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FÜNF TAGE UND EINE NACHT: Der klassische München-Krimi!
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eBook383 Seiten4 Stunden

FÜNF TAGE UND EINE NACHT: Der klassische München-Krimi!

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Über dieses E-Book

Ausgerechnet an dem strahlenden Sommertag, als Polizeichef Lizius nach langen Dienstjahren seinen Abschied nehmen will, wird im Gehölz der Hasenheide am Stadtrand ein totes Mädchen gefunden. Lizius hält es für seine Pflicht, diesen Fall noch zu klären, aber schon bald stellt sich heraus, dass er diesen Entschluss bitter bereuen muss. Der Kreis, den das Geschehen zieht, wird immer größer, und auch Lizius selbst, seine Familie und sein bester Freund geraten in das Netz der Ermittlungen...

 

Ernestine Wery (* 21. April 1909 in München als Ernestine Fentsch; † 26. November 1997) war eine deutsche Schauspielerin sowie Drehbuch- und Romanautorin. Nach ihrer Heirat mit dem Schauspieler Carl Wery zog sie sich von der Schauspielerei zurück und schrieb ab 1943 Filmdrehbücher. Auch als Autorin blieb sie häufig dem bayerischen Lokalkolorit verbunden. Mit ihren insgesamt 22 Drehbüchern, von denen 16 verfilmt wurden, trug sie einen nicht unwesentlichen Teil zum Charakter des bundesdeutschen Kinos der 1950er Jahre bei. In späteren Jahren verlegte sie sich auf die Schriftstellerei. Sie schrieb mehrere Romane, insbesondere Kriminalromane, die teilweise ihre Drehbücher für die Krimiserie Tatort als Grundlage haben.

Der Roman Fünf Tage und eine Nacht erschien erstmals im Jahr 1965 (unter dem Titel Die Hunde bellten die ganze Nacht).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum14. Juni 2021
ISBN9783748785637
FÜNF TAGE UND EINE NACHT: Der klassische München-Krimi!

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    Buchvorschau

    FÜNF TAGE UND EINE NACHT - Ernestine Wery

    Das Buch

    Ausgerechnet an dem strahlenden Sommertag, als Polizeichef Lizius nach langen Dienstjahren seinen Abschied nehmen will, wird im Gehölz der Hasenheide am Stadtrand ein totes Mädchen gefunden. Lizius hält es für seine Pflicht, diesen Fall noch zu klären, aber schon bald stellt sich heraus, dass er diesen Entschluss bitter bereuen muss. Der Kreis, den das Geschehen zieht, wird immer größer, und auch Lizius selbst, seine Familie und sein bester Freund geraten in das Netz der Ermittlungen...

    Ernestine Wery (* 21. April 1909 in München als Ernestine Fentsch; † 26. November 1997) war eine deutsche Schauspielerin sowie Drehbuch- und Romanautorin. Nach ihrer Heirat mit dem Schauspieler Carl Wery zog sie sich von der Schauspielerei zurück und schrieb ab 1943 Filmdrehbücher. Auch als Autorin blieb sie häufig dem bayerischen Lokalkolorit verbunden. Mit ihren insgesamt 22 Drehbüchern, von denen 16 verfilmt wurden, trug sie einen nicht unwesentlichen Teil zum Charakter des bundesdeutschen Kinos der 1950er Jahre bei. In späteren Jahren verlegte sie sich auf die Schriftstellerei. Sie schrieb mehrere Romane, insbesondere Kriminalromane, die teilweise ihre Drehbücher für die Krimiserie Tatort als Grundlage haben.

    Der Roman Fünf Tage und eine Nacht erschien erstmals im Jahr 1965 (unter dem Titel Die Hunde bellten die ganze Nacht).

    Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

    FÜNF TAGE UND EINE NACHT

    MITTWOCH

    Erstes Kapitel

    Ein Morgen war das wieder, das Wetter hatte Gold im Faden. Tag für Tag ging das nun schon, eine Strähne war ausgebrochen, wie sie so ausdauernd nur der scheidende Sommer schenkt. Im Übrigen war es der Morgen nach der Entscheidung. Das Abschiedsgesuch des Polizeichefs Eugen Lizius lag im Kasten, gestern Abend hatte er es eingeworfen.

    Er war schon wach, als der Wecker klingelte.

    Wie fühlte er sich an dem Morgen? Als freier Mann? Oder als trauriger? Weder noch. Die Wahrheit, von ihm selbst mit einiger Verwunderung konstatiert: er fühlte nichts. Sein Kopf war leer, sein Herz auch. Er hatte seinen Beruf nicht geliebt; nicht das Metier, nicht die Menschen, mit denen er zu tun hatte, nicht die Titel, die ihm im Laufe der Jahre verliehen worden waren. Er hatte sich von seinen Untergebenen Chef nennen und von den anderen mit Namen ansprechen lassen. Wenn ihn eine Eitelkeit gekitzelt hätte, wär’s der Dr. phil. gewesen, den er einst als Fleißaufgabe zusätzlich zum jur. erbüffelt hatte, als er noch nicht wusste, dass er bei der Polizei landen würde. Aber man macht sich ja nicht lächerlich. Was ihn zu dem Beruf gezogen hatte? Gezogen gar nichts. Ausharren lassen hatte ihn sein Pflichtbewusstsein. Interessiert hatte ihn dann und wann das Denkspiel. Und jetzt war er alt.

    Die Turmuhr schlug, er stand auf, glockenschlagpünktlich wie die vielen Jahre, auf die er hätte zurückblicken können, wenn ihm danach zumute gewesen wäre. Er fischte seine Pantoffeln mit den Füßen heran und ging ins anstoßende Bad.

    Die Sonne ergoss sich hier durchs Fenster und überfiel ihn mit ihrer prallen Zudringlichkeit, der Spiegel beschenkte ihn mit seinem Anblick. Er schaute weg. Er war Ende Sechzig, und man sah es. Baufehler, dachte er, während er den Schlafanzug abstreifte, ein Badezimmer mit Ostfenster. Wie lange mag man das schon, dass einem die Morgensonne in die Falten knallt? Solange man keine hat. Und wie lange hat man keine?

    Er trat unter die Dusche.

    Bis vor gar nicht so langer Zeit hatte er’s kalt, wie es aus der Leitung kam, prasseln lassen. Jetzt vertrug er es nicht mehr. Das Altwerden! Was weiß man davon, wenn man jung ist und noch mittendrin steht. Mit dem Tag, da er zum warmen Wasser kroch, hatte es eingesetzt. Und jetzt war es soweit, dass er sein Amt aufgab. Na ja.

    Er ließ es über seinen großgewachsenen, einst muskulösen und darum noch ganz passablen Körper rieseln, die Temperatur war angenehm. Altherren-Temperatur. Inwendig grinste es bissig. Mit fünfundsechzig noch hatte er geglaubt, den schleichenden Bankrott ignorieren zu können. Per Eiche hatte der Schwamm in seiner überflüssigen Geburtstagsansprache im Hof des Präsidiums von ihm gesprochen. Auch das Wörterbuch eines Justizministers, Schwamm genannt wegen seiner Masse, bestand aus Blech und nicht gerade funkelnder Intelligenz.

    Lizius nahm die Handbrause und verpasste sich noch einige Güsse in die unteren Etagen, dann frottierte er sich. War auch schon flotter gegangen, die Verrenkerei mit dem Badetuch! Es knackte, und wohl tat es auch nicht. Eiche! Denken konnte man allenfalls so was noch, aber aussprechen, und das öffentlich!

    Er rieb sich mit Hautöl ein und dachte an seine Frau. War natürlich falsch gewesen, dass er sich mit fünfundsechzig nicht hatte pensionieren lassen, falsch wie so vieles. Er hätte mit ihr reisen und ihr noch ein bisschen was bieten sollen. Was hatte sie gehabt bei ihm: einen immerzu vom Beruf belagerten und nicht selten misslaunigen Mann. Und war so geduldig gewesen die ganzen Jahre. Achtundzwanzig genau. So lange waren sie verheiratet. Wo sie nur hingekommen waren, diese Jahre? Traum, alles schon Traum, hinuntergeronnen den gottverfluchten Lethefluss. Seine Frau war jünger als er. Auch sie eine Fünfzigerin heute schon, kaum zu glauben, wenn man sie sah; fünfundfünfzig war sie. Fünfundfünfzig: zu beneiden. Ein Mann ist da noch in- den besten Jahren.

    Er ging zum Waschbecken und putzte sich die Zähne. Einer der wenigen Pluspunkte: Zähne hatte er noch. Diverse Kronen und Brücken zwar, aber die saßen auf Wurzeln. In seinem Alter besaßen sie ja fast alle nur mehr Gegenstände, und auch von den Jungen hatten nicht wenige ausschließlich Kunstharz und Kautschuk in der Schnauze. Der Schwamm damals bei der Fernsehdiskussion, wie ihm mit unüberhörbarem Schnalzer das Gebiss heruntergeklappt war! Live! Und wie alt war er: sechsundvierzig. Lizius legte den Kopf zurück und gurgelte das scharfe Mundwasser bis hinunter an die Rachenmandeln. Und weshalb war er mit fünfundsechzig nicht in Pension gegangen?

    Er begann sich zu rasieren.

    Ehrgeiz war’s bestimmt nicht gewesen. Und Anhänglichkeit an den gigantischen Haufen von Arbeit, Ärger, Misserfolg, Unrentabilität und Tristheit, woraus diese sogenannte große Stellung bestand, weiß Gott auch nicht. Vielleicht war es die Sache mit dem alten Eisen gewesen, die er nicht hatte wahrhaben wollen. Sie hatten ihn aufgefordert zu bleiben. Weil es, so hatte der Schwamm, der dialektische Hemmungen ja nicht kannte, getönt, keinen adäquaten Nachfolger gab und Männer wie er, so die schwülstige Formulierung, ausstürben.

    Das mit dem Nachfolger war vielleicht nicht unrichtig. Junge Streber gab’s die Menge, einer davon würde ja jetzt auch zum Zuge kommen, aber die Bosse, jene Mischung aus Managern, Leithammeln, Paragraphenjongleuren und ganz zuletzt Juristen, die solch ein Ding von Amt in den Griff bekamen, wuchsen nicht nach. Nicht weil sie’s nicht mehr gab, wer heute aus dem Stoff war, wanderte ab in die Industrie, wo ein Vielfaches verdient wurde. Eins war es mit Sicherheit gewesen: nie der richtige Zeitpunkt.

    Er war ein ordnungsliebender Mensch, und so wollte er sein Amt auch hinterlassen, aber zu keiner Zeit hatte er das, was er unter Ordnung verstand, zu schaffen vermocht. Eine fromme Lüge, dass es perfekte Verbrechen nicht gäbe! Wieviel Ungeklärtes moderte in den Aktengewölben. Und erst die Indiz-Verurteilten. Es musste einer schon ein Roß sein, wenn ihn diese Gespenster, die niemals ein Geständnis abgelegt und ihre Freiheit nur durch die von der Polizei eichhörnchenemsig zusammengetragenen Ermittlungen verloren hatten, nachts nicht verfolgten. - Nein, er war nicht gerne Polizeichef gewesen. Aber da er nun auf dem Platz stand, hätte er ihn so zu übergeben gewünscht, dass es nach ihm nicht heißen konnte; was der alles versiebt hat!

    Es war ihm nicht gelungen.

    Sein Nachfolger erbte ein Paket.

    Lizius legte den Elektrorasierer weg und probierte es mit einem zweiten. Jeden Morgen dasselbe. Wollte er’s wirklich glatt, griff er zum Messer. Na ja, kam nicht drauf an heute, kein Tag mehr von Wichtigkeit.

    So dachte er...

    Auf dem Programm stand nun als erstes eine Verabredung mit Kommissar Stein, dem Leiter des 37. Reviers. Damit begann er eine Art Abschiedstournee; reihum wollte er noch die einzelnen Reviere besuchen und nachsehen; vielleicht ließ sich das eine oder andere verbessern. Dass er mit Stein begann, hatte zweierlei Gründe: erstens schätzte er ihn, er war einer seiner Pflichttreuesten und Tüchtigsten, zweitens war’s bequem.

    Im 37. Revier wohnte er selbst.

    Ob Stefanie schon auf war?

    Er horchte nach ihrem Schlafzimmer, und wieder beschäftigten sich seine Gedanken mit seiner Frau.

    Alles noch still.

    Er zog seinen Morgenmantel über und begab sich zu der Tür, die vom Bad zu ihr führte. Ehe er die Klinke drückte, schlug er den Kragen hoch und verbarg damit seinen alten Hals.

    Sie lag noch im Bett.

    Früher, als sie noch eine Mietwohnung hatten, schliefen sie zusammen. Als sie dann endlich bauen konnten, bestand er darauf, dass sie ein eigenes Zimmer bekam. Es war ihm ein Opfer gewesen, er vermisste sie in den Nächten an seiner Seite, Stefanie hatte jedoch einen empfindlichen Schlaf. Wurde er nachts vom Telefon herausgeklingelt, fand sie den Anschluss nicht mehr.

    Durch das gemeinsame Bad waren sie verbunden.

    Sie lag auf der Seite, das Gesicht abgewandt, den bloßen Arm auf der Decke.

    Von rückwärts gesehen, ein junges Mädchen.

    Sie hatte noch feine, schlanke Arme, und die Schultern mit dem Nacken, aus dem das aschblonde Haar aufstieg, jener helle Holzton, in dem sich das erste Grau jahrelang verborgen hält, waren auch noch zart wie in ihren jungen Jahren. Lizius hatte die Tür fast geräuschlos bewegt.

    Genauso zog er sich jetzt wieder zurück.

    »Na...?«, ließ sie sich vernehmen, als er fast schon wieder draußen war. »Und wie geht’s dir?« Sie drehte sich auf den Rücken.

    Er kam zurück.

    »Ich dachte, du schläfst noch.« Er setzte sich zu ihr aufs Bett.

    »Morgen, Mädchen.«

    »Mädchen...« Wenn er Mädchen sagte, kam sie sich uralt und komisch vor. »Ich wünsch’ dir einen guten Tag heute!«, sagte sie mit besonderem Akzent. »Und wie stehst du dazu, nachdem du’s überschlafen hast? Tut’s dir leid, bereust du?«

    »Zur Reue hätt’ ich weder Grund noch wär’s sehr sinnvoll. Hast du vielleicht gehört«, übersprang er es, »ist das Kind rechtzeitig aus dem Haus gekommen?«

    Er sprach von ihrer 23jährigen Tochter Annely. Noch immer war sie das Kind bei ihm.

    Sie hatte mit einem sehr frühen Zug wegfahren müssen, nach Göttingen, wo sie auf ihren eigenen, von den Eltern anfangs bekämpften Wunsch ihre Studien fortsetzte. Grund dieses zäh erfochtenen Wunsches: Sie wollte mit dem jungen Mann, den sie einmal zu heiraten gedachte, Hansjoachim Fabry, genannt Hajo, Zusammensein. Er praktizierte dort an einer der Kliniken.

    »Verschlafen«, musste Stefanie antworten, »hat sie. Ich hab’ mir den Wecker gestellt, und als ich um halb sechs noch nichts hörte, sah ich hinauf zu ihr: ganz fest schlief sie noch.«

    Über Lizius’ Gesicht ging ein Schatten. Unpünktlichkeit war für ihn ein Charakterfehler. Von der eigenen Tochter hörte er derlei ungern.

    »Und Hajo?«, sagte er und schluckte an seinem Ärger. »Steht umsonst am Bahnhof!«

    »Ich ruf’ ihn dann in der Klinik an, verständige ihn«, meinte seine Frau. »Sie nimmt den nächsten Zug.«

    »Und wann geht der?«

    »Kurz nach acht.«

    »Eine Jugend...!« Er schüttelte den Kopf. »Waren wir auch so? Glaube nicht. Erst das Theater, bis sie durfte, dann pennt sie. Keine Konsequenz.«

    »Na ja, junge Leute«, sagte Stefanie des Friedens wegen.

    »Wirst du Hajo das sagen?«

    »Was?«                

    »Dass sie verschlafen hat?«

    »Ach, na ja...«

    Natürlich, er würde sich nicht geschmeichelt fühlen. Eine Braut oder Beinahe-Braut, die den Zug verschläft, der sie zu ihm bringt...

    »Aber warum soll ich lügen«, schob sie die Anwandlung von sich, »ich werde sagen, dass sie bis spät noch gepackt hat, das ist die Wahrheit. Ich sah Licht bei ihr, da muss es lange nach Mitternacht gewesen sein.«

    »Trotzdem enttäuscht’s mich von meiner Tochter. Du hättest nicht verschlafen damals.«

    »Ja, wir...« Sie lächelte.

    Er nahm ihre Hand von der Bettdecke und packte sie sich zwischen seine beiden; eine seiner etwas gehemmten, fast linkischen Zärtlichkeiten.

    »Wir werden reisen, Steffi...«, sagte er.

    »Sie schwieg.

    »Paris...«, fuhr er fort, ihre Hand in der seinen. »Doch, das möchte ich. Paris, das ist die Stadt für uns. Du kennst Paris gar nicht, ich kenn’ es nur von Dienstreisen. Eine wunderbare Stadt... Zärtlich, galant... Eine Stadt, in der auch ein altes Liebespaar keine lächerlichen Figuren abgibt. - Was meinst du? - Oder sind wir das nicht mehr?«

    »Was willst du denn jetzt hören?«

    »Du musst nicht denken, dass ich’s nicht weiß. Ich habe oft ein schlechtes Gewissen gehabt, oft.« Er spielte mit ihrer Hand, hob sie auf und schichtete sie wieder zwischen die seinen. »Besonders gut hast du’s nicht gehabt bei mir, und es ist spät geworden, sehr spät. Aber vielleicht könnten wir vom Leben doch noch was haben? Ein Finish wenigstens?«

    »Schön wär’s.« Sie lächelte ungläubig.

    »Und wenn mich in Paris der Schlag trifft«, machte er einen nicht unbedingt geglückten Witz, »dann war’s doch irgendwie noch ein Abschluss.«

    »Vielen Dank, und ich hab’ die Scherereien mit deiner Leiche.« Sie lachte und warf die Decke zurück. »Sieben! Lass mich raus, ich muss mich um dein Frühstück kümmern, vorerst bist du noch am Leben.«

    Mit noch fast mühelosem Schwung glitt sie an ihm vorüber aus dem Bett, ihr dünnes Nachthemd ließ ihren Körper durchscheinen, er war von mädchenhafter Schlankheit und sehr schön gewachsen. Stefanie Lizius, geborene Holzschuher, war aus gutem Stall. Ihr Gesicht hatte diese Jugend nicht mehr ganz, ein wenig hatte der Griffel der Jahre darin herumgekratzt, aber wirklich nur ein wenig. Vierzig hätte man ihr gegeben, fünfundvierzig.

    Lizius stand auf, seine Schwerfälligkeit mit Anstrengung kaschierend. Diese blödsinnig niederen Betten, aus denen man so schwer hochkam! Wieder einmal stellte er bei sich fest, dass seine Frau ein Wunder war. Das einzige in seinem Leben, was er nicht falsch gemacht hatte, war seine Ehe gewesen.

    Ob sie das auch behaupten konnte?

    »Steffi...«, sagte er und streckte die Arme nach ihr, um sie an sich zu ziehen.

    »Erst waschen...«

    Küsse am Morgen, wenn sie sich selbst noch nicht gut schmeckend fand, mochte sie nicht. Sie verschwand ins Bad.

    Er lächelte hinter ihr her. Ihre kleinen Spinnereien! Als ganz junge Frau schon hatte sie ihn morgens abgewiesen. Worauf er einschnappte. Und schweres Geschütz jedes Mal: Du liebst mich nicht! Und warum das Drama: weil sie duften wollte, die Ästhetin, wenn sie ihn umarmte. Wieviel zerstörerische Dummheit doch selbst zwischen Menschen war, die sich liebten.

    Er verharrte noch einen Moment in ihrem Zimmer, es war ein guter Moment. Reisen, dachte er noch einmal. Er würde möglichst wenig Zeit mehr verlieren, mal sehen, ob sich die paar letzten Wochen nicht zusammenstreichen ließen zu Tagen, und dann würde er mit ihr nach Paris fahren, der Liebe wegen, ach, du alter Idiot... Champs-Elysees, Sacre-Coeur, Montparnasse... Sie würden in kleinen Cafés sitzen und den Paaren Zusehen, die sich in aller Öffentlichkeit küssten, würden sentimentale Betrachtungen anstellen über die unwiederbringlich verlorenen Jahre und dankbar sein, dass ihnen wenigstens das noch geblieben war.

    So würde es sein.

    Er ging sich anziehen. Da er wusste, dass sie bei ihren kleinen Toilette-Geheimniskrämereien nicht gern gestört war, ging er außen herum in sein Zimmer, über den Gang.

    Dabei begegnete er seiner Tochter.

    Sie kam von oben herunter, wo sie im Dachgeschoss ihren eigenen Bereich hatte.

    »Nette Geschichten!«, knurrte er sie an.

    »Ja, scheußlich...« Sie zog den Kopf ein und huschte an ihm vorbei. »Morgen, Papa.«

    Papa sagte sie, also hatte sie ein miserables Gewissen. Sonst nannte sie ihn Eutschenio, Ganovenfürst, Oberbulle und ähnliches, Frechheiten, die ihre Moden hatten, rasch kreiert und wieder vergessen wurden, abgelöst von neuen Einfällen.

    »Vielleicht steigst du noch in den falschen Zug!« brummelte er hinterdrein.

    Sie ging die Treppe hinunter ins Parterre.

    Auf dem letzten Absatz blieb sie plötzlich stehen und drehte sich nach ihm um.

    »Papa...«

    Er hörte sie nicht mehr, die Tür seines Schlafzimmers hatte sich schon hinter ihm geschlossen.

    Sie stand da - unschlüssig. Dann ging sie weiter.

    Sie war das Abbild ihrer Mutter.

    Von unten sprang ihr der Hund entgegen, ein junger Riesenschnauzer, der sie begrüßte, als ob er sie wochenlang nicht mehr gesehen hätte, aber obwohl er sie fast ans Treppengeländer warf, gelang es ihm nicht, die Gunst ihrer Aufmerksamkeit zu erobern.

    »Schon gut...«, sagte sie ohne Blick für ihn und hielt ihn ab.

    »Genug jetzt. Platz. Platz, Alex!«, befahl sie und war mit ihren Gedanken weit weg.

    Vorbei an dem Hund Alex, der sich enttäuscht auf sein Lager verzog, ging sie zur Küche.

    »Mali«, sagte sie durch die Tür, »den großen Koffer, guten Morgen, Mali - den großen schweren Koffer...«

    »Ja, sind Sie noch da...?«, wunderte sich die runde Köchin, die eben den Kaffee filterte.

    Annely nickte flüchtig. »Hab’ den Wecker nicht gehört. Den Koffer, Mali, lass ich noch hier. Ich schreibe, wen ich ihn brauche. Schicken Sie ihn dann bitte nach! Per Bahnexpress.«

    Ihr Blick fiel auf die elektrische Wanduhr.

    Der Minutenzeiger, voran geschubst vom emsig zockelnden Sekundenzeiger, rastete eben an einem neuen Strich ein.

    Es war 7.15 Uhr.

    Im gleichen Augenblick bog einige Straßen weiter der Briefträger Siegfried Plins in die aus Gärten und Villen bestehende Kleistallee ein.

    Er war besonders guter Dinge und ließ sich nicht träumen, dass ihn dieser Tag mit dem Goldfaden in eine Rolle hineinstolpern lassen würde, zufällig wie den Schuss, dessen Schall eine Lawine losreißt.

    Zweites Kapitel

    Viertel schlug es, als Plins um die Ecke kam.

    Eine gute Gegend, seiner Meinung nach, die Gegend, in der er seit Jahren schon die Post zustellte, Villenviertel am Stadtrand, beinahe noch unberührt von Krach und Straßenlärm, eine Insel der Stille. Angesehene Leute wohnten hier, alles Leute, die er kannte und zu grüßen sich erlaubte, wenn sie ihm begegneten. Sie ihrerseits grüßten ihn auch.

    Genau 7.15 Uhr war es.

    Die taugewaschenen Gräser glitzerten noch, und die Morgenkühle rauchte zart gegen die Sonne, die schon mit allen Scheinwerfern aufgefahren war.

    Welch ein Tag!

    Siegfried Plins war in einer Laune: wie dieser Tag.

    Es ging rasch heute, keine Einschreiben, die auszuhändigen, keine Gebühren, die zu kassieren gewesen wären, nirgendwo hatte er zu läuten und sich aufzuhalten, er brauchte die Post nur in die. Münder der Briefkästen zu schieben.

    Im letzten Haus dann, das am Ende der Kleistallee lag, dort würde er läuten. Doch, würde er. Und das, obwohl es nicht vonnöten, sondern glatt ein Vorwand war. Dort wohnte seine Brunhilde. Kein Witz das, so hieß sie. Bruni wurde sie gerufen. Das besitzanzeigende Fürwort allerdings war ein Wunschträumchen.

    Bruni, die üppige Fata Morgana seiner mageren Junggesellennächte, stand jenem Hause vor, war Wirtschafterin. Beileibe nicht Dienstmädchen; davon abgesehen, dass diese Bezeichnung heute an Beleidigung grenzte, war sie wirklich mehr. Sie kochte zwar, fegte und wusch, führte aber den Haushalt selbständig, mehr als das, sie ersetzte die Hausfrau, die es dort nicht gab. Ein Mordsfrauenzimmer. Oder, wie Plins es im Geheimkabinett seiner Gedanken, das von monumentalen Bildern wimmelte, nannte: ein Staatsweib. Sie war nicht bloß tüchtig, sie besaß auch einen Wuchs - Himmel, einen Wuchs, er vermochte an die Wölbungen und Buchten nicht zu denken, ohne, dass ihm schwindelte. Der Fehler war nur, der Fehler, der ihn nicht vorankommen ließ: er war schüchtern.

    Aber heute würde er es riskieren!

    Der Vorsatz reckte ihn, seine Einskommasechzig wuchsen um mindestens zwei Zentimeter über sich hinaus, während er, den Dialog seines Vorhabens memorierend, von Briefkasten zu Briefkasten seinem Ziel sich näher schob. 1,60 - und mit Vornamen Siegfried. 1,60 - Wurm an seiner Lebenswurzel. Da gibt es nichts zu lachen. 1,60 - kein Normalwüchsiger kann das nachfühlen. Verschnitten von jenem Schneider da droben, schritt er auf stumpigen Beinen durch sein Dasein, geschändet nicht selten von den Witzen der Umwelt, ausgeschlossen von den süßesten Umtrieben, jenen nach Mädchen, über Vierzig nun schon und noch immer ledig, schön langsam abgeschoben aufs Rangiergeleise. Aber nun gab es ja noch mal eine Hoffnung. Und wenn es damit noch zu einer Erfüllung kommen sollte, war er bereit, die Versäumnisse, die das Leben an ihm begangen hatte, alle zu vergeben. Bruni war gutartig. Würde auch sie ihm einen Korb geben, dann tat sie es, dessen glaubte er sicher zu sein, wenigstens nicht mit dem Lächeln, das noch Jahre danach brannte, diesem Lächeln: Zwerg, du. Oder, was noch vernichtender war: Stumpen.

    Er war angelangt.

    Er läutete.

    FABRY stand über dem Klingelknopf. Nur Fabry, kein Titel. Das Haus, dessen Baujahr um 1910 zu schätzen war, machte nichts von sich her.

    Der Summer tönte.

    Plins drückte die eisengittrige Pforte auf und trat ein, ging den Plattenweg entlang zur Haustür, auf der Schwelle erschien sie.

    Blütenweißer Kittel, weizenblond und milchhäutig, Teint der Nichtraucherin, beginnendes Rubensformat, in den Harnisch eines Korsetts gepackt, jenseits der Dreißig. Sie blieb unter der Türe stehen.

    »Der Herr Plins...« Ein Lächeln.

    Er lächelte zurück. »Schönen guten Morgen!«

    Übergabe einer bereitgehaltenen Zeitschrift. »Nicht knicken, bitte sehr, wäre schad’ um den Kunstdruck.« Dass der Fabry'sche Briefkastenschlitz groß genug war, um sie schadlos hindurchzufingern, stand nicht zur Diskussion. »Sonst nur ein paar Briefe für den Herrn Professor«, er übergab auch diese, »bald wird man ja sagen müssen: Magnifizenz.«

    »Die Leute!« Sie besah flüchtig die Post. »Was die alles wissen. Er denkt nicht dran.«

    »Wer weiß?«, meinte er mit einer nebenhin gestreuten Geste des Zweifels. »Die Macht, die mit solch einer Position gegeben ist...«, fügte er hinzu, damit war das Thema abgetan.

    Für ihn. Für sie nicht. Sie griff auf, was nur als Einleitung gedacht gewesen, und der ganze vorbereitete Dialog entfiel. Macht, berichtete sie, das sei schlicht gesagt ein Schmarren. Danach strebe der Herr nicht. Per Herr sprach sie von ihrem Chef, was bei ihr nicht einer dienstbotenhaften Klassifizierung von einst entsprang, sondern dem sehr weiblichen, trotz Emanzipation noch immer bestehenden Bedürfnis, männliche Überlegenheit - so sie vorhanden - anzuerkennen.

    »Wie sollte er denn das schaffen«, parlierte sie weiter und zählte auf, was der Herr alles tat - und Plins stand da. Mein Gott, ja, er gönnte es Herrn Fabry ja, wie so herrlich weit er es gebracht, aber wenn sich doch bloß eine Gasse öffnete, in die er rasch hineinschlüpfen konnte! Doch das Thema, es rollte. Fabry, der aus einer Juristenfamilie stammte, war Strafverteidiger, Hochschullehrer und Abgeordneter. Dazu noch Rektor? »Das steht doch einfach nicht drin«, meinte sie. »Jede Kraft hat Grenzen.«

    Das meinte er auch. »Das Leben«, versuchte er sich hineinzuschlängeln, »geht so unheimlich schnell vorbei, und darum, meine ich, sollte man...«

    »Ich finde ja«, rollte es weiter aus ihrem Mund, der so bemerkenswert sinnenfreudig - oval wie eine Aprikose - und für andere Gespräche geschaffen schien, »ich finde«, wiederholte sie und zog nach einem Blick hinter sich ins Haus die Tür näher, gleichzeitig minderte sie die Lautstärke, »er sollte wieder heiraten, finde ich. Nicht wegen mir.« Sie lachte. »Ich hab’s schöner so, niemand redet mir drein - aber ich denk’ mir’s oft, er wäre doch noch in guten Jahren, und was hat er schon? Nur Arbeit.«

    Hol’s der Teufel, er wusste ja die Vertraulichkeit dieses Einblicks zu schätzen, aber was kümmerte ihn das anscheinend auch nicht hundertprozentige Lebensglück des Herrn Fabry! »Ich bin übrigens auch befördert worden, Fräulein Brunhilde«, drängte er sich nun mit einem Übergang, den er an Rosshaaren herbeizog, einfach auf.

    »Brunhilde sagt er!«

    Sie gab einen Ton von sich, als säße sie beim Zahnarzt. Offenbar wusste sie ihren Erzeugern für die Hypothek dieses Namens ebenso wenig Dank wie er.

    »Es ist doch naheliegend?« Er lächelte töricht. »Sind da nicht Gemeinsamkeiten?« Wie blöd er war! Er verstummte. Da hatte er gewandt sein wollen, und tat was: forderte ihren Spott heraus.

    Gemeinsamkeiten? Sei’s, dass sie nicht wusste, wie er mit Vornamen hieß, oder dass sie den ungeschickt zugeworfenen Ball nicht fangen wollte - Gutartige verzichten ja auf Pointen, die auf Kosten anderer gehen -, sie schaute fragend.

    »Ich bin Opern-Fan...« Er wuzzelte sich heraus.

    Panne Nummer zwei! Er ruderte. Großer Gott, ja, er war ein beschränkter Mensch, spürte es selbst, wie er dastand: bekleckert mit lauter Dummheit, aber er konnte halt nicht anders, und leben musste er ja doch auch. Seine Liebe zur Musik hatte herzuhalten, seine Verehrung für Wagner. Eine seiner Lieblingsopern, so stöpselte er das Kabel zu dem verdammten Siegfried zusammen, sei die Walküre. - Was stimmte. - Zweimal habe er sie schon gesehen. - Stimmte auch. - »Kennen Sie die Walküre

    Sie überlegte. »Ist das das mit der Blutschande?«

    Jetzt verstand er nicht, Blutschande? Seinem arglosen, nach blinder Verehrung drängenden Gemüt war entgangen, dass Siegmund und Sieglinde Geschwister sind, somit der Sproß ihrer Liebe, jener Siegfried, unter dessen Patenschaft er litt, inzestuöser Abkunft ist. Vielleicht hatte es auch nur an der Aussprache der Sänger gelegen. »Wie auch immer«, fand er, »man soll sich nur an die Musik halten. Und diese Musik, mächtig! Der ganze Ring - ich singe nämlich auch«, gestand er. »Bass, ein schwarzer Bass. Aber nur für mich. Bei meiner Statur...«, er winkte ab. »Wotan zum Beispiel - leb wohl,

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