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Solange das Herz noch schlägt - Ein Schweden-Krimi
Solange das Herz noch schlägt - Ein Schweden-Krimi
Solange das Herz noch schlägt - Ein Schweden-Krimi
eBook426 Seiten6 Stunden

Solange das Herz noch schlägt - Ein Schweden-Krimi

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Über dieses E-Book

Mörderische Spannung aus Schweden: Der erste Fall für Siv DahlinMit einem Mal verliert Siv Dahlin alles: ihre Ehe, ihr Zuhause, ihren Arbeitsplatz. Also verlässt sie ihre Heimat Göteborg, um im dünnbesiedelten Norden Schwedens ein neues Leben anzufangen. Doch bald ist sie von beängstigenden Ereignissen umgeben. An ihrem neuen Arbeitsplatz geschieht ein Mord. Durch Zufall macht sie sich auf die Jagd nach dem Mörder und gerät dadurch selbst in Lebensgefahr...Im Jahr 2000 gewann "Solange das Herz noch schlägt" den schwedischen Krimipreis.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum11. Nov. 2019
ISBN9788726344189
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    Buchvorschau

    Solange das Herz noch schlägt - Ein Schweden-Krimi - Aino Trosell

    www.egmont.com

    Als es erst mal so weit war, ging es schnell.

    Sie hatten es beide lange gespürt – dass etwas passieren würde. Aber sie hatten aufgehört, darüber zu reden. Es hatte ja doch keinen Zweck, sie wollten die Angst nicht noch schüren. Er versuchte ruhig zu bleiben, ihr gegenüber.

    Aber sie kannte ihn viel zu gut, durchschaute ihn.

    Doch auch sie zeigte ihm keine Gefühle, nicht, was das hier betraf.

    Sie liebten sich heftig, jede Nacht. Sie klammerten sich aneinander fest, als sei diese Nacht die letzte, griffen hungrig und unsanft nach dem anderen, als könnten sie nicht genug bekommen.

    Aber sie sagten nichts. Sie hatten aufgehört, darüber zu reden. Ihre Körper verrieten sie dennoch. Sie keuchten vor Anstrengung und Erregung. Und noch aus einem anderen Grund.

    Ihre Körper wussten von ihrer Verzweiflung. Ihre Körper weinten vor Ohnmacht und sprachen weiter, jenseits aller Worte.

    Sie wussten, dass niemand sie schützen konnte. Und dass auch nicht an Flucht zu denken war, sie mussten ihren Auftrag zu Ende bringen, mussten ihre Arbeit erledigen.

    Die Disketten und die kürzlich gebrannten CDs lagen in einem Bankschließfach. Aber für sie beide gab es kein Bankschließfach. Es war, als tasteten sie sich durch einen dunklen, öden Wald. Im kalten Neonlicht der Redaktion und im Licht der Schaufenster auf der Straße trafen sich zuweilen ihre Blicke, und darin lag Liebe.

    Und Wehmut.

    Dann sahen sie rasch weg.

    Als es so weit war, ging es schnell. Als sie dran waren.

    Der Himmel war klar an diesem Morgen, es war Winter, an einem kalten sonnigen Tag traten sie aus der Haustür, ihre Schritte wurden leichter, sie lächelten einander zu. Es war noch kein Schnee gefallen, aber von den Büschen und Bäumen der Hauptstadt des Landes glitzerten ihnen Frostkristalle entgegen. Und der Alltag war da, sie mussten zur Arbeit wie tausende andere. Ein Rentner führte seinen langhaarigen Pudel aus. Der Hund hatte unter den Büschen an der Hauswand eine Menge zu tun.

    Sie waren spät dran. Nur noch wenige Autos standen auf dem Parkplatz. Sie ging etwas schneller und öffnete ihre Handtasche, in der die Autoschlüssel lagen.

    Die Zeit wurde langsamer. Die Zeit verhielt den Schritt. Aber sie merkte es nicht.

    Es war wie eine Vorahnung, als striche ihm der Flügel irgendeines Wesens über die Augen, und er wollte sie stoppen. Die Angst schlug wie ein Pfahl in ihn ein, ließ ihn erstarren, und er rief ihren Namen in Richtung des Schmuckbandes auf ihrem Mantelrücken, er wollte sie daran packen und sie zum Stehen bringen.

    Sie setzte eilig ihren Weg fort, wollte vor ihm am Wagen sein, damit er nicht warten musste. Doch sie hörte seinen Ruf.

    Und drehte sich um, im Mundwinkel noch ein Lächeln. Fischte zugleich den Schlüsselbund aus der Tasche.

    Und dann fasste sie nach dem Türgriff.

    Und da detonierte die Bombe!

    Den drei untersten Etagen des Hauses drückte es die Scheiben ein. Ihr Leib wurde aufgerissen, die Hauptschlagader zerfetzt, und sie starb augenblicklich.

    Er lebte noch, als der Rettungswagen kam. Starb erst am Abend.

    In der Zeitung konnten alle lesen, wofür die beiden bezahlt hatten. Ja, was es gekostet hatte.

    Sie hatten den Preis gekannt. Hatten diese brutale Bezahlung einkalkuliert.

    Die Inflation war in vollem Gange.

    Nicht mehr viele waren bereit, zu solchen Preisen zu agieren.

    ERSTER TEIL

    Damals erschienen sie mir einfach nur schön – Braut und Bräutigam, wie sie auf den Bildern der Familienanzeigen prangten. Zu jener Zeit dachte ich nicht weiter darüber nach, gab den glücklichen Menschen ein Lächeln zurück und liebte es, ihre Aufmachung zu bewundern und ein bisschen über sie zu fantasieren, mir auszumalen, wer sie waren und warum gerade die zwei zusammengekommen waren. Und jene zwei. Und diese dort. Im Text darunter konnte man ihre Namen und zuweilen die der Eltern lesen. Ab und zu standen da auch die Namen der Trauzeugen, manchmal auch, wer bei der Trauung gesungen hatte, und in seltenen Fällen war der Name des Toastmasters angegeben, und dann war klar, dass es sich um eine große Hochzeit gehandelt hatte.

    Aber eigentlich sind alle Hochzeiten ein Riesenereignis im Leben.

    Zu jener Zeit studierte ich auch gern Verlobungsanzeigen, die Bekanntgabe des Hochzeitsaufgebots, Geburtsanzeigen und vor allem Todesanzeigen, wie schrecklich man das auch finden mag. Aber ich dachte nicht weiter darüber nach. Ich las auch nie irgendwelche Bücher. Eine Todesanzeige jedoch konnte für mich dieselbe Funktion haben wie ein ganzer Roman. Man erfuhr, wie alt der Tote geworden war, wer ihm nahe gestanden hatte, manchmal auch, zu welchem Glauben er sich bekannt hatte, und anhand des Textes konnte man sich eine Vorstellung von der Persönlichkeit des Toten machen und davon, auf welcher Gesellschaftsstufe er sich ungefähr befunden hatte zu dem Zeitpunkt, als er geholt worden war – ohne auch nur ein Hemd mitnehmen zu können.

    So ist das Finale des Lebens, man kann nichts mitnehmen, und selten wird man im Voraus gewarnt. Eines Tages heißt es einfach aufzubrechen.

    Sehr gern sah ich mir die Heiratsannoncen an. Ich reflektierte sie nicht, ich ließ sie nur auf mich wirken. Die Bilder und die Namen, von Nahestehenden und Verbundenen, die erwartungsvollen Blicke, das Lächeln auf diesen Fotos, die vor der ganzen Welt enthüllten, wie groß die Hoffnung auf lebenslange Liebe und unauflösliche Verbindungen zwischen Familien und Generationen war. Auf mich wirkten die Menschen auf den Bildern stark und unüberwindbar, sie befanden sich auf dem Höhepunkt ihrer Jugend, waren glücklich und optimistisch. Nichts konnte ihre Freude trüben.

    Damals wusste ich noch nichts über die existentielle Gefährdung des Menschen, nichts darüber, wie ausgeliefert er ist. Wie er sich preisgibt und glaubt und hofft, dass alle und alles auf die beste Weise zusammenwirken.

    Dann waren da die Geburtsanzeigen! Wo außer den Namen der Eltern zuweilen auch die der Geschwister und die der älteren Generation genannt wurden. Alle waren so froh gestimmt. Klein-Karl war zur Welt gekommen, nur einundfünfzig Zentimeter lang, allem Anschein nach kerngesund, und er hatte bereits eine große Schwester, die Emma hieß. Welche Wonne!

    Ich war so unwissend zu jener Zeit. Blätterte zerstreut in der Morgenzeitung, während ich darauf wartete, dass der Kaffee fertig wurde.

    Jan gefiel diese Sache nicht, er fand, ich sollte die wichtigen Dinge verfolgen, meinte sogar, es sei meine Pflicht. Aber zu dieser frühen Morgenstunde schlief er meist noch, ins Büro ging man ja erst später, und deshalb war ich allein mit den Brautpaaren und konnte mich ungestört meinen Fantasien hingeben.

    Manchmal dachte ich an unsere eigene Hochzeit vor vierundzwanzig Jahren. Wie jung und dumm man damals gewesen war. Heute war man nur noch dumm. Hässlicher, aber genauso dumm. Die Fantasie allerdings trieb immer üppigere Blüten.

    Dort in der Frühe am Küchentisch schrieb ich meine eigenen Romane, genauso wie ich sie mir wünschte, mit viel Liebe, Sehnsucht und Hindernissen, einer Prise Erotik und einem zehn Kilo leichteren Ich. In den Vorstellungen dieser zeitigen Stunden gab es keine Speckwülste, keine Reiterhosen, keine schlaffe oder gar Orangenhaut, keine Krähenfüße oder blaue Schenkelmarmorierung. In der morgendlichen Geborgenheit der Familienanzeigen hat die Hauptperson, also ich, im Lotto gewonnen und für das Geld eine zweimonatige Schönheitskur in irgendeinem Spa absolviert, und im Gedränge eines Busses oder einer Straßenbahn sieht sie zum ersten Mal den Mann, den sie liebt, – er ist Jan erstaunlich ähnlich, obwohl, was die Figur angeht, deutlich dünner, mit mehr Haaren auf dem Kopf und kleineren Tränensäcken unter den Augen.

    Wie unschuldig all das war. Ich verglich mich nicht mit diesen Leuten, ich bin ohnehin nie sonderlich neidisch gewesen. Jan und ich hatten standesamtlich und unter größter Geheimhaltung geheiratet, denn ich war damals schon ziemlich weit mit Åsa, und Jans Familie war wohl nicht sehr erfreut. Meine eigene Familie lag bereits im Pflegeheim, und ein paar Jahre später starb meine Mutter, ohne mir gesagt zu haben, wer mein Vater war. Oder ist. Sie wurde senil, und dann starb sie. Man kann sich für diese Senilität auch entscheiden, jedenfalls glaube ich das. Sie hat mich um meinen Papa geprellt.

    Trotzdem ist schließlich was aus mir geworden. Und Åsa war neunundvierzig Zentimeter lang, als sie geboren wurde. Wog drei Komma zwei Kilo. Willkommen liebste Åsa! Siv und Jan Dahlin. Wir hatten in der Zwischenzeit ja geheiratet. Ich erwog, geb. Johansson zu schreiben, ließ es dann aber. Ich hatte keine Vorfahren in Göteborg, und selbst wenn es so gewesen wäre, hätte es deren Nachkommen wohl kaum interessiert.

    Unser Leben war gut verlaufen. Mühen und Plagen gab es natürlich, aber am Ende wurde alles gut. Åsa war jetzt bereits aus dem Haus und mit Lars verlobt, einem soliden Techniker beim Lokalradio in Jönköping. Sie würde nur ein paar Jahre in der Pflege arbeiten, um die finanzielle Lage zu stabilisieren, und dann mit dem Studium beginnen.

    Ich war zufrieden. Wir waren zufrieden. Jan schnarchte im Bett vor sich hin, draußen klatschte der kohlschwarze, nasse und windige Göteborg-Winter gegen die Scheiben, und drinnen, hinter dem Küchenfenster eines Mietshauses, brannte zu dieser frühen Morgenstunde Licht, und dort saß ich und nippte vorsichtig am heißen Kaffee, träumte vor mich hin und las Begräbnispoesie und alles Gute meinem geliebten Mann zum Vierzigsten!, ja auch Geburtstagsgratulationen lieferten Stoff für Fantasien. Es war nicht mehr lange bis zu Jans Ehrentag, und ich hatte einen Plan. Er schlief dort drinnen den Schlaf des Gerechten. Ich lächelte still vor mich hin, wenn er nur wüsste.

    Zu dieser frühen Stunde war in dem ganzen großen Mietshaus vielleicht nur mein Fenster erleuchtet, kein Rauschen war in den Wasserleitungen zu hören. Heutzutage war es morgens immer völlig still, und das lag nicht etwa daran, dass die Leute aufgrund verschiedener Beförderungen später zur Arbeit gingen.

    Die Geburtsanzeigen streckten einem die zarten Babys entgegen und forderten dazu auf, sich mitzufreuen, die Hochzeitsfotos mit all ihrem Lachen, dem Strahlen und den Küssen luden die Leser zu diesem Riesenglück ein, und in den Todesanzeigen schließlich erklang ein gedämpfter trauriger Orgelton, nachdem Alvar Nilsson, geb. 1924, von uns gegangen war, Ehefrau Hedvig zurücklassend sowie Tochter Solveig nebst Gatten Knut, Tochter Sylva nebst Gatten Esbjörn, Tochter Susanne nebst Gatten Bengt und Tochter Siv (guck an, sie heißt genau wie ich!), Letztere anscheinend unverheiratet. Also Enkelin. Aber keine Urenkel, noch nicht. Vier Töchter. Das war bestimmt lustig. Vielleicht war es aber auch die reinste Hölle. Aber bei vier Mädchen musste doch eine dabei gewesen sein, mit der man sich gut verstanden hat, und es war doch bestimmt das reinste Vergnügen, sich später, im Erwachsenenalter wieder zu treffen, oder? Außer direkt nach dem Tod des Vaters, natürlich.

    Ich war neidisch auf Leute mit Geschwistern, obwohl ich kein neidischer Typ bin. Dafür hast du meine ungeteilte Aufmerksamkeit, hatte Mama gesagt. Ja, denkste! Ungeteilte Aufmerksamkeit, klar, aber nicht von der wärmeren Sorte. Später allerdings fiel es mir leichter, über ihre Kälte hinwegzusehen. Sie hatte schließlich eine Menge um die Ohren. Allein erziehende Mutter, gerade aus der Provinz im Norden in die große Stadt gezogen. Arbeit, Arbeit und ein ständig schlechtes Gewissen meinetwegen. Das Einfachste war es natürlich, sich zu verhärten. Sonst hätte sie sich bestimmt totgeheult, wo ich doch zwischen den verschiedensten Tagesmüttern herumgereicht wurde, bei denen eins auf alle Fälle klar war: Sie betreuten mich nicht um meinetwillen, nicht weil sie mich gern hatten. Sondern um es sich leisten zu können, bei den eigenen Kindern zu Hause zu bleiben. Ich spürte das. Mama spürte es auch. Kannst du nicht auch Tagesmutter werden, bat ich, aber sie sagte, dazu müsse man verheiratet sein. Es sei so schlecht bezahlt, dass sie uns nicht versorgen könnte, und man dürfe ja auch nicht beliebig viele Kinder nehmen. Außerdem wäre das barbarisch.

    Das war damals, bevor man die kommunale Kinderbetreuung ausgebaut hat. Ich war eine Art Pionierin des Weggegebenwerdens. Heute ist das sicher anders. Anders und besser, dachte ich.

    Ich hatte keine Ahnung. Saß da und dachte private Gedanken und las Familienanzeigen. Mein Mann lag noch im Bett und schlief, und ich konnte schon das Tempo des bevorstehenden Tages im Rückenmark spüren. In zwölf Minuten musste ich unten an der Straße stehen, um auf den Bus zu warten, dann würde ich am Bahnhof in die Straßenbahn umsteigen und acht Minuten vor sieben wie gewöhnlich in den Wohnbereich stiefeln. Bereits das erste sekundenrasche Geruchserlebnis würde mich umfassend darüber informieren, wie es um unsere fünfunddreißig Alten stand, an diesem leicht nasskalten, unauffälligen Morgen, von denen es so viele gab.

    Ich bin die Fliege an der Wand, das Muster der Tapete, bin jemand, den man kaum bemerkt, und obwohl ich mich selber für viel zu voluminös halte, kann ich mitten im Geschehen stehen, ohne dass man sonderlich Notiz von mir nimmt.

    Als sich die damalige Leiterin nach einem halben Jahr noch immer nicht an meinen Namen erinnerte, begriff ich – die Fliege an der Wand, das bin ich. Vorsicht vor der Tapete, denn dort sitze ich.

    Meine Gedanken sind oft so skandalös, dass ich das Gefühl habe, sie füllen das ganze Zimmer aus und rauben den anderen jede Energie, doch dem ist nicht so. Ich rede nicht sehr viel. Auch mein Aussehen ist nicht besonders. Ich nehme bloß einen bescheidenen Platz ein und existiere eigentlich nur dem Prinzip nach. Aber ich habe in dieser Eigenschaft nie etwas Positives gesehen, wirklich nicht. Ich will präsent sein, will gesehen werden, will Aufmerksamkeit und Bestätigung, ich habe dieselben Bedürfnisse wie alle anderen, genau wie die Promis im Fernsehen. Hingegen hatte ich nie den Wunsch, mich selbst hervorzuheben. Vielleicht hält man mich für dumm. Wenn dem so ist, dann ist es von mir so gewollt. Schon in der Schule habe ich mir alle Mühe gegeben, nicht allzu gescheit zu wirken, ich war verliebt in einen hübschen, aber nicht sonderlich begabten Jungen, und es kam darauf an, ihm den Vortritt zu lassen, nur dann gab es überhaupt eine Chance für mich. Dennoch schien er der Sache nicht richtig zu trauen, argwöhnisch registrierte er meine bescheidenen Fortschritte, und meine Liebe wurde nie erwidert. Erst als ich als Erwachsene Jan begegnet war, hatte ich es gewagt, mich zu der Person zu bekennen, die ich bin.

    Aber ich blieb unsichtbar. Auch meine Tätigkeiten blieben unsichtbar. Sie wurden nur im negativen Fall bemerkt. Wenn nicht geputzt worden war. Wenn das Essen nicht auf dem Tisch stand. Wenn der Bus nicht rechtzeitig gekommen war. Ich bin eine solche Frau. Wie auch immer sie heißen mag.

    An diesem letzten Morgen, bevor alles anders wurde, ging es in dem Laden hoch her. Helga stand völlig neben sich. In einem Horrorfilm hätte sie eine ausgezeichnete Statistin abgegeben, ihr Aussehen konnte einen das Gruseln lehren. Es lag an dem Gebiss. Sie hatte es nicht eingesetzt, daher ihre bizarre Physiognomie, und sie schien sogar selbst verwirrt, fast so, als wäre sie klar im Kopf.

    Helga schlief immer mit dem Gebiss im Mund. Aber jetzt war es weg. Sie hatte sich selbst angezogen, ein bisschen aufs Geratewohl – die Bluse verkehrt herum –, aber das Butterbrot lag unangetastet neben der Kaffeetasse, und sie selbst lief auf dem Flur hin und her und machte ein unglückliches Gesicht.

    Sie selbst zu fragen wäre natürlich vergebliche Liebesmüh, der Fahrstuhl kam bei ihr nicht mehr oben an, wie man mit einem modernen Ausdruck sagen könnte. Maj-Lis und Elisabeth, meine treuen Mitstreiterinnen, und ich selbst läuteten die Operation »Große Fahndung« ein. Diejenigen der Alten, die noch über ihre kleinen grauen Zellen verfügten, mussten beim Suchen helfen, denn morgens war immer eine Menge zu tun. Alle hatten aus ihren Betten zu kommen, mussten gewaschen, angezogen und die meisten auch noch in Rollstühle oder Sessel verfrachtet werden. Frühstück musste serviert, Betten gemacht und gegebenenfalls frisch bezogen werden, und wenn das schlimmste Morgenchaos überstanden war, warteten volle Wäschesäcke, volle Katheterbehälter, Plastikurinflaschen und in manchen Fällen auch Eimer, die der Betreffende neben dem Bett stehen hatte, sie mussten geleert, gespült und mit Desinfektionsmitteln gereinigt werden.

    Schweden wäre ohne uns zum Erliegen gekommen, das wussten wir, das merkten wir, jeden Tag. Svea und Sven waren alt geworden, aber sie hatten ihr Leben lang Steuern gezahlt, und sie waren es wirklich wert, auch auf ihre alten Tage wenigstens ihre Grundbedürfnisse befriedigt zu bekommen.

    Also – wo war jetzt Helgas Gebiss?

    Wir suchten überall. Helga war körperlich gesund und bewegte sich durch alle Räume, aber die Zähne nahm sie nicht freiwillig aus dem Mund, was also war passiert?

    Stig-Erik Rikardssons Zustand war nicht gut. Mit ihm ging es bergab. Während der letzten vierundzwanzig Stunden hatte er nichts zu sich nehmen wollen, und er war auch zu schwach, um aufzustehen. Monica, die Leiterin, hatte die Ärztin gerufen. Ich tätschelte dem alten Kämpfer die Hand, strich ihm über die Wange, fragte, ob ich ihm ein bisschen Saft geben dürfe, und hielt ihm die Schnabeltasse hin. Er schüttelte den Kopf. Er wollte nichts haben. Dein Mund ist bestimmt trocken, versuchte ich es. Nimm nur ein Schlückchen, du wirst sehen, dann fühlst du dich besser.

    Hauptsächlich um mir einen Gefallen zu tun, nahm er ein bisschen Saft, aber ich sah, dass es ihm nicht schmeckte. Seine Tage waren wohl gezählt, schade. Ein netter alter Mann.

    Als Stig-Erik noch auf den Beinen gewesen war, hatte er Geschichten aus der Eriksberg-Werft zum Besten gegeben, eine komischer als die andere – da war keine Langeweile aufgekommen. Jetzt waren seine Augenlider schwer, aber der Blick war klar, geduldig lag er da und ruhte sich aus, es konnte wohl kaum noch die Rede von irgendwelchen großartigen Zukunftsplänen sein. Ich empfand Bewunderung angesichts dieser stillen Gelassenheit, ich hörte nie auf, mich über die Kraft zu wundern, die unsere Alten im Finale des Lebens zeigten.

    In Stig-Eriks Zimmer gab es kein anderes Gebiss als sein eigenes. Das Suchen ging weiter, und ich legte sogar Helga leicht den Arm um die Schultern – was hast du mit deinen Zähnen gemacht, Helga?

    Habt ihr die Hühner rausgelassen?, bekam ich zur Antwort. Etwas anderes war nicht zu erwarten gewesen.

    Am Ende löste sich das Problem. Einem Boten von einem anderen Erdteil gleich betrat der Hausmeister die Räume und verkündete, dass draußen im Beet unter unseren Fenstern ein Grinsen läge und feixe. Also das bloße Grinsen – pur und aufs Wesentliche reduziert. Er konnte es wirklich auf den Punkt bringen, unser guter Hausmeister.

    Ich trug das Gebiss in den Wohnbereich hoch, was konnte daran bloß so eklig sein? Jede Tollwutbakterie oder was es auch sein mochte, wovor der Hausmeister so viel Angst gehabt hatte, war in der Nacht bestimmt erfroren, aber als ich mir die Zähne näher ansah, bemerkte ich, dass daran etwas klebte. Sahnebonbon?

    Ja, so war es. Helga hatte sich in ein Sahnebonbon verbissen, war nicht losgekommen und hatte vermutlich aus reiner Verzweiflung den ganzen Kladderadatsch aus dem Fenster geworfen. Ein spontaner Impuls. Zwei Sekunden später war die Sache aus ihrem Bewusstsein verschwunden.

    Das war Unterhaltung auf höchster Ebene, und es war Glück, aber das wusste ich damals noch nicht.

    Wir verzogen die Gesichter und verdrehten wegen dieser Zähne die Augen, lachten und alberten, niemand wollte ins braune Gras beißen.

    Nachmittags lief im Tagesraum meistens der Fernseher. Nur manchmal schaute sich jemand das Programm an. Doch an diesem Tag hatte ich Helga vor den Bildschirm gesetzt, damit sie stillsaß und ich ihr die Haare entwirren und zum Zopf flechten konnte. Am Morgen war dazu wegen der Zahnprothesendramatik keine Zeit geblieben. Helgas dünnes, staubgraues Haar war so fein, dass es eine komplizierte Angelegenheit war, es ihr auszukämmen, ohne dass sie plötzlich aufstand und weglief. Ich ging mit äußerster Behutsamkeit vor, und Helga starrte auf die flimmernden Männer im Fernseher.

    Plötzlich tauchte Jan auf dem Bildschirm auf! Er war einfach da.

    Er gab ein Interview. In dem Augenblick begann Helga ziemlich laut zu brabbeln, und der Fernseher lief so leise, dass ich nicht hören konnte, was Jan sagte. Bevor ich die Fernbedienung gefunden und den Ton lauter gestellt hatte, war er verschwunden, und die Nachrichten gingen weiter, ohne dass ich Klarheit erhalten hätte.

    Nicht dass ich völlig überrascht gewesen wäre. Jan war in seiner Eigenschaft als Gewerkschaftsfunktionär schon früher im Fernsehen aufgetreten, er galt als streitbar, und man hatte ihm anfangs eine Karriere in der Politik prophezeit. Daraus war allerdings nichts geworden, und ich wusste auch, warum: Er war zu weich. Daran war nichts Schlechtes, aber für diese Dinge war er einfach zu weich, hatte kein ausreichend dickes Fell. Er zog sich lieber zurück, als dass er Krach schlug. Er verabscheute alles, was mit Stunk und Konflikten zusammenhing. Eigentlich war er also auf dem völlig falschen Platz. Aber der war ihm wichtig gewesen, und ich hatte nichts dagegen gehabt, dass er Nagelpistole und Zollstock gegen Computer und Handy eintauschte. Ich dachte, dass es gut für ihn sei, dass er sich nicht abzuschuften brauche, und persönlich sah er in dem Funktionärsjob die Chance, mehr für seine Kollegen tun zu können. Er war ein leidenschaftlicher Betriebsratsvorsitzender gewesen, und niemand hatte seine Ehrenhaftigkeit je angezweifelt. Als Gewerkschaftsfunktionär würde es für sein Engagement mehr Spielraum geben.

    Bestimmt hatte man ihn etwas Politisches gefragt, bezüglich eines neuen Rententarifs, einer Privatisierungsmaßnahme oder einer weiteren Konkurrenzgeschichte, was weiß denn ich? Das politische Zählwerk lief jetzt so schnell, dass es für einen gewöhnlichen Sterblichen unmöglich war, der Sache zu folgen, und selbst Jan, der aus der Politik eine Tugend gemacht hatte, gab zu, die scharfen Kursänderungen nur schwer verstehen zu können. Man konnte nur zu Gott beten und hoffen, dass irgendwo eine gottgleiche Person saß, die einen allumfassenden Überblick hatte über die Volkswirtschaft mit ihren Exportquoten, die Kinder in den Schulen, die Bedrohung unserer Sicherheit und mit genügend Zeit fürs Pflegepersonal, verloren gegangenen Gebissen hinterherzujagen. Ja, man konnte nur hoffen, denn ich persönlich war nicht besonders daran interessiert, und Zeit hätte ich auch nicht gehabt, selbst wenn ich gewollt hätte. Sollte man denn nie leben? Sondern nur nützlich für die Allgemeinheit sein?

    Ich kämmte Helga zu Ende. Sie wurde richtig schmuck. Sie befühlte vorsichtig ihr Haar, als würde sie verstehen. Sie sah aus wie eine zerknautschte kleine Puppe. Früher hatte ihr bestimmt jemand zugeflüstert, du bist so schmuck, Helga, richtig schmuck! Irgendwann mal hatte jemand diese dürren Brüste gedrückt, hatte geflüstert, gestöhnt und gedrängt, wollte ihr richtig nahe kommen, ihr, der Helga.

    Das Leben war wirklich fantastischer, als man einzusehen wagte. Unsere Pflegebedürftigen hatten all das, in dem wir gerade steckten, oder was soeben begann, schon hinter sich. Sie hatten bereits alles erfahren, das ganze Leben. Sie wussten Bescheid, aber sie hatten sich wie Muscheln um ihr Wissen geschlossen. Hier stand ein Stück Gegenwartsgeschichte direkt vor mir, aber die Hirnsynapsen waren außer Funktion, und die Frau befand sich im Zustand totaler geistiger Verwirrung – was hast du eigentlich alles erlebt, Helga?

    Ein wirklich sündiger Gedanke: Manchmal glaubte ich – genau wie bei meiner Mutter –, dass man die Senilität herbeiwünschen konnte, ja, ganz bestimmt war es so. Das war wohl erblich. Aber war die Sünde als solche nicht auch erblich? Erbsünde. Zu der die Kirche sich nicht länger bekannte. Zweifellos gab es sie, dachte ich. Bis ins dritte und vierte Glied. Wenn man nicht reinen Tisch machte.

    So viel war mir zumindest klar – damals schon.

    Damals, als ich noch nicht wusste, wie glücklich ich war.

    Dann ging ich, um Jan anzurufen und zu fragen, was er im Fernsehen gesagt hatte. Die Ärztin war schon in ihrem Dienstzimmer, aber Monica sagte, es gehe in Ordnung, dass ich das Telefon benutze.

    Jan war in der Stadt unterwegs und nicht zu erreichen. Das Mädel aus der Zentrale hatte selbst versucht, ihn auf dem Handy anzurufen, aber es war abgeschaltet. Sie hieß Eva-Marie und wusste, wer ich war. Ach, im Fernsehen war er gewesen, ja, das war nicht sehr verwunderlich, ich hatte ja wohl die Nachrichten gehört?

    Das hatte ich nicht. Als das Tagesecho über die ganze Nation hinausposaunt worden war, war ich in die Illustrierte »Gutes Wohnen« vertieft gewesen, während ich mein aufgewärmtes Wurststroganoff verschlang.

    Sie erzählte, dass wieder zwei Morde an Gewerkschaftern verübt worden seien! Richtig schrecklich. Diesmal hatte es zwei Journalisten getroffen, aber Jan hatte sich das letzte Mal ja so nachdrücklich geäußert, dass es nur natürlich war, wenn das Fernsehen ihn jetzt, wo es wieder passiert war, um einen Kommentar gebeten hatte.

    Wie furchtbar, sagte ich, aber es war, als hörte ich ihre Worte wie durch einen Filter. Ach so, wieder ein Mord, ja, zwei sogar. Ich bedankte mich, legte auf und ging an meine Arbeit zurück – jemandem war Schnupftabak in den Hörapparat geraten, und ein Nachlasspfleger war erschienen und musste dringend mit der Leiterin über einen unserer Bewohner sprechen.

    Das Leben ging weiter.

    Auf dem Heimweg kaufte ich eine Abendzeitung, die mit Riesenlettern die Morde herausposaunte, zu denen man Jans Kommentar im Fernsehen erbeten hatte, und im Bus las ich die kurze Notiz.

    Der Filter verschwand vörubergehend, als ich las, dass der Ermordete früher Betriebsratsvorsitzender gewesen war – genau wie Jan! Er und seine Frau waren längere Zeit belästigt worden, weil sie in ihrer Gewerkschaftszeitung aktive Neonazis beim Namen genannt und sogar ihre Passbilder veröffentlicht hatten. Auf ihre Initiative hin war auch ein Neonazi aus der Gewerkschaft ausgeschlossen worden. Dann hatte man dem Mann gekündigt – der Grund war unklar –, und von dem Moment an hatten die Drohungen und Belästigungen nicht mehr aufgehört.

    Das Ehepaar hatte sowohl schriftliche als auch telefonische Drohungen erhalten, alle anonym. Einmal hatte man eine eigenhändig gebastelte Brandbombe durch ihren Briefschlitz geworfen, aber sie waren glücklicherweise zu Hause gewesen und hatten den Brand löschen können.

    Alle Drohungen waren der Polizei vorschriftsmäßig gemeldet worden, wo man einen verstärkten Schutz des Ehepaars erwogen, aber noch nicht umgesetzt hatte.

    Dem Artikel zufolge waren beide unerschrockene, bohrende Journalisten gewesen, die bestimmt gewusst hatten, worauf sie sich einließen. Wie die Polizei mitteilte, hatten sie auch nicht auf verstärkten Schutz gedrungen, sondern sich mit der Gefahreneinschätzung durch die Polizei zufrieden gegeben.

    Dass die Morde ein weiterer Ausdruck neofaschistischer Gewalt waren, stand außer Zweifel. Dann ging die Zeitung dazu über, alle früheren Terroranschläge aufzuzählen. Denn hier handelte es sich um Terroristen, die die Demokratie bedrohten, Jan war es darauf angekommen, das deutlich hervorzuheben. Terror rechnete mit dem Schrecken – man wollte den Leuten Angst einjagen. Jetzt trug die Zeitung selbst dazu bei, diese Angst zu verstärken, denn als ich die ganze Liste der Gewalttaten gelesen hatte, begriff ich, wie gefährlich die Sache war. Jan musste vorsichtig sein! Wer würde es ihm danken und ihn wieder aufrütteln, falls er den Ärger dieser Kerle auf sich zog? Was, wenn er nun ermordet–hingerichtet würde?!

    Wir würden reden müssen, gründlich reden. Zwar stimmte ich mit seinen Ansichten voll und ganz überein, aber irgendwo gab es eine Grenze. Diesen Kerlen musste man mit anderen Mitteln begegnen. Ich musste mir überlegen, welche genau das sein könnten, damit ich Jan etwas zu sagen hatte, wenn wir uns trafen, ich musste ihn dazu bringen, von jetzt an vorsichtig zu sein. Er war schließlich mein Ein und Alles, ich liebte ihn aus ganzem Herzen all den Jahren zum Trotz; dass ihm etwas zustoßen könnte – uns zustoßen könnte –, wollte ich mir gar nicht erst vorstellen. Ich hatte schon mit der Planung seines Geburtstages angefangen, der würde ein Volltreffer werden, solcher Mist hier würde uns das Schöne nicht verderben.

    Als ich in den Abendnachrichten von den Morden hörte, hatten sie sich bereits in eine private Irritation verwandelt, eine Bedrohung unseres Glücks. Verdammte Nazis, diese Idioten. Ihr seid doch nichts als Loser, dachte ich. Könnt ihr nicht in euren dunklen Löchern hocken bleiben und eure aggressive, stumpfsinnige Musik hören, statt unentwegt Leute zu bedrohen und zu erschrecken, ja, sie sogar umzubringen!

    Gratulation, dachte ich dann. Ihr habt Erfolg. Schließlich habe ich jetzt Angst. Ich bin zwar wütend, aber noch viel mehr fürchte ich mich. Ich bin nicht bereit, das Leben meines Mannes aufs Spiel zu setzen, damit man mit euch fertig wird. Der Preis ist zu hoch, das seid ihr absolut nicht wert.

    Sie waren zu einer privaten Irritation geworden, äußerst beunruhigend. Aber höchst privat.

    Ich hatte eine so wunderbare Idee. Jan wurde fünfundvierzig. Normalerweise gratulierte ich mit Kaffee am Bett und ein paar Extraküsschen, doch diesmal sollte es anders werden. Den Kaffee am Morgen konnte er bekommen, aber am Abend gedachte ich ihn richtig zu überraschen. Die Sache verlangte nur eine doppelte Absicherung, damit ihm keine Konferenz oder Sitzung dazwischenkam. Ich musste mir etwas einfallen lassen, damit er an dem Abend ganz bestimmt zu Hause war.

    Während des Kartoffelschälens dachte ich eine Weile über das Problem nach. Jan kam oft erst spät nach Hause, aber ich kochte trotzdem ein ordentliches Essen, denn ich wollte am nächsten Mittag was zum Aufwärmen haben, und falls was übrig blieb, ließ sich das in der Regel einfrieren. Aufgetaute Kartoffeln waren nicht gerade ein Highlight, aber jetzt hoffte ich, dass er nach Hause kam, zumal er im Fernsehen gewesen war. Deshalb hatte ich mich ans Kartoffelschälen gemacht. Er war immer etwas eitel, wenn es um öffentliche Auftritte ging, und brauchte mich als Spiegel und Bewunderin. Er würde bestimmt sehr bald auftauchen.

    Ich versuchte, nicht an diese Morde zu denken, das deprimierte mich nur. Dass sie Jan in Rage gebracht hatten, war leicht zu begreifen. Er mochte keinen Krawall, aber sein Rechtsempfinden war gut ausgeprägt, und nun würde er sicher eine Unterschriftensammlung ankurbeln oder vielleicht einen Artikel schreiben und mit seinem Namen unterzeichnen. Ich musste mit ihm reden.

    Ich war eine geduldige Ehefrau, deshalb waren wir wohl noch immer verheiratet. Auch wenn ich mich nicht direkt engagierte, so unterstützte ich ihn doch, hatte das auch damals schon getan, als Åsa noch klein war und ich Abend für Abend allein zu Hause gesessen hatte. Geh ruhig, hatte ich gesagt, wir kommen schon klar.

    Zu jener Zeit hatte er gegen die Listen aufbegehrt, die geheimen schwarzen Listen über gewerkschaftlich aktive Personen, die keine Sozialdemokraten waren. Jan war selbst Sozialdemokrat, aber diese Form der Meinungsregistrierung tolerierte er nicht. Er kannte die Jungs schließlich und wusste, dass sie in Ordnung waren, sie wollten einfach nur mehr erreichen und verstanden den Gedanken des gegenseitigen Einvernehmens nicht. Manchmal zweifelte er, wenn der Arbeitgeber allzu offensichtlich Nutzen daraus zog, dass die Arbeiter sich einschränken mussten, obwohl die Gewinne riesig ausfielen. Andererseits wollte er nicht in einem Streiksumpf versacken, der nichts brachte, so wie es den Arbeitern in England ergangen war. Das schwedische Modell war gut, es war demokratisch und basierte auf Offenheit und freier Meinungsäußerung. Da konnte man die Leute nicht einfach registrieren. Dazu gab es eine spezielle Polizei, und die sollte nur solche Personen registrieren, die eine Gefahr für Demokratie und Sicherheit darstellten, nichts sonst. Die Sozialdemokratie hatte gefälligst diejenigen, die eine Bedrohung für sie darstellten, selbst zu bekämpfen, und zwar mit der effektivsten Waffe, die es gab – dem freien Wort.

    Diese Frage des freien Worts und der schwarzen Listen war es gewesen, weshalb er Betriebsratsvorsitzender geworden war, und dann war es immer so weitergegangen. Aber angefangen hatte es mit den Listen, diesen schändlichen Listen, wie er sagte. Unerfreulich für die ganze Partei.

    Er war ständig viel unterwegs. Aber wenn wir uns dann endlich wieder trafen, war mir, als würde sein Erscheinen von einem ganzen Symphonieorchester begleitet. Er war der wunderbarste Mann, den ich kannte, das galt für damals, als wir jung waren, und ist auch heute noch nicht anders.

    Er war im Fernsehen gewesen. Bestimmt würde er nach Hause kommen. Ich goss die Kartoffeln ab und legte ein zusammengefaltetes Küchenhandtuch über den Topf, bevor ich den Deckel wieder drauftat. Die Kartoffeln würden warm bleiben, ich hatte meine Erfahrungen. Mit dem Braten

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