Thalia: Hinter der Maske
Von Dietrich Novak
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Buchvorschau
Thalia - Dietrich Novak
Prolog
Die heruntergelassene Jalousie ließ nur wenige Lichtpunkte der eingeschalteten Straßenbeleuchtung in das abgedunkelte Zimmer. Draußen hörte man hin und wieder vereinzelt einen Pkw oder das Aufheulen des Motors eines Motorrades, aber die Seitenstraße wies keinen anhaltenden Verkehrslärm auf, wie es in der benachbarten Durchgangsstraße der Fall war.
Auch vom Gang her ertönte kein Geräusch. Die anderen mussten sich in ihre Zimmer zurückgezogen haben oder ausnahmsweise einmal leisere, intimere Gespräche führen. Denn normalerweise hörte man bis in die frühen Nachtstunden Stimmen und fröhliches Gelächter aus dem Gemeinschaftsraum, in dem auch gefrühstückt wurde.
Es herrschten also in dieser Nacht die idealen Bedingungen für einen erholsamen Schlaf, doch der junge Mann fand trotzdem keine Ruhe. Als das Schlafmittel endlich Wirkung zeigte, wurde er von schweren Träumen geplagt. Er warf sich unruhig hin und her, als spüre er instinktiv die Gefahr, in der er sich befand. Schließlich blieb er schweißnass mit offenem Mund auf dem Rücken liegen. Im Halbschlaf war ihm, als hätte sich die Tür zu seinem Zimmer geöffnet und es hätte sich jemand hereingeschlichen. Woher kam nur das Sirren in seinem Kopf? Als würde ein elektronischer Ton den Raum ausfüllen, der mit seiner Frequenz dem menschlichen Ohr wehtat.
Dann spürte er einen heftigen Schmerz im Mund, und es ging alles sehr schnell. Er hatte heftige Atemnot und das Gefühl, als befände sich ein Fremdkörper in seiner Mundhöhle. Einer, der sich ständig vergrößerte, bis er den gesamten Mund ausfüllte und ihn keine Luft mehr bekommen ließ. In seiner Panik schlug er wild um sich, war aber nicht in der Lage zu schreien. Im Todeskampf verkrampften sich seine Hände im Laken. Bis er schließlich aufgab. Sein Körper erschlaffte, und jegliches Leben war aus ihm gewichen.
1. Kapitel
Die Hauptkommissare Valerie Voss und Hinnerk Lange, die bereits zum zweiten Mal miteinander verheiratet waren und bereits einen gemeinsamen erwachsenen Sohn hatten, bekamen überraschend Besuch von ihrem Sprössling. Ben lebte seit Kurzem mit seiner Freundin, Lena, zusammen. Lena war als Junge zur Welt gekommen, hatte aber ihren Körper nie akzeptieren können. Mittlerweile war sie nach mehreren geschlechtsanpassenden Operationen von einer Frau nicht zu unterscheiden. Anfangs hatten sich beide erst zusammenraufen müssen, denn die Erkenntnis über Lenas Vergangenheit hatte Ben wie ein Schlag getroffen. Doch er war viel zu verliebt, um diese Traumfrau gehen zu lassen, und klärende Gespräche mit ihm nahestehenden Personen hatten seinen inneren Widerstand schließlich dahinschmelzen lassen. Sie hatten alle ganz Recht, wenn sie meinten, es käme nur auf den Mensch an und nicht auf das Geschlecht mit dem er geboren worden war.
Das Ehepaar Voss/Lange war schon von Berufswegen toleranter. Außerdem begriff sich Valerie nicht als ausgesprochene Hetera. Es konnte durchaus vorkommen, dass sie sich mitunter in eine Frau verliebte, wie unlängst in die schöne Rechtsmedizinerin Stella Kern und zuvor in deren Vorgängerin, Tina Ruhland. Tina war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und Stella war im Begriff, eine andere Frau zu heiraten, und wollte künftig mit Valerie nur noch freundschaftlich verkehren. Damit hatte eine vielversprechende Affäre ihr Ende gefunden.
Hinnerk nahm die gleichgeschlechtlichen Seitensprünge seiner Frau gelassen hin. Solange es sich „nur" um eine Frau handelte … Wie er reagieren würde, wenn er in Konkurrenz zu einem Mann treten müsste, blieb dahingestellt. Bisher war dieser Fall zum Glück noch nicht eingetreten.
Bezüglich ihrer künftigen Schwiegertochter waren die Meinungen ambivalent. Im Gegensatz zu Hinnerk, der damit keine Probleme hatte, war Valerie nicht gerade begeistert. Nicht dass sie etwas gegen Transmenschen hatte … Sie mochte Lena und konnte Ben gut verstehen … Sie machte sich nur Sorgen, ob Ben auf Dauer mit den Umständen zurechtkommen würde. Vielleicht trauerte sie auch ein wenig der Chance nach, einmal Großmutter zu werden. Denn ein angenommenes Kind würde nicht die berühmten Voss/Lange-Gene aufweisen, sondern gänzlich fremde. Überlegungen, die sie weitgehend für sich behielt. Wie gesagt, sie mochte Lena sehr und fand sie ganz entzückend.
»Ich bringe euch Freikarten für die Premiere«, sagte Ben, nachdem sich alle mit Küsschen begrüßt hatten.
»Danke, meinte Hinnerk. »Hast du auch an deine beiden Omas gedacht? Ich glaube nicht, dass sie sich entgehen lassen, ihren Enkel auf der Bühne zu bewundern.«
Ben hatte nämlich zwei Omas, und zwar mütterlicherseits. Denn Valerie war als Säugling von Karen und ihrem Mann Christoph adoptiert worden, nachdem man damals der minderjährigen Tyra in Malmö gegen ihren Willen das Baby weggenommen hatte. In Schweden hatten sich Mutter und Tochter erst vor nicht allzu langer Zeit wiedergefunden, was Karen gelegentlich zu Anfällen von Eifersucht veranlasste.
»Papa, wir haben nur ein begrenztes Kontingent an Freikarten, und da Karen und Tyra nicht gerade am Hungertuch nagen …«
»Schon gut, schon gut. Dann werden wir ihnen die Karten schenken.«
»Blödsinn, Herbert wird sich nicht nehmen lassen, die Karten selbst zu kaufen«, sagte Valerie.
Herbert Schindler war der zweite Mann von Karen, den sie nach einigem Zögern nach Christophs Tod geheiratet hatte. Alle mochten den feinsinnigen, älteren Mann, der Karen förmlich auf Händen trug.
»Wenn deine Großeltern in die Vorstellung kommen, solltest du sie vielleicht vorwarnen«, meinte Lena.
»Olle Petze. Jetzt hast du die ganze Überraschung verdorben«, maulte Ben.
»Moment mal, habe ich etwas nicht mitbekommen?«, fragte Valerie. »Um was für eine Überraschung handelt es sich dabei, und warum müssen die alten Herrschaften vorgewarnt werden? Du hast aber nicht zufällig die Absicht, auf offener Bühne zu kopulieren?«
»Das nicht gerade. Aber er wird in einer Szene völlig nackt sein«, sagte Lena.
»Ohne geht es ja heutzutage im Theater kaum noch«, meinte Hinnerk. »Wenn’s weiter nichts ist.«
»Du sprichst große Worte gelassen aus. Ich glaube nicht, dass mir gefällt, wenn mein Sohn allen seinen Schniedel zeigt«, insistierte Valerie. »Auch wenn er außerordentlich gut bestückt ist.«
»Woher weißt du? Wann hast du deinen Sohn zuletzt nackt gesehen?«, hakte Hinnerk nach.
»Als er nach seinem WG-Auszug vorüber-gehend wieder bei uns gewohnt hat. Und unter Hemmungen hat er noch nie gelitten. Jedenfalls, was das Nacktsein betrifft.«
»Ihr könnt euch wieder abregen. Ich werde nicht damit herumwedeln. Es ist auch keine Sexszene. Die Dramaturgie erfordert einfach in jenem Moment Hüllenlosigkeit.«
»Na, wenn die Dramaturgie es erfordert … Das scheint ja jetzt dein Thema zu sein, nachdem du dich entschlossen hast, Film- und Theaterwissenschaft zu studieren«, sagte Valerie. »Woher dieser Sinneswandel kommt, habe ich immer noch nicht begriffen. Wo einst Psychologie oder Geschichte im Gespräch waren.«
»Ich habe schnell gemerkt, dass mich die Geisteswissenschaften besonders interessieren. Vor allem aber die Film- und Theaterwissenschaft. Du weißt ja, wie gerne ich Filme gucke, und jetzt sind auch die Theaterstücke hinzugekommen. Jedenfalls habe ich mich für einen Kombi Bachelor Studiengang entschieden. Der beinhaltet Filmanalyse, Film- und Theatergeschichte, Gegenwartstheater, Theorie und Ästhetik.«
»Und wie lange wird das Studium dauern?«, wollte Valerie wissen.
»Die Regelstudienzeit beträgt vier Semester. Es gibt eine Grundlagenphase, eine Aufbau- und eine Vertiefungsphase. Danach erfolgt die Bachelorarbeit.«
»Und welchen Beruf kannst du anschließend ergreifen?«, fragte Hinnerk.
»Ich kann am Theater, an der Oper, beim Film, Fernsehen oder Rundfunk arbeiten. Aber auch in Bibliotheken, Archiven, Kunstvereinen oder anderen kulturellen Einrichtungen wie Verlagen und in der öffentlichen oder privaten Verwaltung. Ich könnte zum Beispiel Dramaturg, Redakteur, Lektor, Regisseur, Produzent oder freier Publizist werden. Sogar Intendant von Festspielhäusern. Aber zunächst will ich lieber kleine Brötchen backen.«
»Aber dass man als Hospitant selber mitspielt, ist wohl eher die Ausnahme, oder?«, fragte Valerie.
»Natürlich, das geht auch nur bei freien Theatergruppen, wie ich sie jetzt gefunden habe. Und auch nur, weil jemand ausgefallen ist und ich seinem Typ zufällig sehr nahe komme. Ein weiterer Glückumstand ist, dass es sich fast um eine stumme Rolle handelt, bis auf ein, zwei Sätze.«
»Also bessere Statisterie. Dann wird es wohl vorerst nichts mit der großen Schauspielkarriere«, witzelte Hinnerk.
»Es war nie meine Intension, Schauspieler zu werden …«
»Und dir macht es nichts aus, dass dein Freund sich im Adamskostüm präsentiert, Lena?«
»Äh, nö. Es ist ja sein Körper. Kussszenen würde ich heikler finden.«
»Schatz, das wären allenfalls Filmküsse.«
»Demnach kommt so eine Szene vor?«
»Nein, bisher jedenfalls nicht. Süß bist du, wenn du eifersüchtig bist.«
Einige Zeit zuvor
Cosima Deter und Myron Bick waren in ihrem angeheiterten Zustand bester Laune. Auf dem Weg zu ihren Zimmern kamen sie an der Tür von ihrem Kollegen, Janto Fehr vorbei. Ehe Myron sich versah, klopfte Cosima an Jantos Tür.
»Hallo, schläfst du schon? Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da«, kicherte Cosima und strich sich eine dunkle Locke aus