zu machen, dass sie geborene Deutsche wäre, Berlinerin, aus der ihnen allen bekannten Familie der Bolle, die allmorgendlich ganz Berlin mit Milch versorge. Auch der Mann sei geborener Deutscher, er habe nur jahrelang in den englischen Kolonien zugebracht und sich da naturalisieren lassen. Doch von alldem wollte man nichts wissen. Schränke und Schubladen riss man auf, in der Hoffnung, irgendeinen mysteriösen Apparat zu finden, der zu Spionagezwecken bestimmt war. Kadlatz, der Führer, der die strategische Leitung hatte, benutzte die Gelegenheit, einen Ring, der in dem Toilettentisch lag, mitgehen zu lassen. Was war schon dabei. War doch »feindliches Eigentum«. Krieg ist Krieg. Auch eine Flasche Weinbrand, die sich im Esszimmer vorfand, wusste er unbemerkt in die hintere Hosentasche zu bugsieren. Dann nahm man »die Engländerin« mit zur Polizeiwache, wo Kadlatz Bericht erstattete und Frau Schmidt erneut Gelegenheit fand, ihre Erzählung über die allabendlich beobachteten Lichtsignale vorzubringen.

    Die mit peinlicher Gewissenhaftigkeit durchgeführte polizeiliche Untersuchung ergab, dass die »Blinksignale« offenbar der Widerschein einer Lampe waren in dem großen Toilettenspiegel, der in der Mitteltüre des Kleiderschranks eingelassen war. Vermutlich war beim Öffnen und Schließen der Türe jener Widerschein entstanden, den das durch Spionagegeschichten erregte Gemüt von Augustens Freund für Geheimsignale gehalten hatte.

    Was Kadlatz nicht hinderte, sich als Held des Tages zu fühlen, der in seiner Loge einem bewundernd lauschenden Publikum erzählte, wie es dank seines Scharfsinns und seines energischen Durchgreifens gelungen war, ein feindliches Spionagenest auszuheben … Auch die andere Seite des Heldentums, die Bescheidenheit, erwies er, indem er kein Wort verlauten ließ über die bei dieser Gelegenheit gemachte Beute.

    In der Loge von Kadlatz war in diesen ersten Kriegswochen ein ständiges Kommen und Gehen. Die Türe, ausstaffiert mit einem Schild: »Hauswart. Eintritt für Unbefugte verboten« – und wehe dem »Unbefugten«, der es sonst gewagt hätte, das Schild zu übersehen und den Herrn Portier in seiner Ruhe zu stören! –, stand fast immer sperrangelweit offen. Jeder, der an der Loge vorbeimusste, die Mieter des Hinterhauses, die Dienstboten, die Telegrafenboten des Postamts, sogar alle möglichen Leute aus der Nachbarschaft, kamen auf einen Sprung herein, um neue und neueste Kriegsneuigkeiten zu hören oder aber mitzuteilen, was man »aus bester Quelle« von einem Geheimrat im Ministerium, einem Offizier im Generalstab oder sonst einer bestunterrichteten Seite erfahren hatte. Die Portierloge von Kadlatz, unerschöpflicher Born von Kriegsinformationen, die in keiner Zeitung und keinem Extrablatt zu finden waren, schon deshalb nicht, weil neun Zehntel ebenso phantastische wie sinnlose Erfindung war, war für den halben Hohenzollerndamm die Nachrichtenzentrale, sozusagen ein privater Generalstab, in dem mit großartigeren und kühneren Schlachtplänen aufgewartet wurde, als sie sämtliche Generalstäbe der Welt zu ersinnen vermocht hätten. Unnötig zu sagen, dass Kadlatz sich von Tag zu Tag mehr als höchst gewichtige Persönlichkeit vorkam.

    Die Besorgung des Hauses hatten stillschweigend die Frau und die beiden Kinder, die 14-jährige Olga und der 13-jährige Gustav, übernommen. Vater befand sich sozusagen im Kriegszustand. Das heißt, er gehörte keiner Truppe an, trug auch keine Uniform, war aber so beschäftigt mit allem, was er täglich und stündlich über Kriegsoperationen, Kriegspläne, Kriegsaussichten, Kriegsziele, Weltlage usw. zu hören bekam, dass jede Ablenkung durch eine zivile Portierbetätigung sich von selbst verbot. Im Ernst, was hätte aus der ganzen Weltlage werden können, wenn er, Kadlatz, sich nicht mit allen Kräften darum gekümmert und gesorgt hätte. Das Einzige, was er wohl oder übel hatte konzedieren müssen, war das Aufschütten der Kohlen für die Warmwasserversorgung. Und auch das geschah nie ohne Fluchen und ohne das Bewusstsein, damit einen, wenn auch nur bescheidenen Teil seiner Kraft und seiner Zeit dem höheren vaterländischen Ziel des Kriegsgerüchtehörens und Kriegsgerüchteverbreitens zu entziehen.

    Unnötig zu sagen, dass er sich die erdenklichste Mühe gegeben hatte, die Loge den neuen Zeitverhältnissen entsprechend auszustatten. Sämtliche Wände waren auf Krieg umgestellt, richtiger: auf Krieg umgehängt. Abgesehen von jenen Plakaten, die wohl dem Überfluss an gedruckten Ermahnungen entstammten, die tagtäglich auf das Postamt herniederprasselten, sah man an der Stelle, wo vordem ein Haussegen mit Bibelspruch gehangen hatte, jetzt ein Bild des Kaisers mit der Unterschrift: »Ich kenne keine Parteien mehr.« Auch Kadlatz kannte keine Parteien mehr. Kaum noch seine eigene. Als klassenbewusster Proletarier war er, wie sich von selbst versteht, Sozialdemokrat gewesen. Und zwar einer der rabiatesten. Hatte sich auch nie eine Gelegenheit entgehen lassen, auf die verfl… kapitalistische Ausbeuterbande zu schimpfen. In jedem Schutzmann sah er einen Schergen des kapitalistischen Systems, in jedem Beamten einen feilen Fürstenknecht. Wenn der Reichstag eine Militärvorlage bewilligte oder einen Panzerkreuzer, so kochte er vor Entrüstung, die er in Ermangelung von anderem an den Dienstboten des Hauses auszulassen pflegte, mit denen er irgendwelchen Krach anfing. Und gegen Wilhelm sich in Ausdrücken zu ergehen, für die das Wort »Majestätsbeleidigung« noch gelinde Umschreibung ist, war sein täglicher Sport. So rabiater Internationalist er vordem gewesen war, so strammer Nationalist war er jetzt, hohenzollern-, kriegs- und siegbegeistert. Er achtete streng darauf, dass alle Parteien im Haus die Fahnen heraushängten, wenn er das Flaggen für angemessen hielt. Und wer keine Fahne hatte, war für ihn einfach erledigt. Er hasste England wie einen Mieter, der es gewagt hätte, ihm zu Neujahr kein Trinkgeld zu geben. Das übrige »Pack«, Russen, Franzosen oder gar Serben, hätte er bei lebendigem Leibe schmoren können, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Neben dem Kaiserbild hing an der Wand einer jener Kriegsbilderbogen mit bunten Zeichnungen und Knüttelversen, wie eine findige Industrie sie sofort in Massen herausgebracht hatte. Gustav hatte ihn mit aus der Schule gebracht. Mit dem Kaiserwort »Jetzt wollen wir sie dreschen« als Überschrift versehen, las man da unter anderem:

    »Das ist der Ni-Ni-Nikolaus.

    Wie wird dir bei dem Kriegsgebraus?

    Einst strahltest du in Friedenspose,

    jetzt hast du zitternd voll die Hose.

    Das ist der Po-Po-Poincaré.

    Der große Held im Frack, oh weh!

    Als freches Lügenmaul er übt sich.

    Doch Keile gibt’s wie Anno 70.

    Der Feinde sieben, um uns rum!

    Wir schlagen alle lahm und krumm!

    Und meldet sich ein zwölfter,

    man los mit Gott! Dem Mutigen helft er!«

    Hauptstück aber war eine vom Lokal-Anzeiger herausgegebene Landkarte von Europa, auf der er morgens und abends, sowie die Zeitung oder ein Extrablatt herauskam, mit Fähnchen in den verschiedenen Landesfarben den jeweiligen Stand der Armeen absteckte. Was gar nicht so einfach war, gehörte es doch zu den unerklärlichen Launen des Kriegsgottes, allzu häufig nur entscheidende Aktionen an Orten stattfinden zu lassen, die überhaupt nicht auf der Karte verzeichnet waren. Die Folge waren weit auseinandergehende Diskussionen, an welcher Stelle nun wirklich die Fähnchen einzupicken waren.

    Die gewichtigste Informationsquelle für die Kadlatz’sche Loge war Friedrich, Friedrich Pehlke, Bursche des Majors Holsten, der Vorderhaus drei Treppen wohnte. Friedrich in seiner neuen feldgrauen Uniform war ja Angehöriger der Armee und als solcher eben Fachmann für Heeres- und Kriegswesen. Pulver hatte er allerdings noch keins gerochen. Und »militärisches Denken« beschränkte sich bei ihm darauf, vor jedem Vorgesetzten die Hacken zusammenzuklappen und nach Möglichkeit sich nicht erwischen zu lassen, wenn man was ausgefressen hatte.

    Immerhin, in der Loge von Kadlatz war er umstrahlt von dem Nimbus, zur Armee zu gehören. Was seinen Eindruck auch nicht verfehlte auf diejenigen unter den Dienstboten, die im Banne der großen Zeit mit hingebungsvollem Eifer bemüht waren, ihr Herz auf Feldgrau umzustellen. Doch davon abgesehen, für Kadlatz und die vielen Heimstrategen, die seine Loge frequentierten, war die Meinung, die ein Mann wie Friedrich äußerte, sozusagen die Meinung der Armee, wenigstens konnte man sie dafür halten, auf jeden Fall andern gegenüber als Auffassung der Armee ausgeben. Wenn, wie der Psalmist sagt, alles Menschenwissen Stückwerk nur ist, so blieb das, was Friedrich vom Kriegsgeschehen wusste, recht weit noch hinter dem als übliches Normalmaß zu bezeichnenden menschlichen Stückwerk zurück. Der Major war längst a. D. gewesen und hatte ein gemächliches Leben als Versicherungsagent geführt. Seine Kriegsbetätigung bestand darin, auf dem Tempelhofer Feld in einem der Bezirkskommandos irgendwelche Listen zu führen. Wobei ihm Friedrich als Bursche aufwartete, soweit seine wertvolle Kraft nicht von der Majorin für häusliche Verrichtungen mit Beschlag belegt wurde. Was er vom Krieg zu hören bekam über das hinaus, was in allen Zeitungen stand, war das, was militärisch mit dem Fachausdruck »Latrinengerüchte« bezeichnet wird. So war er in der Tat unschätzbar als Informationsquelle. Denn von allen den Nachrichten, die er verbreitete, wussten selbst die gewiegtesten Fachleute des Hohenzollerndamms nichts. Und wenn nachher alles doch ganz anders kam, so war der plausible Grund dafür die völlig veränderte Kriegslage. Kadlatz unterließ es denn auch nicht, seiner Schätzung des wertvollen Kriegsgerüchtelieferanten Ausdruck zu verleihen, indem er persönlich ihm einen Schlüssel zum Fahrstuhl aushändigte. Was fast wie Auszeichnung mit dem E. K. I angesehen werden kann, da Kadlatz sonst streng darauf hielt, dass keiner der Dienstboten den Fahrstuhl oder auch nur den Vorderaufgang benutzte. In dem Punkt war er ganz und gar Haustyrann und er wäre kein rechter Portier gewesen, wenn er sich irgendeine Gelegenheit, den Haustyrannen zu spielen, hätte entgehen lassen.

    »Kommst wie jerufen«, begrüßte er Friedrich, »kannst mir ma helfen, die Fähnchen wieder richtig zu stecken.« Durch einen unerklärlichen Zufall war nämlich die ganze auf der Karte so mühsam abgesteckte Front in Bewegung geraten. Die Engländer standen bei Amsterdam, die Franzosen diesseits des Rheins und den Österreichern war es gelungen, wer weiß wie weit, nach Russland vorzudringen. Der Zufall war ein Scheuerlappen, der den Händen von Frau Kadlatz so unglücklich entrutscht war, dass ein Teil der Fähnchen am Boden lag. Damit Vater nichts merke, hatte sie sie in aller Eile wieder eingesteckt, wobei die ganze Kriegslage in ein chaotisches Durcheinander geraten war. »War jewiss eins von die verfluchten Jören. Warst du woll, Olja?«, herrschte er die Tochter an, die die feldgraue Uniform Friedrichs in die Loge gelockt hatte.

    »War’s ja jar nich! Alliens soll ick jewesen sin.«

    »Lass dir jesagt sind, erwisch ick ma eenen bei die Karte, die Knochen schlag ick ihm zusamm.«

    Mit Friedrich, dessen geographische Kenntnisse kaum über die Vergnügungslokale an der Oberspree hinausreichten, konnte er sich nur unter den größten Schwierigkeiten über die richtige Platzierung der Fähnchen verständigen. Einzelne Orte in Belgien zum Beispiel meinte er partout ins Elsass verlegen zu müssen, wo wiederum Kadlatz sie trotz allen Fluchens nicht ausfindig zu machen vermochte. »Antwerpen«, sagte Kadlatz, »jetzt, wo wir Antwerpen haben, wird kurzer Prozess mit die Engländer jemacht. Pass uff, die sin schneller wieder über ’n Kanal drüben, wie sie riebergekommen sind. Dann jeht’s uf Paris. Der Franzose is so schon fertig, Poincaré ausjerückt. Ieberhaupt die Franzosen, die wer’n die Anjeschissenen sein. Die Engländer, die wer’n sich in Calais festsetzen. Jloobst du, det die da wieder rausjehn? Nie im Leben. Die haben bloß mitjemacht, um Calais zu schlucken …« Nur die Sache mit den Russen, die in Ostpreußen immer weiter vordrangen, gefiel ihm nicht. »Sin bloß die Österreicher dran schuld, die schlappen Kerle. Keen Murr in die Knochen. Ausjerechnet die müssen wir uns als Verbündete aussuchen. Wenn man sich det Theater mitansieht, dann möcht man als alter Kerl die Knarre über’n Buckel nehmen un dazwischenfegen.«

    Der Leser wird mit Recht fragen, wieso Kadlatz bei seiner Begeisterung für die gute Sache nicht schon längst wie so viele andere »die Knarre« über den Buckel genommen hatte. Selbstverständlich hatte auch er sich in den ersten Kriegstagen nach dem Tempelhofer Feld aufgemacht, um sich freiwillig zu melden. Im Begriff zu den Fahnen zu eilen, hatte er unterwegs allerdings Hemmungen bekommen. Nicht etwa, weil er zu der so wenig mannhaften Überzeugung gekommen wäre, besser ist besser und weit vom Schuss am allerbesten. So ein Schlappier war Kadlatz nicht. Den Schützengraben stellte er sich wie alle anderen auch als heroischromantisches Abenteuer vor: »Jeder Stoß ein Franzos’, jeder Schuß ein Russ’« und so. Im letzten Augenblick war ihm nur eingefallen, dass aus seiner Meldung als Kriegsfreiwilliger sich gewisse Peinlichkeiten ergeben könnten. Ihm waren nämlich für eine gewisse Zeit die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt worden, und diese Zeit war erst im nächsten Jahr um. Bei der Auffassung, dass der feldgraue Rock ein Ehrenkleid sei und dass es eine Ehre sei, fürs Vaterland zu sterben, hätte es sich begeben können, dass er zurückgewiesen worden wäre. Dass er bei aller Begeisterung sich dem nicht aussetzen wollte, wird man verstehen. Ohnehin war er der Überzeugung, dass ihm schweres Unrecht geschehen war. Im Grunde war die ganze Sache doch nur eine Lappalie. Auf seiner früheren Stelle, er war Vorarbeiter in einem Kabelwerk gewesen, war es eines Nachts zu einem Einbruch gekommen. Vielmehr zu einem Einbruchsversuch, da unversehens der Wächter auftauchte. Wobei der Zufall gewollt hatte, dass dieser zur Unzeit auftauchende Wächter eins über den Schädel bekommen hatte. Trotzdem war das Gericht zu der ihm, Kadlatz, unverständlichen Auffassung gekommen, die Sache, die beinahe ein Menschenleben gekostet hätte, könne so ganz leicht nicht angesehen werden. Kadlatz im Besonderen warf man vor, dass er sich nicht allein von einer Rotte Metalldiebe habe verleiten lassen, als Werksangehöriger habe er sich auch noch dazu hergegeben, den ortskundigen Führer zu machen. Nicht nur brummen hatte er dafür müssen; es waren ihm auch die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt worden.

    Dank den Bemühungen eines Fürsorgevereins für entlassene Sträflinge hatte er schließlich bei Herrn Rosenthal, in dem Hause am Hohenzollerndamm, die Portierstelle bekommen. Der »geborene Portier« führte in »seinem« Haus ein strenges Regiment. Übertretungen der Hausordnung, Eigenwilligkeiten der Mieter, ihrer Kinder oder gar der Dienstboten duldete er unter gar keinen Umständen. Die einzigen Eigenwilligkeiten, die er zuließ, waren die, die er sich selber erlaubte.

    Da aus »Knarre über den Buckel nehmen« unter diesen Umständen nichts wurde, meldete er sich bei jenem freiwilligen Bahnschutz, der ihm im Haus und vor der Nachbarschaft das Ansehen gab, in schwerer Zeit dem Vaterland als freiwilliger Helfer beigesprungen zu sein, im Übrigen aber eine vergnügliche Angelegenheit war. Ins Leben gerufen hatte ihn ein Wilmersdorfer Architekt, der weniger seiner Bauten als seiner lustigen Streiche und seiner Trinkfestigkeit wegen berühmt war. Da es ihn in so großer Zeit nicht an seinem Schreibtisch hielt, an dem es ohnehin nichts zu tun gab, hatte er aus dem Drang nach irgendwelcher gemeinnütziger Betätigung ein paar Mann zusammengetrommelt, in einer leerstehenden Parterrewohnung ein »Großes Hauptquartier« errichtet und, da die Wohnung zufällig am Bahngelände lag, einen Bahnschutz mobilisiert. Die Gefahren, die abzuwehren man entschlossen war, waren in der Hauptsache eingebildete Gefahren. So war der Dienst nicht schwer und wurde von den Beteiligten auch nicht so überaus ernst genommen. Wichtiger, und man könnte fast sagen auch anstrengender, war das Beisammensein in jenem Hauptquartier. Der Architekt verstand die Gebefreudigkeit der umwohnenden Bürgerschaft

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1