Spiegelverkehrt
Von Dietrich Novak
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Buchvorschau
Spiegelverkehrt - Dietrich Novak
Vorwort
Obwohl dieser Roman während der Corona-Krise entstanden ist, habe ich mich dazu entschlossen, dieses Thema nicht in die Handlung einfließen zu lassen. Da ich der Meinung bin, dass die Medien schon in ausreichender Form darüber berichten. Wir leiden alle unter den Folgen, doch ein Roman soll in erster Linie unterhalten und vom Alltag ablenken. Handelt es sich, wie in diesem Fall, um einen Krimi, fließt schon zwangsläufig genug grausame Realität ein, denn die Fantasie eines Autors wird mitunter von den realen Ereignissen übertroffen. Ich bin mir bewusst, dass einige Leser mit meiner Entscheidung nicht einverstanden sein werden, aber wie heißt es so schön? Wer die Wahl hat, hat die Qual. Und eines möchte ich keinesfalls – langweilen. Ich hoffe dennoch, dass die Krise bald überstanden sein wird und in ein paar Jahren nur noch eine schlechte Erinnerung daran zurückbleibt. In diesem Sinne: Bleiben Sie bitte gesund!
Dietrich Novak
im September 2021
Prolog
Im Institut der Rechtsmedizin in der Moabiter Turmstraße lag ein junger Mann auf dem Seziertisch, der ungefähr im gleichen Alter wie der Rechtmediziner Thorben Dahms war. Doch für den Tod spielte das Alter keine Rolle. Und für Mörder auch nicht.
»Was ist, worauf wartest du?«, fragte seine Kollegin, Stella Kern, die gerade dazukam.
»Wie? Ach nichts. Ich dachte nur, er müsste in etwa so alt wie ich sein. Man hat ihn drüben im Kleinen Tiergarten auf einer Bank gefunden. Er ist erstochen worden.«
Stella trat etwas näher heran und sah in das Gesicht des Toten. Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus.
»Um Gottes willen, das ist Ben, der Sohn von Valerie Voss. Weiß sie es schon?«
»Ich glaube nicht. Er ist gerade eben erst hereingekommen und hatte keine Papiere dabei. Du bist die Erste, die ihn zu kennen glaubt.«
Das war weniger verwunderlich, wenn man darüber Kenntnis hatte, dass Stella einmal ein Liebesverhältnis mit der Hauptkommissarin, Valerie Voss, gehabt hatte. Bis Stella eine andere Frau geheiratet hatte.
Stella Kern wählte die Nummer der KTU in Tempelhof. Manfred Hoger war sogleich am Apparat.
»Hallo, Manfred. Hier ist Stella aus der Rechtsmedizin. Sag mal, hatte der Tote aus dem Kleinen Tiergarten irgendwelche persönlichen Dinge wie Schmuck dabei?«
»Kaum, er trug nur eine moderne Armbanduhr. Nichts Wertvolles, aber diese Art ist bei den jungen Leuten sehr beliebt.«
»Ich würde dir gern Valerie vorbeischicken. Das ist besser als wenn sie gleich zu uns kommt. Ich denke nämlich, es könnte ihr Sohn sein.«
»Das wäre ja schrecklich, nachdem sie vor nicht allzu langer Zeit ihren Mann verloren hat.«
»Du sagst es. Also fasse sie bitte mit Glacéhandschuhen an, ja?«
»Was denkst du denn? Dass ich ein Holzklotz bin?«
»Nein, so habe ich es nicht gemeint …«
»Schon gut. Ich tue mein Möglichstes. Vielleicht ist es auch gar nicht Ben. Die Hoffnung besteht ja noch.«
Kapitel 1
Einige Stunden zuvor
Die Grünanlage zwischen Turmstraße und Alt-Moabit lag zu dieser Nachtstunde verlassen da. Alles wirkte friedlich und beschaulich. Tagsüber herrschte dort buntes Treiben. Sportler, die auf dem Rasen ihre Übungen machten oder das Freizeitangebot nutzten. So gab es Tischtennisplatten, Sandkästen, Schaukeln, Rutschen, Klettermöglichkeiten und eine „Rolleracht" für Kinder. Daneben drehten Radfahrer und Mütter mit Kinderwagen ihre Runden, oder Pärchen sowie Einzelpersonen sonnten sich einfach nur auf der Wiese.
Der Kleine Tiergarten, der kleine Bruder des Großen Tiergartens, war im Laufe der Jahrzehnte mehrmals umgestaltet worden, zuletzt 2016. Ziel sollte die Erweiterung bzw. Anpassung der Nutzungsangebote an die heutigen Bedürfnisse der Bevölkerung sein und ein friedliches und angstfreies Miteinander der unterschiedlichen sozialen Gruppen ermöglichen.
Doch es gab auch Kritik seitens der Bevölkerung und einer Bürgerinitiative. Der Park sei keineswegs wie versprochen ein „Park für Alle, sondern zum Straßenbegleitgrün degradiert worden und nur noch ein „trauriger Überrest
der „schönen, sinnreichen" Parkanlage von Willy Alverdes. Durch die Entfernung der dichten Wallbepflanzung an den vielbefahrenen Straßen Alt-Moabit und Turmstraße gäbe es keinen ausreichenden Schutz mehr vor Verkehrsbelastungen. Es wurden 58 Bäume gefällt, unter ihnen auch viele große gesunde Bäume sowie wertvolle Hecken und Sträucher gerodet. Die 17 sogenannten Sitzkiesel aus Beton, die unter anderem als Maßnahme defensiver Architektur gegen die Trinkerszene im Ottopark gedacht sind, wurden als Verunstaltung kritisiert, da die rund 460.000 Euro teuren Objekte zum Sitzen ungeeignet seien, hieß es.
Beppo Steinberger war etwas unsicher auf den Beinen, denn er hatte reichlich Alkohol genossen. Als ihn ein dringendes Bedürfnis plagte, schlug er sich kurzerhand in die Büsche. Nachdem er sein Wasser abgeschlagen hatte, sah er einen jüngeren Mann auf einer Bank sitzen, der sich nicht bewegte.
»Eye, Kumpel, hast du kein Zuhause? Die Nächte sind mitunter sehr kühl, und so dünn, wie du angezogen bist, kannst du dir leicht den Tod holen.«
Als Beppo keine Antwort bekam, ging er näher heran und entdeckte, dass das Hemd des Mannes blutdurchtränkt war und er nicht mehr atmete.
»Ach so, wie ich sehe, hast du ihn schon gefunden, den Tod.«
Beppo zückte sein Handy und rief die Polizei. Nach einer knappen halben Stunde kam aber kein Funkwagen, sondern es kamen zwei Männer in Zivil, die sich als Kripobeamten herausstellten. Im Schlepptau hatten sie die KTU und die Rechtmedizin, die gleich schräg gegenüber im ehemaligen Krankenhaus Moabit ihr Domizil hatte.
»Ich bin Hauptkommissar Tim Lauber«, stellte sich ein blonder Hüne mit Undercut-Frisur vor, »und das ist mein Kollege, Kommissar Lex Haubold. Sie haben also den Toten gefunden?«
»Ja, ich musste mal pinkeln, und dann sah ich ihn da sitzen.«
»Können Sie sich ausweisen?«
»Natürlich, bitte!«
»Gut, Herr Steinberger. War es nicht so, dass Sie vorher schon gemeinsam gezecht hatten? Ihre Alkoholfahne spricht dafür.«
»Nein, ich kenne den Mann überhaupt nicht und habe ihn nie zuvor gesehen.«
»Man kann auch mit einem Fremden in Streit geraten. Was haben Sie mit der Tatwaffe gemacht? Sie irgendwohin geworfen?«
»Nein, ich habe ihn nicht umgebracht. Er war schon tot, als ich ankam.«
»Dann kommen Sie doch bitte heute Vormittag ins Präsidium in die Keithstraße, um ihre Fingerabdrücke und DNA zu hinterlegen. Wir werden bei der Gelegenheit ein Protokoll Ihrer Aussage aufnehmen.«
»Bitte, wenn Sie Ihre Zeit mit einem unbeteiligten Zeugen verschwenden wollen …«
»Ja, das sehen wir dann. Sollten Sie es sich anders überlegen und nicht erscheinen, werden wir Sie von zwei Polizisten vorführen lassen. Ihre Adresse haben wir ja jetzt.«
»Schon gut, ich komme. Das hat man nun davon. Ich hätte ihn auch da sitzen lassen können und gar nichts tun.«
»Nein, Sie haben ganz richtig gehandelt. Aber es ist leider nun mal so, dass der Erste am Tatort der Hauptverdächtige ist.«
»Schöne Scheiße. Dann bis später!«
Lex Haubold unterhielt sich derweil mit Manfred Hoger von der KTU, der seine Kollegen, Sascha Helm und René Temme dabei hatte.
»Könnt ihr schon sagen, um wen es sich handelt?«
»Nein, der Tote hat keine Papiere dabei, aus denen seine Identität hervorgeht«, sagte Manfred. »Auch kein Handy. Da hat jemand gründliche Arbeit geleistet.«
»Okay. Sobald wir die DNA dieses Steinberger haben, sollten wir dringend einen Abgleich machen.«
»Du glaubst, der Finder ist auch der Täter? Warum hätte er dann die Kripo rufen sollen?«
»Weil vielleicht in seinem besoffenen Kopf einiges durcheinandergeht. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass derjenige, der vorgibt, ihn gefunden zu haben, auch der Täter ist. Wenn ihr die Tatwaffe oder prägnante Fußabdrücke findet, gebt uns bitte gleich Bescheid.«
»Selbstverständlich.«
»Prima, dann mal hören, was die Rechtmedizin meint.«
Lex ging zu Tim Lauber hinüber, der gerade Gunter Rudolph und Thorben Dahms befragte.
»Todeszeitpunkt vor etwa einer Stunde«, sagte Gunter. »Todesursache ein Stich direkt ins Herz mit einer dolchähnlichen Waffe. Der Mann dürfte Anfang bis Mitte zwanzig sein und weist sonst keine sichtbaren Verletzungen auf. Alles Weitere dann in unserem Bericht.«
»Den wir hoffentlich so schnell wie möglich vorliegen haben werden.«
»Ja, ja, Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger.«
Als Haubold und Lauber gegangen waren, sah Thorben Gunter an.
»Das ist ein ganz Scharfer, was?«, fragte er.
»Halb so wild. Die Herren darf man nicht so ernst nehmen. Knud Habich war mir ein guter Lehrmeister.«
»Hast du die Armbanduhr am Handgelenk des Toten gesehen? So eine hatte ich auch mal. Nur in einer anderen Farbe. Scheinbar war es kein Raubmord.«
»Über die Brücke gehe ich noch nicht. Immerhin fehlt das Handy. Und die Uhr, entschuldige, wenn ich das sage, ist nur Massenware. Nicht besonders wertvoll.«
»Ich weiß, für eine Rolex hat mein spärliches Gehalt nicht gereicht.«
Hauptkommissarin Valerie Voss saß mit ihrem Kollegen und derzeitigen Liebhaber, Konstantin Bremer, am Frühstückstisch, als das Telefon läutete.
»Hallo, Valerie, hier spricht Manfred.«
»Ja, guten Morgen. So früh schon? Was gibt es denn so Dringendes?«
»Kannst du bei uns mal vorbeikommen? Ich würde dir gern etwas zeigen.«
»Kein Problem. Vor oder nach dem Frühstück?«
»Überschlag dich nicht. Aber vielleicht, bevor du ins Präsidium fährst.«
»Alles klar. Dann bis später!«
Konstantin sah Valerie fragend an.
»Manfred macht es geheimnisvoll«, sagte sie. »So kenne ich ihn gar nicht. Normalerweise ist er immer ziemlich gerade aus.«
»Solange er nicht die Hose vor dir aufmacht …«
»Also, ich muss doch sehr bitten, Herr Bremer. Nicht alle sind so schwanzgesteuert wie du.«
»Apropos. Wollte unsere Heike nicht mit uns frühstücken?«
»Nenn Heiko bitte nicht so. Du weißt, dass er dann gleich hochgeht wie eine Rakete. Aber nein, seitdem sein Arne öfter bei ihm übernachtet, werden sie wohl im Bett frühstücken. Ich bin ganz froh, wenn wir mal für uns sind.«
»Scheint was Ernstes mit den beiden zu sein. Hätte ich nie für möglich gehalten. Aber wo die Liebe hinfällt.«
Heiko Wieland, seines Zeichens Kommissar in derselben Abteilung wie Valerie und Konstantin, wohnte oben im Haus von Valerie. Da hatte er eine ganze Etage für sich, ausgenommen ein Gästezimmer, das Valerie