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Zerstörung, 1947: Adler, weibliche Kriminalpolizei, Berlin
Zerstörung, 1947: Adler, weibliche Kriminalpolizei, Berlin
Zerstörung, 1947: Adler, weibliche Kriminalpolizei, Berlin
eBook326 Seiten4 Stunden

Zerstörung, 1947: Adler, weibliche Kriminalpolizei, Berlin

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Über dieses E-Book

Berlin 1947 - Der Krieg ist ausgekämpft, die Männer sind gefallen oder kehren aus der Gefangenschaft zurück. Es sind die Frauen, die sich den neuen Herausforderungen stellen.
In der Nähe des Schwarzmarktes, in der Ruine des Anhalter Bahnhofs, wird eine erdrosselte und mit Säure übergossene Trümmerfrau entdeckt. Ihr Gesicht ist bis zur Unkenntlichkeit entstellt und wichtige Dokumente fehlen. Als wenig später eine weitere Frau tot aufgefunden wird, spricht alles für eine Mordserie.
Die Weibliche Kriminalpolizei steht vor einem Rätsel. Mit wechselnden Identitäten nutzt der Täter geschickt die unübersichtliche Lage im geteilten Berlin. Luise Adler stößt während ihrer Ermittlungen auf enorme Widerstände bei den alliierten Siegern. Dabei ahnt sie nicht, dass die dunklen Schatten der Vergangenheit sie verfolgen und ihr Todesurteil längst besiegelt wurde.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Sept. 2023
ISBN9783949961069
Zerstörung, 1947: Adler, weibliche Kriminalpolizei, Berlin
Autor

Stephan Weichert

Dr. Stephan Weichert ist Professor für Journalistik an der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation in Hamburg und regionaler Studiengangleiter.

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    Buchvorschau

    Zerstörung, 1947 - Stephan Weichert

    Prolog

    »Nicht der deutsche Soldat, die deutsche Frau hat versagt. Wir hoffen, dass sie recht viel Spaß mit den Besatzern hat und ihnen zum Opfer fällt. Es dauerte sechs Jahre, um Deutschland zu besiegen, aber nur fünf Minuten, um eine deutsche Frau rumzukriegen.«

    Ullrich Kranz,

    Verband der Deutschen Kriegsheimkehrer

    Zwei Jahre zuvor.

    Sonntag, 6. Mai 1945

    Durch das Haus zog der Duft von frisch gebrühtem Kaffee, der gewöhnlichen Leuten schon zu Beginn des Krieges vergönnt war. Im Elternhaus der siebzehnjährigen Vera Dornberg war nichts gewöhnlich und der Krieg war nach sechs dunklen Jahren vorbei.

    Ein besonderer Morgen im Mai 1945 – Erlösung und Vernichtung zur gleichen Zeit. Eine Welt aus Schutt, Asche und mit mehr als 50 Millionen Opfern. Adolf Hitler war zu dieser Zeit bereits tot. Mit zitternder Hand war es ihm im Führerbunker gelungen, erst seine Gemahlin Eva, dann seinen Hund Blondi und schließlich sich selbst hinzurichten. Und während Berlin nach dem letzten verheerenden Bombenhagel ein lodernder Trümmerhaufen war, schien hier, vor den Toren der Stadt, in der Villenkolonie von Neu-Babelsberg, alles beim Alten zu sein. Die Morgensonne erhellte das Speisezimmer, auf dem weißen Tischtuch standen der volle Brotkorb, die gekochten Eier, goldgelbe Butter sowie Marmeladen aus verschiedenen Früchten. Dazu drei silberne Kannen: Tee, Kaffee und heiße Milch. Brigitte Dornberg, die Dame des Hauses, trug ein wallendes Morgengewand aus geschmeidiger Seide und nippte an ihrer Tasse aus edlem Meissener Porzellan. Ihr Gatte, Karl-Otto, hielt sich eine Zeitung vor die Nase und Vera, die fast erwachsene Tochter, blickte durch das riesige Panoramafenster auf die gepflegte Gartenanlage, die, umringt von frühlingshaft blühenden Sträuchern, weiträumig bis zum Griebnitzsee ragte. Ihre Eltern gehörten bis dato zu den Privilegierten im Deutschen Reich. Berühmte Künstler, Diven, aber auch Nazigrößen gaben sich bei ihnen die Klinke in die Hand und es wurden rauschende Feste mit ihnen gefeiert. Ihre Mutter war eine renommierte Kostümgestalterin der UFA. Ihr Name stand in jedem Abspann und nicht nur der Propagandaminister, auch die Leinwandlieblinge lobten damals die schöpferischen Werke der Brigitte Dornberg. Bei ihr waren sie in guten Händen; sie verwandelte graue Mäuse in leuchtende Sterne.

    Plötzlich brüllte ein laut zitterndes Motorengedröhne in die sonntägliche Stille. Ein russisches Militärfahrzeug preschte auf die Vorfahrt, um mit quietschenden Reifen direkt vor dem Hauseingang zu parken. Hinter dem Steuer saß ein Uniformierter, daneben ein Ranghöherer – es waren Rotarmisten.

    »Versteckt euch! Ich regle das schon!«, sprach die Dornberg aufgeschreckt und alles musste nun schnell gehen. Während ihr Mann sich ein Versteck im Keller suchte, scheuchte sie ihre Tochter in die Küche. Sie selbst blieb hinter der Gardine stehen und sah die Männer draußen ihre Uniformen zurechtrücken. Wie durch ein zusammengerolltes Papierröllchen verengte sie ihren Blick und sah sie die hohe Steintreppe hochkommen. Das Knirschen der sandigen Stiefelsohlen wurde lauter, und sie wusste längst, dass diese Iwans nur gekommen waren, um ihren Gatten festzunehmen. Vielleicht würden sie ihn gleich erschießen, er war kein unbedeutendes Blatt im Deutschen Reich, im Gegenteil: Er war Karl-Otto Dornberg, Hitlers verlässlichster Drahtzieher im Räderwerk der Deportation und Ausplünderung jüdischer Haushalte. Ein Zahlenverdreher, ein Raubritter und ein ziemlich großer Mann im Staate, der nun klein und bucklig in seinem Keller zwischen gebrauchten Filmkleidern und staubigen Weinflaschen kauerte.

    Es klingelte und sie ließ die Männer warten. Noch einmal kontrollierte sie ihr Haar im Spiegel und zog den Knoten ihres Morgenmantels fester. Es klingelte wieder und nun zwang sie sich, zu funktionieren und charmant zu sein. Nervös drehte sie an vielen Schlüsseln, schob den Riegel der Eingangstür zurück und öffnete sie.

    »Guten Morgen die Herren! Was kann ich denn für Sie tun?«

    »Ich bin Leitenant Goworow«, sagte der eine mit abgehacktem russischen Akzent. »Ist das hier Haus von Nazi-Sekretär Dornberg?«

    »Und was möchten Sie, bitte?«, erwiderte sie überhöflich.

    »Militärpolizei!«, sprach der andere knapp und stieß mit voller Kraft die Tür zur Seite.

    Die beiden schritten durch den Flur, schauten sich um, sahen sich an und schwiegen. Erst als ihr Blick auf den gedeckten Tisch fiel, sprachen sie laut auf Russisch und der eine, der sich vorhin als Goworow vorgestellt hatte, befahl dem anderen, sich unverzüglich im Haus umzusehen. Er wollte in der Zeit hier warten und sie durfte sich nicht mehr bewegen.

    »An die Wand!«, befahl er laut und sie gehorchte aufs Wort, als er ihr den Lauf seiner Pistole zeigte. Sein Kumpan indes marschierte mit festen Schritten durch die Flure, durchsuchte alle Zimmer und fand eine kleine hölzerne Tür. Er riss sie auf, schritt die abgetretenen Stufen hinab in den Keller und ließ den Strahl seiner Taschenlampe über staubige Hutschachteln, ein hohes Weinregal sowie einen großen Kleiderständer gleiten. Mit leichter Hand strich er über alte Filmkostüme und merkte nicht, dass genau darunter der gesuchte Reichssekretär unter einer verdreckten, braunfleckigen Decke kauerte. Dort zitterte Karl-Otto Dornberg mit eiskalten Schweißperlen auf der Stirn um sein Leben und traute sich weder einen Ton von sich zu geben noch zu atmen. Er hielt die Luft an und lauschte. Eine Welle der Übelkeit stieg in ihm hoch und es wühlte in seiner Brust, weil er wusste, dass es nun zu Ende war. Er wollte nicht auf so schäbige Weise von einem Russen in seinem eigenen Keller umgelegt werden. Es sollte ein würdiges Ende sein – er hätte seinen Untergang lieber selbst entschieden. Standesgemäß wie der Führer, mit Zyankali, mit dem Strick oder mit der eigenen Pistole. Nach Erlöschen seiner Verantwortung war ohnehin alles versunken und da ein Sieg für Deutschland unmöglich geworden war, hätte zumindest seine Niederlage ehrenvoll sein müssen.

    Jedoch fand der Russe nicht, wonach er suchte, kratzte sich nur unter der Mütze und stieg wieder hinauf ins Tageslicht.

    Zugleich stand Brigitte Dornberg im Speisezimmer mit dem Rücken zur Wand. Gebetsmühlenartig stellte ihr der Leutnant immerzu die gleiche Frage.

    »Wo ist er?«

    »Ich sagte Ihnen doch, dass niemand im Haus ist. Meine Tochter ist bei Freunden und …« Es war sinnlos, die Lüge weiterzuspinnen, da im gleichen Augenblick der andere Genosse mit Vera im gehebelten Polizeigriff aus der Küche gestolpert kam.

    »Nicht so heftig, Mensch! Sie tun mir ja weh!«, sprach sie widerborstig und versuchte, sich aus seinen Fängen zu befreien. Um sie zu bändigen, presste der Rotarmist seinen Arm um ihre Kehle und umklammerte sie. Sein Griff um ihren Hals wurde zunehmend stärker und Vera rang nach Luft.

    »Du willst weiter lügen und deiner Tochter beim Sterben zusehen?«, knurrte Goworow Brigitte Dornberg an und fuchtelte mit der Pistole. »Wo ist dein Mann? Wo versteckt er sich? Rede endlich!«

    Als sie ihre Tochter zwischen den Schmiedezangen des russischen Peinigers nur noch würgen und röcheln hörte, nahm sie das Schicksal als unabänderliche Macht hin. Sie legte ihre freundliche Maske ab, bewegte sich von der Wand weg und ging auf ihn zu.

    »Was sollen diese ewigen Fragen? Was willst du von mir hören, Russki?«, zischte sie. »Er ist nicht hier! Ich weiß nicht, wo er ist! Verstehst du es nicht?«

    »Hinknien!«, befahl er. »Auf den Boden!«

    Sie dachte nicht einmal daran. Mit den Fäusten an der Hüfte trat sie ihm trotzig entgegen.

    »Wir hätten mit euch allen kurzen Prozess machen sollen, ihr seid wirklich nur Untermenschen!«, schrie sie und spuckte ihm vor die Füße. »Fahr zur Hölle, schmutziger Russe!«

    Plötzlich ein kräftiger Schlag und ein gellender Schmerzensschrei. Ohne zu zögern, schlug der Rotarmist ihr mit der schweren Pistole ins Gesicht.

    »Wie lange wollt ihr lügen?«, schrie er und malträtierte sie mit weiteren Schlägen. »Ich frage dich! Wie – lange – wollt – ihr – Deutschen – weiter – lügen? Wie – lan-ge?«

    Vera musste alles mitansehen. Im Würgegriff des anderen schien sich ihr Kopf aufzublähen und Übelkeit stieg in ihr auf, auch weil sie das viele Blut ihrer Mutter nicht mehr sehen konnte. Doch sollte es noch schlimmer kommen, als der Rotarmist ein letztes Mal ausholte und ihrer Mutter mit voller Wucht einen Schlag versetzte. Brigitte Dornberg strauchelte wie eine betrunkene Balletttänzerin ins Nichts und fiel mit gebrochenen Augen zu Boden. Im Zimmer wurde es still, ganz still. Ruhe. Friedhofsruhe. Lebensbedrohliche Ereignisse sind nie laut, sondern die stillsten. Diese Stille war unerträglich und das Einzige, was Vera noch hörte, war ihr pochendes Herz.

    Das Grauen lag in der Luft und sie wusste, in welcher Gestalt es sich jetzt zeigen würde. Der eine lockerte den Würgegriff, der andere den Gürtel seiner Hose. Er packte sie an den Schultern, um sie mit dem Gesicht gegen die Wand zu drücken, und stank nach Tabak, Schweiß und Blut. Unsägliche Angst lähmte ihren Widerstand, sie wollte sich nicht vorstellen, wie das Ganze hier endete. Daher nahm sie es als gegeben hin, schloss die Augen, neigte den Kopf und ließ es wortlos über sich ergehen.

    Der Tatbestand der Vergewaltigung gilt nur bei unmittelbarer körperlicher Überwindung weiblichen Widerstands sowie bei glaubhafter Gegenwehr des Opfers, während alle anderen Formen sexueller Gewalt mit vaginaler Pene­tration nicht als solche bewertet ­werden können.

    Besatzungsstatut 35/5.II/ uneheliche Kinder aus Vergewaltigungen durch ­Besatzungssoldaten

    I Zugehörig

    1

    Zwei Jahre später.

    Freitag, 1. August 1947

    Es war die Katastrophe des Krieges, die Berlin in den letzten beiden Jahren gezwungen hatte, sich neu zu erfinden. Das Ausmaß der Zerstörungen war beträchtlich. Vielen Häusern fehlten Dächer, Treppenhäuser, ja sogar Hauswände, sodass man den Leuten wie in einem offenen Adventskalender beim Leben zuschauen konnte. So schälte in einer Wohnung eine alte Frau Kartoffeln, während der Nachbar nebenan mit der Zeitung auf dem Sofa saß. Zugleich war Berlin mit Militär nur so vollgestopft. Die alliierten Sieger hatten die Stadt untereinander aufgeteilt und jede Besatzungsmacht hatte ihre eigenen Interessen. Die Russen hatten den Ostsektor als Machtbereich übernommen und der Westteil wurde von Briten, Amerikanern und Franzosen zur Trizone erklärt. Doch während die Westmächte sich schnell auf eine Zusammenarbeit einigen konnten, kam es immer öfter zu Konflikten mit der anderen Seite.

    Im westlichen Bezirk Neukölln sah es wie überall in der Stadt aus und es war schwer, sich den Weg bis zur Mietskaserne im Richardweg Nr. 3 durch die beispiellose Verwüstung der Straße zu bahnen. Trotz der wackeligen Fassade war im Vorderhaus noch vieles intakt. Auch in der Wohnung von Luise Adler, in der sie mit ihrem alten Vater, Walter Adler, zusammenlebte, schien alles in Ordnung zu sein. Es gab wieder Licht, das Telefon funktionierte und es herrschte Frieden in ihr. Auch gab es eine neue Liebe in ihrem Leben. Ein großartiger und sehr ungewöhnlicher Mann, den ihr Vater noch zurückhaltend als »Übernachtungsgast« bezeichnete. Der Gast schlief aber nicht mehr, die andere Seite des Bettes war leer. Sie aber schlief noch einmal ein.

    Träume dauern in Wirklichkeit nie lange, auch wenn der Traum einem ewig vorkommt. Wie in einem Kinofilm fügen sich Szenen aneinander, aber das Zeitgefühl verliert die Orientierung. Luise Adler fiel noch einmal hinab in eine kuriose Traumsequenz und verlor sich in Bildern. Darin schritt sie elegant im edlen Kleid, Mantel und Hut durch einen Torborgen in eine gewölbte Halle riesigen Ausmaßes. Sie schaute hoch und erblickte eine monumentale Skulptur auf einem wagengroßen Sockel; es war ein Stier, der seinen Kopf zum Himmel streckte. Auf dem Stier saß eine Frau, eine Gottheit, barfuß und nackt. Sie hatte die Arme in Siegeshaltung, in der rechten Hand die Weltkugel, auf der linken saß ein Greifvogel, der seine Flügel ausstreckte, vielleicht war es aber auch eine Friedenstaube, man konnte es nicht genau erkennen. Sie wusste: Die Frau war Europa und der Stier war der verzauberte Zeus, der Gott der Götterwelt.

    Von Weitem hörte sie hinkende Schritte, die widerhallend auf dem kalten Marmor näherkamen. Sie gehörten ihrem alten Gegenspieler, der ihr schon mehrere Male das Leben zur Hölle gemacht hatte. Vor knapp sieben Jahren war er leidvoll durch eine tragische Explosion verunglückt, nun kam er über den glänzenden Boden gehumpelt und ging direkt auf sie zu. Ein lebender Toter mit narbigem Gesicht, der zwischen seinen knochigen Fingern einen halb gefüllten Cognacschwenker hielt. Das Bild war grotesk, doch sie erkannte ihn sofort.

    »General Görnitz!«, sprach sie, blickte ihm ins zerstörte Gesicht, zündete sich eine duftende Zigarette der Marke Nestor Orient Gold an und nahm ihm dreist das fragile Glas aus der Hand. »Ein Mann, den man gleich erkennt, trotz der schlimmen Blessuren. Sie sehen ausgesprochen schlecht aus, schön, freut mich. Ich hätte nämlich meine Zweifel, ob ich Sie erkannt hätte, wenn Sie auf einem weißen Schimmel aus dem Paradies geritten wären. Ich hoffe, die Hölle bleibt der Ort, an dem Sie schmoren. Warum tragen Sie eigentlich noch Ihre Uniform?«, fragte sie frech, trank ihm den Cognac weg und schmiss das Glas hinter sich, das zerbrach. Danach noch ein kräftiger Zug an der Nestor, um ihm provokativ den Rauch genüsslich ins Gesicht zu hauchen.

    »Ich habe für mein Land gekämpft, ich habe dem Führer gedient und ich bin stolz, ein Deutscher zu sein«, antwortete er kühn und wedelte sich den Qualm aus dem Gesicht. »Warum sollte ich diese Uniform nicht weitertragen, Fräulein?«

    »Sie sehen ein bisschen aus wie Hanswurst«, antwortete sie. »Ich meine, Sie sind gestorben, Hitler hat sich erledigt und der Krieg ist vorbei. Ihr Weltbild wird aussterben, zumindest in Deutschland, also was soll noch der Mummenschanz, General Hinkebein?«

    »Ach Adler, Sie neunmalkluges, dummes Ding«, spottete er niederträchtig mit den altbekannten Beleidigungen. »Schauen Sie doch genau hin! Ihr Kampf für das Gute ist unsere Chance, die Wahrheit zu kontrollieren. Sie kämpfen für Ideale, die nicht existieren, nie existiert haben. Wir werden uns zurückholen, was uns zusteht. Die Deutschen werden uns abermals nachlaufen. Unser Gift hat sich so tief in ihre Seelen gefressen, dass Sie es schwer haben werden, dieses Gift aus ihren Gedanken zu tilgen. Und auch wenn unser Dasein beendet zu sein scheint, werden wir uns in verschiedenen organischen und anorganischen Formen wieder bemerkbar machen. Die Ordnung unserer Volksgemeinschaft ist unveränderlich. Es ist das wertvollste Konzept von Recht und Gerechtigkeit für die kommenden Jahrhunderte. Sehen Sie sich nur das zersplitterte Glas an!« Er deutete auf den zerbrochenen Cognacschwenker am Boden. »Es enthält ein System von Atomen und Elektronen. Sie können es wegwerfen, zerstören und zerbrechen, doch die Ordnung des Materials bleibt unverändert. Und so ist es mit der deutschen Gesinnung. Daher kann ich Ihnen eines absolut versichern, Fräulein Adler: Es ist nicht vorbei. Ich bin und bleibe:

    U N S T E R B L I C H!«

    Das Echo des Wortes hallte zwar noch eine Ewigkeit nach, jedoch erwachte sie vom Knall einer entfernten Explosion und der Traum riss ab. Sie sprengten dauernd gefährliche Ruinen draußen und so fiel sie aus der Ruhmeshalle Europa in die Wirklichkeit zurück. Sie war erleichtert über den erlösenden Wachmoment, wollte in diesem Film nicht weiter mitspielen. Wie sie jedoch diesen schrägen Traum mit seiner Hauptfigur aus dunklen Tagen deuten sollte oder ob er überhaupt eine Bedeutung für sie hatte, darüber dachte sie besser nicht nach. Noch mit müden Augen sah sie zum Frisiertisch hinüber. Bevor sie gestern Abend mit ihrem Übernachtungsgast ins Bett gestiegen war, hatte sie dort feinsäuberlich ihre Nylons abgelegt. Ansonsten standen da nur ein paar Tiegel; nichts Atemberaubendes weit und breit. Nivea-Dose, Kölnisch Wasser, Lippenstift, aber nirgendwo ein Pillengläschen mit ihrem altbewährten Pervitin. Sie hatte es gut versteckt. Die Zeiten, in denen sie das aufputschende Mittel wie Hustenbonbons gefuttert hatte, waren lange vorbei. Ihre neue Droge war er, der Franzose: Elian Bouxwiller. Der Mann, der ab und zu bei ihr im Bett schlief und mit dem sie schon öfter geschlafen hatte. Er war kaum älter als sie und seines Zeichens Adjutant de corps, also Oberfeldwedel des 11. Régiments de Chasseurs der französischen Division. Auf dem Gang hörte sie ihn und ihren Vater schon tuscheln. Sie kicherten immerzu und zählten »Zwo, drei, vier«, als wollten sie ein Lied einstimmen. Sie ahnte, was die beiden ausheckten, und stellte sich schlafend, um friedlich abzuwarten, dass sie die Zimmertür öffneten.

    »Joyeux Anniversaire! Äppi Birthday to you!«, sang Elian und erschien mit einem kleinen Kuchen mit einer brennenden Kerze in der Mitte.

    »Nun ist sie wieder ein Jahr älter!«, begleitete ihr Vater den frankophonen Singsang seines Vordermanns und strich sich über den grau melierten Bart. Er steckte in seinem Lieblingspyjama, war wach und außerordentlich gut gelaunt. »Und? Hast du was Schönes geträumt?«, fragte er. »Dann geht es hoffentlich bald in Erfüllung. Aber nun steh mal endlich auf oder willst du etwa deinen ganzen Geburtstag verschlafen?«

    »Du musst erst die Kerze auspusten, Chérie!«, ergänzte Elian in fehlerfreiem, aber französisch akzentuiertem Deutsch. »Das bringt Glück, Chérie!«

    Sie richtete sich auf, gähnte und freute sich über die nette Geste und den schönen Moment.

    »So habe ich ja meinen Geburtstag noch nie begonnen, dass mich gleich zwei Kavaliere umgarnen. Na, da kann ja nichts mehr schiefgehen.« Auch wenn ihre Stimme dabei fröhlich und warm klang, packte sie schon ein Hauch von Wehmut in diesem Moment, was aber nichts weiter war als ein kurzer Gedanke des Bedauerns. Ihr war klar: das Pendel der Lebensuhr machte auch bei ihr keine Pause, sie würde nicht jünger werden. Das Altern sah sie aber weniger als Kerker, eher als einen hohen Balkon, von dem man Jahr um Jahr immer weiter blicken konnte.

    »Mit dem Alter ist es wie mit dem Elsässer Wein, Louise …«, scherzte Elian. »Es muss ein guter Jahrgang sein.« Während ihr Vater dastand und in sich hinein schmunzelte, nahm Elian auf der Bettkannte Platz und hielt ihr den Kuchen vor die Nase. Sie setzte sich aufrecht und pustete die Kerze aus.

    »Noch einmal alles Gute, Chérie!«, sprach er und legte eine herabhängende Haarsträhne hinter ihrem Ohr zurecht. Immer wenn er das tat und so redete, klang es wie eine Liebeserklärung. Und ganz besonders sein sanftmütig gehauchter Akzent führte dazu, dass sie Wachs in seinen Händen war. »Und naturellement werde ich heute für meinen Liebling kochen, Chérie«, lullte er sie weiter mit Worten ein und verwickelte schließlich ihren Vater in das Vorhaben. »Soupe à l›oignon … eh … Zwiebelsupp‘. Und Sie werden mir gefälligst dabei helfen, Monsieur Adler! Non, non, heute keine Ausreden! Sie schneiden die Zwiebeln. Mein mitgebrachter Pinot Noir wird Ihnen die Arbeit sicher erleichtern.«

    Der alte Adler schaute skeptisch und schien von der Idee, unter Tränen Zwiebeln schneiden zu müssen, nicht ganz begeistert zu sein. Mit dem Gedanken, den Vormittag mit dem sympathischen Monsieur Adjutant und einem guten Wein in der Küche zu verbringen, um etwas Gutes zu essen zu bekommen, konnte er sich aber durchaus anfreunden. Jede Nahrung war ihm willkommen, die Lebensmittelrationen reichten meist nicht und er war oft hungrig, auch wenn seine Tochter bei der Polizei eine höherwertige Lebensmittelkarte bekam. Zudem wäre niemand auf die Idee gekommen, diesem charmanten Mann im Uniformhemd der französischen Besatzungsarmee mit seinem freundlichen Lächeln unter den schmalen Schnurrbartstrichen einen Gefallen auszuschlagen. Er war ein echter Hauptgewinn, sah gut aus, war intelligent, warmherzig und unbestechlich. Er hatte einen nachsichtigen Blick auf die zerstörte Welt und eine edle Aura, die Luise unwiderstehlich fand. Nach eigenen Erzählungen war Elian im Elsass, im beschaulichen Le Pays d›Eguisheim an der Weinstraße, zweisprachig zwischen prächtigen Fachwerkhäusern und engen Kanälen aufgewachsen. Durch seinen Vater, einen General der Fremdenlegion, schlug er ebenfalls eine militärische Laufbahn an der Militärschule von Saint-Cyr ein. Nach der Befreiung Frankreichs wurde er in Berlin stationiert. Hier lebte und diente er die meiste Zeit in der Kaserne Quartier Napoléon im Wedding, dem ehemaligen Sitz des Infanterie-Regiments von General Göring. Luise lernte Elian im Zuge einer Fahndung kennen. Drei Frauen waren in kurzen Abständen nahe der Kaserne ums Leben gebracht worden. So hatte, wie sich später herausstellte, der zivilangestellte Küchenhelfer Ronald Bösgang seine Opfer immer erst in einen netten Wortwechsel verwickelt, dann begrapscht, getötet und beraubt. Man gründete sofort eine Sonderkommission namens Bräutigam. Adler sollte als Kommissarin der Weiblichen Kriminalpolizei die Ermittlungen unterstützen und Elian, als Vertreter der Alliierten, konnte im Auftrag des Quatier général die Kaserne nach dem Verdächtigen auskundschaften. Luise verliebte sich in Elian, obwohl Liebe für sie lange nur ein Wort, kein Gefühl mehr war. Durch diesen interessanten Franzosen jedoch wurde ihr die Bedeutung des Wortes wieder bewusst. Er war ganz anders als andere Männer und schien aus einer Welt zu stammen, die mit ihrer absolut nichts zu tun hatte.

    In der Küche klapperten mittlerweile schon die Kochutensilien und in der Wohnstube dudelte Radiomusik. Der neu gegründete RIAS, der Radiosender im amerikanischen Sektor, spielte Hallo kleines Fräulein von den Drei Travellers. Eine swingende Kurzweil aus Akkordeon, Gitarre und lustigem Herrengesang. Deutscher Swing, zwar ein Paradox an sich, aber die passende Begleitmusik zum Geburtstag. Luise stieg aus dem Bett und begann, noch im Nachthemd, durch die Wohnung zu wippen und mitzusingen.

    »Dudilidüp … Hallo, kleines Fräulein … haben Sie heut‘ Zeit … mit mir auszugehen … nur zum Zeitvertreib?«

    Durch die laute Tanzmusik hätte sie fast das Rasseln der Türklingel überhört. An der Küche vorbei, in der die Männer lachten, sich ihr erstes Weinchen genehmigten und werkelten, schritt sie barfuß über das knarrende Parkett zur Wohnungstür, um durch den Türspion zu blicken.

    »Ja? Wer ist da bitte?«

    »Kommissarin Adler!?«, rief die schroffe Stimme hinter der Tür so laut, dass in der Nachbarwohnung ein Baby zu weinen anfing. »Öffnen Sie bitte!«

    Adler nahm die Kette von der Tür, öffnete und erkannte den Mann auf der Stelle. Es war ein Mitarbeiter der Fahrbereitschaft der Kriminalpolizei.

    »Ich bin hier, um Sie abholen, Frau Kommissarin! Mord in den Ruinen am Anhalter Bahnhof!«

    2

    Das Wetter war wie die Lage der Menschen in der Stadt: unbeständig. Die Fahrt zum Tatort ging zügig an zerstörten Geschäften und Hotels hinter Bergen von Geröll vorbei. Auf den Gipfeln des Schutts standen viele Trümmerfrauen in den immer gleichen Kittelschürzen und mit übergroßen Knoten in den Haartüchern. Rastlos schufteten sie und schlugen mit ihren Schlageisen auf Backsteine. Seit Monaten schafften sie Schutt aus der Stadt, um Straßen wieder frei zu machen und neues Baumaterial zu gewinnen. Adler sah ihre Anstrengungen durch das Beifahrerfenster und der Anblick zeigte ihr deutlich: Der Krieg war ausgekämpft, Ehemänner und Söhne gefallen, versehrt oder noch in Kriegsgefangenschaft, aber diese Frauen da bauten ihre Stadt wieder auf.

    In letzter Zeit gab es auch für Adler viel zu tun; eine Unzahl an Fahndungsaufgaben für die weibliche Kriminalpolizei. Fast immer drehten sie sich um Frauen, die Opfer von schwerem Raub, Körperverletzung, Mord und Vergewaltigung wurden oder die nach solchen Taten Selbstmord begingen. Die Delikte wurden in Wohnungen, aber

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