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Das Tagebuch der weinenden Frau: Roman
Das Tagebuch der weinenden Frau: Roman
Das Tagebuch der weinenden Frau: Roman
eBook280 Seiten3 Stunden

Das Tagebuch der weinenden Frau: Roman

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Über dieses E-Book

Während des zweiten Weltkriegs wird in Paris ein Gemälde des Malers Picasso durch die Gestapo beschlagnahmt. Es ist ein Portrait der 'Weinenden Frau'. Kurz vor dem Einmarsch der Alliierten in Paris überquert ein Trupp Naziflüchtlinge die Pyrenäen. Mit dabei ist die 'Weinende Frau' ... und das Kind einer jüdischen Widerstandskämpferin.
Jahrzehnte später kauft der Student Jorge bei einem Bouquinisten in Paris ein Buch über die baskische Stadt Guernica, die während des spanischen Bürgerkriegs von der deutschen Luftwaffe bombardiert und zerstört wurde. Im Buch steckt ein Zettel mit einer Nachricht: Wer du auch bist, der das liest, wenn du begreifst, werde ich nicht mehr sein. Bete für die weinende Frau. Laura.
Jorge beschliesst, die Frau, die er in Gefahr wähnt, zu suchen. Dabei wird er durch Olivia unterstützt, die ihm wie zufällig über den Weg läuft. Das 'Projekt Laura' führt ihn zu einer geistig verwirrten Alten in einer psychiatrischen Klinik Sevillas. Sie übergibt ihm ihr Tagebuch und Jorge erfährt eine unglaubliche Familiengeschichte, eine Geschichte über weinende Frauen, wie sie einst Picasso malerisch dargestellt hat. Die Alte scheint Laura zu kennen. Je mehr Jorge über sie erfährt, desto mehr beginnt sie, in ihm zu leben, bis er sie in Visionen seiner Seele erkennt. Doch gibt es sie nur in seiner Phantasie?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum15. Dez. 2017
ISBN9783745070262
Das Tagebuch der weinenden Frau: Roman

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    Buchvorschau

    Das Tagebuch der weinenden Frau - José Luis de la Cuadra

    Inhalt

    Zu diesem Buch

    Zum Autor

    Prolog

    Kapitel 1 Paris 1942, Gestapoverhörkeller

    Kapitel 2 Paris 2010, Seine-Ufer

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Kapitel 28

    Kapitel 29

    Kapitel 30

    Kapitel 31

    Kapitel 32

    Nachwort

    Gleich weiterlesen?

    Zu diesem Buch

    Während des zweiten Weltkriegs wird in Paris ein Gemälde des Malers Picasso durch die Gestapo beschlagnahmt. Es ist ein Portrait der ‚Weinenden Frau’. Kurz vor dem Einmarsch der Alliierten in Paris überquert ein Trupp Naziflüchtlinge die Pyrenäen. Mit dabei ist die ‚Weinende Frau’ ... und das Kind einer jüdischen Widerstandskämpferin.

    Jahrzehnte später kauft der Student Jorge bei einem Bouquinisten in Paris ein Buch über die baskische Stadt Guernica, die während des spanischen Bürgerkriegs von der deutschen Luftwaffe bombardiert und zerstört wurde. Im Buch steckt ein Zettel mit einer Nachricht: Wer du auch bist, der das liest, wenn du begreifst, werde ich nicht mehr sein. Bete für die weinende Frau. Laura.

    Jorge beschliesst, die Frau, die er in Gefahr wähnt, zu suchen. Dabei wird er durch Olivia unterstützt, die ihm wie zufällig über den Weg läuft. Das ‚Projekt Laura’ führt ihn zu einer geistig verwirrten Alten in einer psychiatrischen Klinik Sevillas. Sie übergibt ihm ihr Tagebuch und Jorge erfährt eine unglaubliche Familiengeschichte, eine Geschichte über weinende Frauen, wie sie einst Picasso malerisch dargestellt hat. Die Alte scheint Laura zu kennen. Je mehr Jorge über sie erfährt, desto mehr beginnt sie, in ihm zu leben, bis er sie in Visionen seiner Seele erkennt. Doch gibt es sie nur in seiner Phantasie?

    Zum Autor

    Der Autor ist gebürtiger Schweizer spanischer und russischer Abstammung. Er lebt in Bern, ist verheiratet und Vater dreier Töchter. Bis 2013 führte er eine Arztpraxis. Bisherige Veröffentlichungen: Die Fuge der Liebe (2014), Eine Faustsinfonie (2016).

    José L. de la Cuadra

    Das Tagebuch

    der weinenden Frau

    Roman

    Für sie

    Impressum

    Texte: © Copyright by José Luis de la Cuadra

    Umschlaggestaltung: © Copyright by José Luis de la Cuadra

    Verlag: José Luis de la Cuadra, CH-3074 Muri

    delacuadrajose@bluewin.ch

    www.josedelacuadra.com

    Prolog

    Selten hat ein Bild den Aufschrei der Weiblichkeit gegenüber der männlichen Gewalt so drastisch vorgeführt wie das Bild ‚Guernica’ von Pablo Picasso. Das Sinnbild der Zerstörung der baskischen Stadt während des spanischen Bürgerkriegs wurde, weit über den zweiten Weltkrieg hinaus, Symbol für die Widerstandskraft des freiheitlichen Denkens in Europa. Das sinnlose Gemetzel hat Picasso zum Anlass genommen, das Leiden aus der Sicht weiblicher Empathie dem männlichen Drang zur Gewalt bildnerisch gegenüberzustellen.

    In diesem Roman begibt sich Jorge auf die Suche nach einer Frau, die durch ihr Weinen seine Seele berührt – und gerät dabei in eine Familientragödie, die in Paris zur Zeit des zweiten Weltkriegs ihren Anfang nimmt.

    Paris 1942, Gestapoverhörkeller

    „Warum schweigen Sie?"

    Gestapo-Offizier Walter Müllheim saß an einem einfachen Holztisch im Untergeschoss des Gebäudes, Rue des Saussaies Nr.11. Vor ihm lag die Akte der Gefangenen Nr. 326. Auf dem verschmutzten Umschlag stand: Geheime Staatspolizei, Staatspolizeistelle Paris, Angeklagte L. v. L, geb. 1. Jan. 1924, Begründung: Widerstand gegen die Staatsgewalt (Partisanengruppe ‚Rose Blanche’), Jüdin. Er öffnete die Akte und übersprang die ersten fünf Blätter. Sie enthielten die bekannten Umstände der Festnahme, der politischen Aktivitäten, der Anklagebegründung und Details über die durchzuführenden Maßnahmen. Es folgten die Seiten mit den Verhören, insgesamt dreizehn. Außer den Kalenderdaten waren diese Blätter weitgehend leer. Es fanden sich nur einige Bemerkungen wie: Aussage verweigert, Angeklagte schweigt, L. v. L. ist störrisch. Dreizehn Seiten ohne Geständnis.

    Müllheim wusste, dass auch das heutige Verhör ergebnislos verlaufen würde. Die Frau galt als resistent, aggressiv und unkooperativ. Kein Wort hatte der SS-Offizier aus ihr herausgebracht. Keinen einzigen Laut hatte Rüdiger aus ihr herausgeprügelt. Sie blieb stumm wie ein Fisch. Nicht die kleinste Regung verriet, was in ihr vorging.

    Der SS-Mann betrachtete seine im Aschenbecher sengende Zigarette. Er brauchte den Geruch seiner Glimmstängel, um den Gestank nach Schweiß und verbranntem Fleisch, der aus den Kerkern durch die Ritzen der Mauern kroch, zu ertragen. Überhaupt fiel es ihm jeden Morgen schwerer, die Treppen zum Verhörkeller hinunterzusteigen. Die Schreie aus den Folterkammern raubten ihm den Schlaf.

    Er nahm einen Zug, inhalierte tief und blies den Rauch verärgert in Richtung der Gefangenen, die, von einer Lampe grell beleuchtet, mit angezogenen Beinen auf einem Schemel saß. Die Schwaden tanzten vor ihrem Gesicht hin und her.

    „Sie schweigen immer noch?"

    Jetzt war es eher eine Feststellung. Müllheim wusste, die Frau würde die Antwort verweigern, ihn mit ihrem Schweigen in Verlegenheit bringen. Warum sagte sie kein Wort? Warum verteidigte sie sich nicht? Warum bettelte sie nicht um Gnade? Benutzte sie das Schweigen als Waffe, um ihn zu bestrafen? Ja, er tat Unrecht, aber es war das Unrecht des Krieges. Über seine eigene Verantwortung hatte er nie nachgedacht. Bis heute.

    Schon auf dem Weg zur Rue des Saussaies war er mehrmals stehengeblieben. Heute würde er entscheiden müssen. Die Verhöre abzubrechen, ohne Aussage, ohne Geständnis, bedeutete den Tod der Jüdin. Die Befragungen ergebnislos weiterzuführen würde ihm einen Verweis seiner Vorgesetzten einbringen.

    Zweifel nagten an seinem Verstand. Es war ihm nicht gelungen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. In seinen Ohren klang die Stille wie ein stummer Schrei, als wäre seine Schuld nicht in Worte zu fassen.

    Müllheim spürte ein schmerzhaftes Ziehen im Nacken. Er holte eine Medikamentenschachtel aus der Schublade, schob sich eine Tablette Aspirin in den Mund und schluckte sie mit einem Glas Wasser hinunter, in der Hoffnung, die drohende Migräne abzuwenden.

    Im Licht der nackten Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing, starrte er auf das Verhörprotokoll. Seite vierzehn: leer. Seine Fingernägel krallten sich am Papier fest und zerknitterten es unter hörbarem Rascheln. Er war hin- und hergerissen.

    Plötzlich richtete er sich auf.

    „Lise von Lilienthal, Sie sind Jüdin und haben sich einer französischen Widerstandsgruppe angeschlossen. Seit der Besetzung ihres Landes durch unsere Truppen unterstehen Sie deutschem Recht. Sie sind angeklagt, terroristische Aktionen gegen Soldaten der deutschen Wehrmacht geplant und durchgeführt zu haben. Wenn Sie uns nicht sagen, wer Ihre Freunde sind und wo wir sie finden können, werden Sie diesen Ort nicht lebend verlassen. Ist Ihnen das bewusst?"

    Schweigen.

    Die Luft im Gestapo-Verhörkeller war stickig, die Hitze kaum auszuhalten. Schweiß trat dem Offizier auf die Stirne, als er Lise ansah. Es war schwer zu ertragen, was Rüdiger mit ihr im zweiten Untergeschoss angestellt hatte. Die linke Augenbraue war aufgesprungen. Ein Auge war fast zugeschwollen. Mehrere Blutergüsse fanden sich an Kiefer und Hals. Hand- und Fußgelenke zeigten Spuren von Fesselungen. Das schmutzige Hemd war zerrissen und reichte der Gefangenen kaum über die Hüften. Quetschwunden an den Oberschenkeln zeugten von Missbrauch. Blaue Schwellungen an den durchschimmernden Brüsten ließen erahnen, mit welcher Grobheit der Kerkermeister vorgegangen war.

    Der Nazi-Offizier kannte Rüdiger Rüpke seit sechs Monaten. Der Polizeibeamte verstand sein Handwerk. Er brachte alle zum Reden. Der ehemalige Bauarbeiter hatte eine steile Karriere im Polizeidienst der SS hinter sich. Die Brutalität und Rüpelhaftigkeit seines Wesens waren die perfekten Voraussetzungen für den Einsatz in den Verhörzentren der Gestapo.

    Müllheim starrte seine Gefangene verständnislos an. Bilder aus dem Folterkeller flimmerten vor seinen Augen. Lise an einem Seil hängend, Peitschenhiebe, die ihr Fleisch entblößten, das Brüllen des Folterknechts. Diese Sturheit! Wollte sie wirklich ihr Leben für einige halbwilde Partisanen opfern? Oder wusste sie ganz einfach, dass sie ohnehin sterben würde, weil sie Jüdin war?

    Er zündete sich eine neue Zigarette an. Sein Herzschlag hämmerte. Wenn die Gefangene ihn mit ihren großen, tief in den Höhlen liegenden Augen anschaute, kam er sich vor, als säße er auf der Anklagebank. In dieser Frau verbarg sich eine Kraft, die ihn verunsicherte. Jedes Mal, wenn Rüdiger sie zum Verhör brachte, schien sie erschöpft, ihr Wille gebrochen zu sein. Aber sobald sie vor ihm auf dem Schemel saß und die Lampe ihren geschundenen Körper unbarmherzig zur Schau stellte, richtete sie sich auf, wie ein Grashalm nach dem Regen. Dann wurde das Schweigen zum Gesetz, zu ihrem Gesetz. Sie bestimmte den Ablauf des Verhörs, indem sie es verweigerte. Ihr Schweigen war Macht.

    Die Situation war klar. Nach den Richtlinien des Sicherheitsdienstes wurden Angeklagte, die sich den Verhören widersetzten, nach dreißig Tagen Untersuchungshaft erschossen oder ins KZ überstellt. Warum zögerte er?

    Lise von Lilienthal wandte ihm das Gesicht zu. Müllheim versuchte sich vorzustellen, wie die Frau vor der Gefangennahme ausgesehen hatte. Hinter den Folterspuren verbargen sich ebenmäßige Züge. Die Augenpartie war wohlgeformt. Die sanft geschwungenen Lippen verliehen dem Aussehen eine ausgewogene Schönheit. Er war irritiert und versuchte ihrem Blick standzuhalten. Plötzlich sah er, wie eine kleine Träne aus dem unverletzten Auge kullerte. Ein leichtes Zucken im Gesicht verriet, dass die Frau die Träne bemerkt hatte. Sie senkte den Blick zum Boden, als wäre ihr der Kontrollverlust peinlich.

    Der Deutsche wurde unruhig. Die Gefühlsregung der Partisanin traf ihn unerwartet. Zum ersten Mal zeigte sie einen Anflug von Emotion. War die Träne Vorbote des inneren Zusammenbruchs? War es endlich soweit? Oder war die Träne ein Angriff auf ihn, Taktik?

    Lise hob den Kopf und starrte den Gestapo-Mann mit Verachtung an. Trotzig schleuderte sie ihr Haar nach hinten. Die Kontrolle war zurück. Müllheim zögerte, dann holte er sein Taschentuch hervor, stand auf und begab sich auf die andere Seite des Tischs. Obwohl er wusste, dass er sich auf unsicheres Terrain begab, wischte er der Frau die Träne von der Wange. Dann suchte er in Lises Augen nach einem Zeichen der Anerkennung. Nichts. Sie wandte sich ab. Die Frau war stark. Mit der Träne hatte sie nicht Schwäche gezeigt, sondern seine Demütigung erreicht. Betroffen zog sich Müllheim hinter seinen Schreibtisch zurück.

    „Hören Sie, ich bin nicht Ihr Folterer. Sie können immer noch lebend davonkommen. Aber es steht nicht in meiner Macht, Sie ohne die benötigten Informationen laufen zu lassen. Ich bin kein Unmensch. Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie nicht in den Kerker zurückschicken. Was Rüdiger Rüpke mit Ihnen da unten anstellt, setzt mir mehr zu, als Sie sich vorstellen können. Es widert mich an."

    Was verleitete ihn zu diesen Worten? War es Schwäche? Mitgefühl? Zuneigung?

    Müllheim beugte sich über die Schreibmaschine, strich das Blatt Nummer vierzehn glatt und spannte es ein. Er tippte einen kurzen Text, der besagte, dass die Angeklagte das Verhör verweigert hatte. Den Zwischenfall mit der Träne behielt er für sich. Er legte die Seite zum Verhörprotokoll und schloss die Aktenmappe. Die Frau hatte sich auf ihrem Schemel umgedreht und wandte ihm den Rücken zu. Durch die Risse in ihrem Hemd sah er die roten Striemen der Schläge und Spuren von ausgedrückten Zigaretten an ihrem Rücken. Er schluckte leer, dann griff er zum Telefon.

    „Rüdiger, du kannst sie abholen."

    Als der Kerkermeister erschien, stand Müllheim auf und trat zu ihm. Rüpke hatte die Partisanin bereits am Arm ergriffen und zerrte sie zur Türe.

    „Wir machen Fortschritte, Rüdiger. Ich möchte, dass du bis morgen keine Gewalt anwendest."

    Lise drehte sich um und schaute dem Gestapo-Offizier in die Augen. Ein Anflug von Entspannung lag in ihrem Gesicht. Die Lippen schienen sich öffnen zu wollen, blieben aber stumm.

    ... und so hattest du endlich ein paar Stunden Ruhe. Meine Hände zittern, Lise, wenn ich schreibe, was du im Kerker durchgemacht hast. Dein Schmerz ist auch mein Schmerz, obwohl ich dich nie gekannt habe. Es macht mich stolz zu wissen, dass du so stark bist und ich fühle eine innere Verbundenheit mit deinem Schicksal.

    Meine Tage sind unerträglich gleichförmig. Das Leben in der Klinik zerrt an meinem Verstand. Manchmal glaube ich, dass ich wirklich paranoid bin (was hier übrigens alle meinen). Doktor Fernandez sagt es und Schwester Eufemia manchmal auch, aber nicht immer. Ich sehe Dinge. Ich kriege Schläge. Am Morgen habe ich blaue Flecken, so wie du, liebe Lise. Ich weine viel, wenn ich traurig bin, weil sie mir sagen, dass ich hierbleiben muss. Am liebsten würde ich dich um Rat fragen, weil du eine so starke Frau bist. Als ich das von der Träne aufgeschrieben habe, musste ich so laut heulen, dass ein Pfleger ins Zimmer stürzte und mir eine Spritze gab.

    Eufemia ist mir eine gute Freundin geworden. Sie tröstet mich oft und steht bei Doktor Fernandez für mich ein, wenn er sagt, ich solle mich nicht so anstellen und mich zusammennehmen. Wie soll ich mich denn zusammennehmen, wenn es in meinem Hirn drunter und drüber geht und die Gestapo in meinem Zimmer herumlungert? Schwester Eufemia rät mir, immer an meinem Tagebuch zu schreiben. Das beruhigt mich und ordnet meine Gedanken. So kann ich an dich denken, Lise, und dich auf deinem steinigen Weg begleiten.

    Ich kenne dich ja nur vom Hörensagen, aber mit der Zeit wurde ich so vertraut mit dir, dass ich meine, in dich hineinkriechen zu können. Das glaubt mir natürlich niemand. Stell dir vor, ich kann durch deine Augen sehen. Ich sehe den Gestapo-Offizier vor mir. Ich fühle, als wäre ich es, wenn du ihn anstarrst, ihn verachtest. Als er dir sagte, er sei nicht dein Folterer, schöpfte ich Hoffnung, dass dein Blick und deine Kraft in ihm etwas auslösen würden. Ich wünschte mir, ohne zu wissen warum, ihr beide könntet euch vertragen. Ich glaube, er ist kein schlechter Mensch. Er handelt auf Befehl. Sein Schicksal hängt, wie deines, von äußeren Umständen ab. Ihr seid eine Schicksalsgemeinschaft, Lise, dazu verdammt, euch gegenseitig aus der Hölle der menschlichen Untiefen zu befreien. Dein Leiden muss ein Ende finden.

    Doktor Fernandez hat mich heute beschimpft. Ich solle mir in meinem Tagebuch nicht ein neues Wahnsystem aufbauen. Er wollte meine Medikamentendosen erhöhen. Da habe ich ihn angeschrien. Ich war sehr erregt, habe ihm gesagt, ich wolle stark sein, so wie du (dass ich mich wie in dir drin fühle, habe ich natürlich verschwiegen, ich bin ja nicht dumm). Er sagte, meiner Depression gehe es besser, aber ich müsse vorsichtig sein und die Psychose unter Kontrolle kriegen. Und das habe ich ihm dann versprochen. Du siehst, Lise, auch ich stehe unter enormem Druck. Aber zusammen sind wir stark, nicht wahr? Auch Eufemia hat mir zugestimmt, dass ich es ohne Erhöhung der Medikamentendosis schaffe. Und so bleibt alles beim Alten.

    Wenn nur die Tage nicht so lang wären. Und die Nächte nicht so finster. Sie machen mir Angst, weil ich in meinen Träumen immer wieder im Folterkeller lande. Ich leide dann mit dir und wieder erwache ich mit blauen Flecken. In der vorigen Nacht wurde ich so geschlagen, dass ich, du wirst es nicht glauben, mit einem zugeschwollenen Auge erwachte. So ein Zufall. Sollte mir wirklich das Gleiche widerfahren sein wie dir? Sind wir so innig miteinander verbunden?

    Ich bin nun wirklich gespannt auf den morgigen Tag. Wenn der Kerkermeister sich an die Anweisung des Gestapo-Mannes hält, sollten wir beide ohne neue blaue Flecken erwachen. Ich bete für dich.

    2

    Paris 2010, Seine-Ufer

    „Monsieur?"

    „Ich möchte dieses Buch."

    Der Bouquiniste-Händler blickte mich erstaunt an.

    „Sie möchten wirklich dieses Buch?"

    „Ja, ist es nicht verkäuflich?"

    „Doch, doch, natürlich, nur ..., es hat mich noch nie jemand danach gefragt. Ein merkwürdiger Titel, nicht wahr."

    „Nun, ich sehe nichts Außergewöhnliches daran."

    „Dann müssen Sie sehr gebildet sein, mein Herr. Fünfzehn Euro, bitte."

    „Ist das nicht etwas teuer? Das Buch hat kaum hundert Seiten."

    „Es ist ein Essay. Woher kommen Sie?"

    „Ich bin Spanier, auf Urlaubsreise."

    „Dann gebe ich es Ihnen für zwölf Euro."

    Ich kramte einen Zehnerschein und 2 Euromünzen hervor und kaufte das Buch.

    „Glauben Sie nicht alles, was drinsteht. Ich kenne die Autorin nicht."

    Der Buchhändler schüttelte leicht den Kopf, als er das Geld in seinem Taschengurt verstaute. Ich begab mich auf der anderen Straßenseite in einen kleinen Park und setzte mich auf eine Bank. Dann legte ich das Buch auf meinen Schoss und betrachtete den Titel auf dem Umschlag:

    Guernica, eine unerträgliche Wahrheit.

    Als Student in Literaturgeschichte an der Universität von Salamanca wusste ich einiges mehr über das Thema des Essays als der Buchhändler. Neugierig klappte ich das Schriftwerk auf. Die Autorin hieß Lea Varanda, Kunsthistorikerin, der Verlag Eslibros, Madrid. Als ich weiterblätterte, fiel ein Zettel auf den Boden. Ich hob ihn auf und blickte auf eine handschriftliche Notiz:

    Wer du auch bist, der das liest, wenn du begreifst, werde ich nicht mehr sein. Bete für die weinende Frau.

    Unterschrieben mit: Laura Bascasa.

    Ich las die Notiz mehrmals. Wer schrieb so etwas? Eine Selbstmörderin, eine Depressive? Oder wurde die Frau bedroht? Fürchtete sie um ihr Leben? Und weshalb steckte die Notiz ausgerechnet in einem Buch über die baskische Stadt Guernica, die 1937 von der Legion Condor bei einem koordinierten Angriff der deutschen Luftwaffe dem Erdboden gleichgemacht worden war?

    Beunruhigt eilte ich zurück zum Bücherstand und fasste den Mann am Arm. Er war gerade dabei, seinen Verkaufsladen zu schließen.

    „Hören Sie, von wem haben Sie dieses Buch?"

    Der Bouquiniste blickte mich erstaunt an.

    „Weiß ich doch nicht."

    „Bitte!"

    „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass der Titel merkwürdig ist. Was wollen Sie denn?"

    „Monsieur, im Buch steckt eine Notiz. Ich muss wissen, woher Sie das Buch haben."

    „Es wurde mir per Post zugesandt."

    „Ach ja, aber von wem?"

    „Ich sagte Ihnen doch, ich weiß es nicht. Es stand kein Absender darauf."

    „Und die Briefmarke, der Stempel?"

    „Spanische Briefmarke, der Stempel war verwischt."

    „Sie haben das Buch erhalten, ohne es bestellt zu haben?"

    „So könnte man es sagen. Bitte, mein Herr, ich habe jetzt Feierabend, ich muss meinen Verkaufskasten schließen."

    „Noch eine Frage: Kennen Sie eine Frau Namens Laura Bascasa?"

    „Nein."

    Ich schlenderte über den Pont au Double und setzte mich auf eine Bank im Park der Kathedrale Notre-Dame. Das Buch hielt ich krampfhaft in den Händen. Natürlich musste ich den Essay lesen. Aber ich wollte auch herausfinden, wer Laura Bascasa war. Die Frau schwebte möglicherweise in Lebensgefahr. Allerdings konnte ich nicht verstehen, dass sie ihr Schicksal den Händen eines Bouquinisten überließ, den sie nicht einmal kannte. Seltsam war auch, dass sie nicht wissen konnte, ob das Buch überhaupt gekauft und die Notiz nicht weggeworfen wurde. Wer setzte solche Hilferufe in die Welt? Gab es einen Zusammenhang zwischen Notiz und Buch?

    Ich blickte auf den Umschlag. Ein paar Flecken zeigten, dass das Exemplar nicht neu war. Ich blätterte zum Impressum. Als Erscheinungsdatum war das Jahr 2010 angegeben. Auflage: 1! Nur ein gedrucktes Exemplar? Ein einziges Buch, angeboten durch einen Bouquinisten in Paris, verkauft an einen zufälligen Passanten? Ich stand vor einem Rätsel.

    Ein Gedanke, der mich nicht mehr loslassen sollte, setzte sich in meinem Kopf fest: Dass dieses Buch in meinen Besitz gelangt war, konnte kein Zufall sein. Hätte ich gewusst, wohin mich die Schrift führen würde, ich hätte sie als Zeichen einer höheren Macht gehalten.

    Es gibt Wahrheiten, die unerträglicher sind als andere. Die Wahrheit, über die ich schreibe, ist die unerträglichste, die ich kenne. Deshalb habe ich, Lea Varanda, beschlossen, darüber zu berichten. Die Welt soll wissen, dass die Wahrheit so schrecklich sein kann, dass nur ein Bild auszudrücken vermag, was geschehen ist. Ein Bild ist wie eine Metapher, es kann Gegebenheiten so überhöht darstellen, dass Worte überflüssig werden. Kein

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