Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

NACHTKERZE: Der klassische München-Krimi!
NACHTKERZE: Der klassische München-Krimi!
NACHTKERZE: Der klassische München-Krimi!
eBook257 Seiten3 Stunden

NACHTKERZE: Der klassische München-Krimi!

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Isabella Haustein liebt ihren Vater so sehr, dass sie ihn für sich allein besitzen will. Aber der Vater, ein Witwer, denkt daran, wieder zu heiraten. Isabella stellt ihrem Vater insgeheim auf einer angeblichen Geschäftsreise nach und kommt dahinter, dass er sich in Wirklichkeit mit seiner Geliebten trifft. Bei einer Auseinandersetzung macht sie ihrem Vater Vorwürfe und entschließt sich, aus dem gemeinsamen Haus auszuziehen.

Doch die Eifersucht gegenüber der neuen Frau ihres Vaters lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Und Isabella hat allen Grund, sich um das Leben ihres Vaters Sorgen zu machen...

Ernestine Wery (* 21. April 1909 in München als Ernestine Fentsch; † 26. November 1997) war eine deutsche Schauspielerin sowie Drehbuch- und Romanautorin. Nach ihrer Heirat mit dem Schauspieler Carl Wery zog sie sich von der Schauspielerei zurück und schrieb ab 1943 Filmdrehbücher. Auch als Autorin blieb sie häufig dem bayerischen Lokalkolorit verbunden. Mit ihren insgesamt 22 Drehbüchern, von denen 16 verfilmt wurden, trug sie einen nicht unwesentlichen Teil zum Charakter des bundesdeutschen Kinos der 1950er Jahre bei. In späteren Jahren verlegte sie sich auf die Schriftstellerei. Sie schrieb mehrere Romane, insbesondere Kriminalromane, die teilweise ihre Drehbücher für die Krimiserie Tatort als Grundlage haben.

Der Roman Nachtkerze erschien erstmals im Jahr 1982.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum13. Mai 2021
ISBN9783748782599
NACHTKERZE: Der klassische München-Krimi!

Mehr von Ernestine Wery lesen

Ähnlich wie NACHTKERZE

Ähnliche E-Books

Krimi-Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für NACHTKERZE

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    NACHTKERZE - Ernestine Wery

    Das Buch

    Isabella Haustein liebt ihren Vater so sehr, dass sie ihn für sich allein besitzen will. Aber der Vater, ein Witwer, denkt daran, wieder zu heiraten. Isabella stellt ihrem Vater insgeheim auf einer angeblichen Geschäftsreise nach und kommt dahinter, dass er sich in Wirklichkeit mit seiner Geliebten trifft. Bei einer Auseinandersetzung macht sie ihrem Vater Vorwürfe und entschließt sich, aus dem gemeinsamen Haus auszuziehen.

    Doch die Eifersucht gegenüber der neuen Frau ihres Vaters lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Und Isabella hat allen Grund, sich um das Leben ihres Vaters Sorgen zu machen...

    Ernestine Wery (* 21. April 1909 in München als Ernestine Fentsch; † 26. November 1997) war eine deutsche Schauspielerin sowie Drehbuch- und Romanautorin. Nach ihrer Heirat mit dem Schauspieler Carl Wery zog sie sich von der Schauspielerei zurück und schrieb ab 1943 Filmdrehbücher. Auch als Autorin blieb sie häufig dem bayerischen Lokalkolorit verbunden. Mit ihren insgesamt 22 Drehbüchern, von denen 16 verfilmt wurden, trug sie einen nicht unwesentlichen Teil zum Charakter des bundesdeutschen Kinos der 1950er Jahre bei. In späteren Jahren verlegte sie sich auf die Schriftstellerei. Sie schrieb mehrere Romane, insbesondere Kriminalromane, die teilweise ihre Drehbücher für die Krimiserie Tatort als Grundlage haben.

    Der Roman Nachtkerze erschien erstmals im Jahr 1982.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

    NACHTKERZE

    Erster Teil

    1. Veränderungen

    Isabella, genannt Isi, war schreiend aus dem Traum erwacht. Ihr Herz raste, ihr gesunder, junger Körper war nass von Schweiß; er zitterte. Sie hielt sonst nichts von Träumen. Dieser verfolgte sie. Sie stand schon in der Badewanne und duschte sich den Angstschweiß von der Haut, als die Bilder sie noch immer nicht losließen.

    Es war in einer Kirche. Vor dem Altar ein Brautpaar. Irgendwo dahinter stand oder saß oder kniete Isi. Die Braut: ein ätherisches, fast körperloses Wesen in einer Wolke aus weißem Tüll. Der Bräutigam nicht mehr jung, leicht graumeliert, schlank und elegant in einem Cut. Als er den Kopf ins Profil wandte, um der Braut den Ring anzustecken, erkannte ihn Isi – es war ihr Vater.

    Ein Schuss fiel. Das Echo im Kirchengewölbe rollte wie in den Bergen, vielfach sich wiederholend. Die Braut stürzte vornüber zu Boden, und im Nu war alles rot. Die Tüllwolke, die zarte Gestalt, der Marmorboden, das schwamm in Blut, und es rann und rann, rann als roter Fluss die Stufen hinunter. Eine schreckliche Stimme rief: »Mörderin!« Isabella, genannt Isi, begriff, dass das ihr galt, und jetzt begriff sie auch, dass sie es gewesen sein musste, die geschossen hatte. Sie begann zu rennen.

    Schnitt. Ein unterirdischer Höhlengang. Hierher hatte sich Isi geflüchtet, und sie lief, lief um ihr Leben. Aber sie waren schon hinter ihr her. Isi hörte ihre Schritte. Dunkel und immer dunkler, der Höhlengang, er wurde eng, wurde niedrig. Isi musste gebückt laufen. Sie lief nicht mehr, sie taumelte. Und die Verfolger so nah, dass sie ihr Keuchen hörte. Ich kann nicht mehr... Isi wollte sich fallen lassen und aufgeben, im gleichen Moment sah sie in weiter Ferne einen hellen Punkt. Wie in einem Tunnel, wenn er ins Freie mündet. Tageslicht! Da vorn war die Rettung.

    Doch jetzt wurde der Gang zur Röhre. Isi konnte nur noch kriechen. Mit ihrer letzten Kraft robbte sie sich dem hellen, sich vergrößernden Punkt entgegen, immer fürchtend, die Röhre würde so eng werden, dass sie darin steckenblieb. Sie schaffte es, erreichte den Ausgang der Höhle, die sich quer durch einen Berg zog, richtete sich schwankend auf und stand auf einer winzigen Felskanzel über einem tiefen Abgrund. Nach oben kein Weiterkommen, alles Wände, so glatt wie Kirchtürme. Als sie sich vorbeugte, um einen Einstieg in die Schlucht zu suchen, sah sie es: Auf dem Grunde dieser Schlucht – Schlangen. Hunderte, Tausende von verwickelten Leibern und züngelnden Rachen. Isi fuhr zurück – und bekam einen Tritt in den Rücken. Schreiend, die Arme weit ausgebreitet, stürzte sie hinunter in die Schlangengrube. Von ihrem eigenen Schrei erwachte sie.

    Samstag ist heute.

    Isabella, genannt Isi, hat mit ihrem Vater gefrühstückt, etwas später als sonst, beide müssen sie heute nicht arbeiten. Der Vater allerdings tritt eine kleine Reise an, eine jener Klausurtagungen, die zwei- oder dreimal im Jahr auf alten Schlössern, in Klöstern und sonstigen Gemäuern anberaumt werden, freiwillige Zusammenkünfte von Denkmalschützern, Restauratoren und Leuten, die die gleiche Sprache sprechen; und Isi wird ihren Vater, so nimmt sie an, zum Bahnhof fahren; wie immer, wenn er gelegentlich verreist.

    Sie, die Tochter, hat ein Auto. Der Vater hat keines. Er hat nicht einmal einen Führerschein. Wozu auch? Technik interessiert den Kunsthistoriker Friedrich Haustein wenig. Ein motorisiertes Fahrzeug zu lenken? Von diesem Wunsch ist er zu keiner Zeit seines Lebens geplagt gewesen. Mit der heranwachsenden Tochter war dann, als Belohnung für ein rühmlich bestandenes Examen, solch ein Vehikel ins Haus gekommen, und mit diesem fiel Haustein auf seine alten Tage noch die Rolle eines sich um nichts kümmern müssenden Beifahrers zu. Eine Annehmlichkeit, die er als Luxus vermerkte und sich gern gefallen ließ. Heute ist der Luxus nicht gefragt.

    Überraschenderweise.

    Als Friedrich Haustein nach dem Frühstück mit einer Reisetasche aus seinem im Obergeschoss gelegenen Schlafzimmer herunterkommt, umgezogen, wie Isi sofort und leicht verwundert registriert – jetzt trägt er einen Glencheck-Anzug gibt er das Gepäck, das die Tochter schon mal zum Auto bringen möchte, nicht her.

    »Nein, danke, ich fahre mit dem Taxi.«

    Das Gespräch findet in der Diele des Hauses statt.

    »Aber warum denn?« Isi versucht, sich des weichen Dings aus altem, schon etwas lilastichigem Schweinsleder zu bemächtigen. »Ich fahr’ dich doch gern.«

    Er lässt die Tasche nicht aus der Hand. »Ruf mir bitte ein Taxi«, beauftragt er die Tochter, und an ihr vorüber verschwindet er in sein Arbeitszimmer.

    Sie kommt ihm nach. »Du hast doch mich!«

    »Hör zu, Isikind«, sagt er, und wenn er dieses Wort aus einem selten benutzten Winkel holt, birgt es immer Kritik, »du musst nicht unbedingt alles auf die Spitze treiben.«

    Von da an hält sie den Mund.

    Haustein greift sich von einem Bord der Zelle, die sein Arbeitszimmer ist – Zelle mit Bücherwänden und Schrägentisch –, einen Feldstecher, greift sich ein paar Schreibsachen, legt alles in die Ledertasche, telefoniert nach einem Taxi, geht hinaus, greift sich von der Ablage Hut, Schirm und Regenmantel und verlässt das Haus.

    Die Tochter begleitet ihn. Wie ein gescholtenes Hündchen folgt sie ihm bis zur Gartentür. Bei Fuß, wie sich das für ein Hündchen gehört.

    Kein lautes Wort ist gefallen, auch kein böses.

    Irgendwie scheint dem höflichen Mann das Hündchen leid zu tun, aber zwischen Tasche, Schirm und Mantel hat er keine Hand frei. Als das Taxi vorfährt, streicht er Isi nur noch mit dem Handrücken über die Wange.

    »Mach dir ein hübsches Wochenende.«

    Er steigt ein. Kein Blick zurück durch das Fenster. Rasch entfernt sich das Taxi unterm Laubdach blühender Kastanienbäume. Leer und samstagsstill, die Straße; eine Gartenstraße am Rande der Stadt. Hier lebt sich’s noch relativ ruhig.

    Trägt den Glencheck-Anzug und fährt mit dem Taxi... Isabella, genannt Isi, kehrt ins Haus zurück. Ihr wünscht er ein hübsches Wochenende. Jahre hat der Glencheck-Anzug im Schrank gehangen; vier genau. So lange ist ihre Mutter tot. Kurz vor diesem plötzlichen Herztod hatte er sich den Anzug machen lassen und ihn dann nie mehr getragen. Einmal erinnerte ihn Isi daran. Warum er ihn nicht trage? Er hatte keinen richtigen Grund gewusst; nur so. Keine Lust mehr zu diesem Anzug, den er sich in einem Anfall verspäteter Jugendlichkeit zugelegt habe. Und nun zog er ihn aus dem Schrank. Für eine Tagung. Zu der er per Taxi zum Bahnhof zu fahren wünschte...

    Isi ertappt sich dabei, dass sie schon seit Minuten in dem großen Wohnraum umherwandert. Einst der Wohnraum der Familie; heute bewohnen sie ihn zu zweit. Sie unterbricht die Wanderung und lässt sich auf irgendeine gepolsterte Sesselkante nieder, lehnt halb, halb sitzt sie, die Beine mit den flachen Ballerina. Schuhen von sich gestreckt. Warum, so fragt sie sich, bestand er darauf, ein Taxi zu nehmen?

    Er schloss sie aus, klar. Nur, warum? Ihr Vater hat sich, das wird ihr jetzt erst bewusst, als sie nachgrübelt – er hat sich verändert. Und das geht auch schon eine ganze Weile. Angefangen hatte es damit, dass er ihren Geburtstag vergaß. Der 7. März, eine Fischegeborene ist sie; anlehnungsbedürftig. Die ersten Schneeglöckchen spitzten am 7. März aus dem braunen Rasen, heute blüht der allererste Flieder. Und in diesen knapp zwei Monaten hat er sich – ja, was? Entfernt hat er sich von ihr. Das mit dem Geburtstag war ihm peinlich gewesen. Jüngferchen..., sagte er, als er es merkte, mein Gott, Jüngferchen..., so nannte er sie nur, wenn er besonders zärtlich oder intim sein wollte, das ist ja unverzeihlich. Nie hatte er ihren Geburtstag vergessen. Nicht einmal damals, als Mama gerade gestorben war und er wie betäubt weiterlebte. Sogar damals standen auf dem Frühstückstisch, den er deckte – er –, Freesien, ihre Lieblingsblumen, und neben ihrem Teller lag die kleine, türkisfarbene Wiener Email-Uhr, die sie lange vorher in einem Auktionskatalog entzückt hatte. Isi war ihrem Vater um den Hals gefallen, und sie hatten beide geweint. Er um seine Frau, sie, weil sie diesen Vater hatte. So war es damals gewesen. Diesmal kam er mit Parfüm an, und drei Tage zu spät.

    Der vergessene 7. März, das weiß sie jetzt, ist ein Signal gewesen. Sie hatte es bloß nicht erkannt. Wenn sie jetzt überlegt, wie selten er sie seither mitgenommen hat, fallen ihr die Schuppen einzeln von den Augen: ganze zwei Mal. Einmal ins Konzert, da traf das Abonnement; das andere Mal in die Ausstellung; da stand auch ihr Name auf der Einladung: und Tochter Isabella. Sonst war er abends allein aushäusig.

    Da ist der Traum wieder, der Wahnsinn dieser Bilder. Unwillig erwehrt sich Isi. Was sind Träume: sinnlos wuchernde Phantasien ohne realen Bezug. Zwischen dem Mann am Traualtar und ihrem Vater besteht kein Zusammenhang. Was möglich wäre bei jedem anderen, bei ihrem Vater ist es unmöglich. Im Weg steht die Ehe, die er geführt hat, und das Andenken an diese Frau. Unfug, der Traum.

    Mit einem steifen Ruck erhebt sie sich. Sie hatte mit dem Rücken zum Porträt ihrer Mutter gesessen, jetzt steht sie ihm gegenüber. Ein gutes Bild, aber sie mag es nicht. Eine Frau mit hellen Haaren, in einem hellen Kleid, vor einem hellen Fenster, alles Messingtöne ineinander und in impressionistischer Manier hingeworfen. Auf dieses Bild ist der Raum abgestimmt, es dominiert. Sie hat auch in diesem Haus dominiert, die Frau. Auf eine merkwürdig zurückhaltende, kühle und durchaus nicht herrische Art hat sie hier geherrscht. Ihr Tod traf Isi als Ereignis; das Endgültige, das der Tod ist. Aber betrauert – nur sich selbst gesteht sie das –, betrauert hat sie die ferne Dame nicht. Sie, Isi, ist kein Mutterkind gewesen. Geliebt hat sie immer nur den Vater.

    Dessen Arbeitszimmer liegt neben dem Wohnraum. Störrisch entschlossen drückt sie auf die Klinke und geht hinein.

    Ihr Blick huscht über den Schreibtisch. Irgendwo was Geschriebenes, das Aufschluss hätte geben können? Wohl fühlt sie sich bei der Visitation nicht. Das Kalenderblatt zeigt den heutigen Tag. Mit etwas spitzen Fingern blättert Isi zurück. Keine Eintragungen. Ein geordneter Schreibtisch. Ordentlich wie der Mann, der abends hier zu sitzen pflegt. Stahlstiche, geschützt in Klarsichtfolien, liegen in Mengen da. Auf einem Stoß als Beschwerer obenauf der Bildband über den Rosenstecher Pierre-Joseph Redoute. Das Vorwort hat ihr Vater geschrieben. Stiche, sein Spezialgebiet. Rechter Hand ein Buch, gespickt mit vielen Zetteln:

    Friedrich Haustein

    Pilze

    Seine alte Pilze-Fibel, deren Neuauflage er vorbereitete. Pilze, eine seiner Liebhabereien; am liebsten wäre er Botaniker geworden. Wandern und sammeln. Wie oft hatte er sie mitgenommen!

    Schon als Kind ist sie mitgetippelt. Auch das vorbei? Die letzte Wanderung, wann war die? Spätherbst ist es gewesen.

    Auf dem Schreibtisch findet sie nichts.

    Und im Schreibtisch? Dieser Anwandlung widersetzt sich Isi. In ihres Vaters Schubfächer hineinzugreifen, nein. Sie hat es plötzlich eilig, hinauf in ihre Burg zu kommen. Mit ihren langen Schritten, zwei Stufen auf einmal, läuft sie über die Treppe nach oben.

    Der Name stammt noch aus der Schulzeit. Indessen hat sich die Burg zum Apartment gemausert. Haustein richtete es für die Tochter ein, so, wie er sie sieht: artig und stilvoll gestrig. Ob er mit dieser Beurteilung richtig liegt, steht dahin. Das Bild eines artigen Mädchens lässt sich eigentlich mit Unergründlichkeiten nicht vereinbaren.

    Isi drückt die Tür ins Schloss und ist zu Hause.

    Nicht der bemerkenswerte Wohnraum unten, nicht das ganze Haus, nicht der Garten – das hier ist ihr Zuhause. »Jugendstils hatte ihr Vater entschieden, das sei der Stil für sie. Achtzehn war sie damals, und es war gerade Mode geworden, den auf den Müll geworfenen Stil der Jahrhundertwende als antik auszubuddeln. Mit etwas Spürsinn konnte man auch als Normalverdienender noch kaufen. Die alte Burg wurde umgebaut, Wände kamen hinein, die nur aus Schränken bestanden, ein Alkoven für das Bett, und dahinter hineingezaubert das Bad. Die Tapete zog sich über Wände und Plafond, ein verwaschenes Grün. Auch grün, nur wie dunkles Moos, der Bodenbelag. Und auf die schöne, weite Fläche inmitten des umbauten Raums kamen die Stücke aus der Zeit, die Haustein zu finden verstand. Zweiunddreißig ist Isi heute, und wenn es außer ihrem Vater noch eine Liebe gibt, ist es diese Burg.

    Hier wird sie das Wochenende verbringen. Sich einigeln, ausschlafen und in einem bequemen Schlabberkittel herumlaufen. Sie legt den Hosenanzug ab und greift sich einen Hänger aus Nickisamt. Für Augenblicke steht sie nackt vor dem Spiegel. Nein, sie gefällt sich nicht. Zu dünn findet sie sich. Die Bögen der Rippen, die sich bei jedem Atemzug abzeichnen, die Rosenkranzschnur der Wirbelsäule und die flachen, langen Schenkel, die wie bei einem Knaben sind – nein. Lediglich die hohen, gotischen Brüstchen bestehen vor ihrer Kritik. Aber du liebes bisschen, bei so wenig Busen ist’s ja selbstverständlich, dass er nicht auf die Knie fällt. Angezogen, ja, da kann sie sich sehen lassen, und mit ihren Mannequinmaßen könnte sie alles, auch das Ausgefallenste tragen, wenn das ihr Geschmack wäre. Einsfünfundsiebzig misst sie. Bloß zwei Zentimeter größer ist ihr Vater. Um ihn nicht zu überragen, verzichtet sie auf hohe Absätze. Schön, eine Kleiderfigur. Aber der Kopf! Dieser Kopf... Isi vermeidet den Blick in den Spiegel. Ein großes V das Ganze. Mausgesicht auf zu langem Hals. Ihre Mutter war schön gewesen; auch ihr Vater ist ein gutaussehender Mann, weiß Gott, das ist er immer noch mit seinen sechzig Jahren; und das Produkt dieser beiden Menschen – eine graue Maus.

    Wenigstens ist die Maus intelligent. Hat den zweifachen Doktor gebaut, die Maus.

    Das Telefon läutet.

    Isi stülpt den Hänger über und läuft zu ihrem Schreibtisch, der, ein schönes Stück Jugendstil, mit harfenähnlichen Verstrebungen vorm Fenster steht. Sie nimmt den Hörer ab.

    »Haustein.«

    Eine rissige, tiefe Stimme. »Emma ruft Isi!«

    Ebbs! Emanuel Ebbs.

    Isi gibt sich munter. »Na, Sie altes Scheusal?«

    »Es ist Mai, Isi, ich röhre.«

    »Dann tun Sie was dagegen.«

    »Bin gerade dabei. Was treiben Sie?«

    »Arbeiten«, behauptet sie.

    »Ich hätte ’nen Vorschlag, Isi: Sie nabeln Väterchen ab, wir fahren raus, gehen schick essen, und als Nachtisch lassen Sie sich von Emma vernaschen.«

    »Quatschkopf, Sie.«

    »Das ist eine Offerte, Isi!«

    »Nicht die erste.«

    »Es wird Zeit, Isi. Hören Sie, was Sie mit Emma treiben, ist seelische und sexuelle Grausamkeit.«

    »Ebbs, nun tun Sie mir den Gefallen und reden Sie endlich wie ein nicht geistesgestörter Mensch.«

    »Emma war Ihre Erfindung.«

    Das stimmt. Die unleserliche Unterschrift auf seinem ersten Dienstschreiben hatte sie als Emma Ebbs identifiziert und geantwortet: Sehr geehrte Frau Kollegin.

    »Emma«, erklärt sie jetzt, »ist langsam Schwachsinn.«

    »Ich liebe Emma. Wann darf Emma Sie abholen?«

    »Gar nicht. Ich sagte es schon, ich arbeite.« Sie erzählt was von einer verunglückten Analyse, über der sie sitze. »So kann das nicht hinausgehen; die Werte sind nicht in Ordnung, und die Formulierung muss überholt werden.«

    »Doch nicht Ihr Bier.«

    »Es ist meine Abteilung, ich bin dafür verantwortlich.«

    »Arbeitsbesessene Männer«, zischt es aus dem Hörer, »sind schon ein Greuel, arbeitsbesessene Wei...«

    Sie lacht. »Sagen Sie’s nur: Weiber. Was ist mit denen?«

    »Isi...« Ein Stöhnen, selbstironisch. »Es wird Ihnen noch mal leidtun. Ich wäre nämlich zu haben jetzt, meine Scheidung ist durch, Isi.«

    »Was wollen Sie nun hören: Beileid oder Glückwunsch?«

    Wieder die Ironie: »Emma bedarf des Trostes.«

    »Warum? Mögen Sie Ihre Frau noch?«

    »Zur Hölle mit ihr! Ich bin verwundet, kapieren Sie das nicht? Mein Selbstbewusstsein ist im Eimer.«

    »Und was soll ich dabei?«

    »Streicheln, Isi, streicheln!«

    »Mal ernsthaft, Ebbs: Haben Sie Kinder?«

    »Nee. Sie wollte nicht. Vielleicht war das der Fehler. Ich hätte ihr eins aufbrummen sollen.«

    »Kinder, hab’ ich mir sagen lassen«, widerspricht sie, auch sie in der Tonart der Ironie, »sollen, wenn möglich, mit Liebe gezeugt werden. Aufbrummen, da hab’ ich die Vorstellung von Dschingis-Khan und den Hunnen.«

    In seiner Stimme gluckst ein barbarisches Lachen. »Was wissen Sie von männlicher Rachsucht...«

    »Rachsucht, höre ich?« Sie lächelt spitzmausig. »Wofür? Und gegen wen?«

    »Wenn ich Sie mal auf Tuchfühlung hab’, erklär’ ich’s Ihnen. Letztes Wort, Isi: Fahren wir raus?«

    »Nein. Keine Zeit.«

    »Und morgen?«

    »Für Sonntag«, schwindelt sie, weil sie in Ruhe ihren Gedanken nachhängen will, »bin ich meinem Vater im Wort.«

    »Na, dann ein verdammt schönes Wochenende!« Klick, er hatte aufgelegt.

    2. Das Haar

    Montag, morgens um

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1