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Tango ohne Männer: Roman meiner Mutter
Tango ohne Männer: Roman meiner Mutter
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eBook393 Seiten5 Stunden

Tango ohne Männer: Roman meiner Mutter

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Über dieses E-Book

Erzählt wird, ausgehend von Elsas Tod ihr Leben, das vielfältig verknüpft ist mit den Leben und Schicksalen der älteren Generation und, über die Erzählerin, mit dem der Tochter und der Enkel.
Der Augenblick des Todes wird für Elsa identisch mit dem Moment der Befreiung und des Glücks. Die harte Arbeit des Erinnerns, die ihre Tochter geleistet hat, geht über das Beschreiben des Gewesenen hinaus. Sie schafft einen geschlossenen Raum, in dem sich innen und außen begegnen.
Tango ohne Männer ist ein bemerkenswertes Buch.

(Waltraud Lewin in
Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999)
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Juli 2014
ISBN9783847696421
Tango ohne Männer: Roman meiner Mutter

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    Buchvorschau

    Tango ohne Männer - Christa Müller

    Zum Geleit

    Wir gingen von der Klinik in der Härtelstraße über den Roßplatz zur Petersstraße. Meine Tante Elli wischte sich von Zeit zu Zeit die Tränen ab. Ihr Gang war langsam, schwerfällig, schwankend. Sie blieb stehen um Luft zu schöpfen und mir zu sagen: Maria, am besten wir kaufen jetzt das Hemd.

    Es war der Nachmittag des achtzehnten Juli Zweiundsechzig. In meiner Erinnerung ist die Luft dieses Nachmittags stockdunkel. Ich fror. Elisabeth schob mich ins HO-Warenhaus, in dem Elsa Herrenkonfektion verkauft hatte und lenkte mich zu einem Tresen für Damenwäsche, das Totenhemd für Elsa, meine Mutter, zu kaufen. Ich suchte nach einem Nachthemd, das ihrem Brautnachtkleid von neunzehnhundertfünfunddreißig gliche, einem knöchellangen, ärmellosen, weißem Seidenkleid, das sich dem Körper faltenlos anschmiegte.

    Ich hatte es aufgetragen.

    Die Verkäuferin legte uns Nachtgewänder aus Dederon vor. Ich nahm das Schlichteste.

    I 1

    Am Ende so ein Unglück, sagte ihre Mutter. Es war das Einzige, was der heute über die Lippen kam, während Elsa an ihrem Bett saß. Elsa, die jüngste ihrer drei Töchter. Das jüngste ihrer Kinder, der Sohn, war lange tot. Ihn wünschte sie sich her. Oder sich zu ihm. Die Mädchen strapazierten ihre Nerven. Sie hatte es ihnen mehr als einmal gesagt.

    Die Mutter saß mehr, als sie lag, in den Kissen, schlürfte die Luft durch bläuliche Lippen und hatte das vielleicht zu sich selbst gesagt. War sie denn bei sich? Bei Elsa war sie nicht. So sehr Elsa bei ihr war.

    Elsa hatte gewusst, sie würde allein mit der Mutter sein. Elisabeth machte in ihrem Rattenloch, wie Elsa das Labor respektlos bezeichnete, Spätdienst, Elisabeth, die Schwarze, die Elli, der Zigeuner, die ältere Schwester. Die Älteste, Luise, lebte in Dortmund und war nur halb ihre Schwester, was Elsa niemals vergaß.

    Wir müssen uns aussprechen, dachte Elsa, fand aber die Mutter so wenig wie sonst geneigt dazu, mehr noch: Die Mutter schien ihre Anwesenheit nicht zu bemerken. Und ließ sie mit dem Satz allein: Am Ende so ein Unglück.

    Elsa erwischte an diesem Tag die letzte Straßenbahn vom Krankenhaus Dösen zur Leipziger Innenstadt ehe die Strecke wegen der Ankunft der Friedensfahrer gesperrt wurde. Je näher die Bahn dem Platz kam, der seit fünfzehn Jahren Karl-Marx-Platz hieß, den Elsa noch immer Augustusplatz nannte, um so mehr Menschen säumten die Straßenränder. Der Stadtfunk unterbrach seine Marschmusiken mit Streckenmeldungen, denen sie hätte entnehmen können, dass die ersten Fahrer die Stadtgrenze erreicht hatten, wenn sie es hätte wissen wollen.

    Zu Hause heizte sie den Badeofen und bereitete sich ein Kalmusbad. Ihre Schwiegermutter wusste die Wurzel auf Gängen über Land zu finden und schwor auf deren heilende Kraft.

    Elsa gönnte sich an diesem Abend ein frisch bezogenes Bett.

    Sie sparte mit Wäsche seit das Hantieren im Waschhaus Tortur für sie war. Ein frisch bezogenes Bett gehörte für sie zu den Genüssen des Lebens. So suchte sie sich über den hinter ihr liegenden Tag zu trösten.

    Sie öffnete das Schlafzimmerfenster einen Spalt breit. Zum ersten Mal nach dem Winter. Die Birnbäume in Noas Garten, in jahrzehntelangem Streben, die müden Stämme auf den Beeten zur Ruhe zu legen, mühsam von Schuppen und Laube daran gehindert, standen, der Frühling verlachte ihr Alter, wieder in Blüte.

    Die Dämmerung wurde dicht. Elsa spürte es glücken, dass der Schlaf sich ihrer erbarmte. Zucken durchlief ihre Glieder, Spannungen lösend.

    Sie begann, zu sinken.

    Ein Knall zerriss die Stille. Das Haus erbebte wie an jenem vierten Dezember, als Bomben die Stadt zerstörten.

    Elsa saß aufrecht im Bett, getroffen vom Luftzug. Die Druckwelle hatte das Fenster aufgestoßen, die Scheiben zitterten. Volltreffer, dachte sie. Beim Viadukt!

    Sie wartete, dass die Sirenen aufjaulten! Ihr Körper wartete, während sie sich aus dem Bett tastete, (Kein Licht machen! Die Fenster sind ohne Verdunklung!) auf jenes Heulen, das eine fallende Bombe begleitet, um sich zu Boden zu werfen, damit der Luftdruck bei der Detonation die Lungen nicht zerreiße. Reaktivierte Überlebensreflexe. Als jenes Heulen ausblieb, setzte ihr Denken ein: Der Himmel ist nicht gerötet, die Luft nicht brandig. Ich kann im Dunkeln die Baumblüten sehen.

    Aber die Luft füllte sich mit an- und abschwellenden Sirenentönen, in die sich gellende Rufe von Martinshörnern mischten. In den erleuchteten Fenstern der Vorderhäuser lauschten Menschen gleich ihr in die Nacht.

    Elsa ging in die Küche und stellte das Radio an, drehte den Sucher auf der Skala vorwärts und rückwärts. Nirgendwo rief der Kuckuck des Luftwarndienstes. Kein Programm wurde unterbrochen von der Meldung: Es ist Krieg.

    Sie kroch ins Bett zurück. Später wurde sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Sich vorzustellen dass wieder Krieg sein könnte, sie hier, Maria mit Anette aber in P. war, oder Maria getrennt von dem Kind, irgendwo! Alle voneinander gerissen. In Not. Im Tod. Sie wusste, während ihre Kehle schluchzte, dass es Vorstellungen waren, die ihr zusetzten. Aber etwas an diesem Irrwitz war wahr. O Gott, klagte es aus ihr. Schütze mir Kind und Kindeskind. Vergib uns unsere Schuld!

    Was für Schuld?

    Diese Frage in der Dunkelheit. Wie ein Riesenvogel, der auf sie niederstieß, dessen Fänge sie packten, dessen Schwingen sich gewaltig auffalteten, sie forttrugen aus ihrer schützenden Höhle in eine eisige Nacht, zu Weiten in Russland, in den Wald bei Sawina, wo Herbert mit offenen Augen im Schnee lag.

    Marias Gesicht tauchte auf, und es starrte sie feindselig an, fragte: Was hatte er dort zu suchen? Warum hast du ihn gehen lassen? Dorthin!

    Elsas Zungenspitze glitt an den Zähnen entlang, die fielen von ihren Wurzeln, glatte Perlen, die schlüpften über ihre Lippen in die Schwärze vor ihrem Munde. Als sie erwachte, wusste sie eine Zeit lang nicht, dass sie mit offen Augen in die Finsternis starrte. Dann erschrak sie. Jemand würde sterben. Immer, wenn sie im Traum die Zähne verlor, kündigte das einen Tod an.

    Morgennachrichten: Am gestrigen Abend gegen zwanzig Uhr fünfundzwanzig, stieß kurz vor dem Leipziger Hauptbahnhof der ausfahrende Personenzug nach Halle mit dem einfahrenden Eilzug von Halberstadt zusammen.

    Nachmittags meldete der Rundfunk: Neunundfünfzig Tote und hundertfünfzig Schwerverletzte.

    Menschen waren tot, die zur Ankunft der Friedensfahrer in die Stadt gekommen waren und vom Jubel im überfüllten Stadion statt nach Hause in Leichenhallen gelangten.

    Am Ende so ein Unglück, hatte Ida Teubler gesagt. Elsa hätte die Worte der Mutter nun deuten können.

    Karl Teubler, auf seinem Sterbebett, hatte von Elsas Männern gesprochen. Hatte gesagt: Verlassen wirst du sein von deinen Kerlen und von deinem Kinde.

    Sie hatte es nicht glauben wollen. Ich, zehnjährig, stand dabei und sah es ihr an und fürchtete mich vor seinen Augen, die mich von weither anblickten, als er zu mir sagte: Dir, Füchsken, wird es genauso gehen. Das ist dein Erbteil. Und sei nicht so stolz, Maria!

    Im Mai Neunzehnhundertsechzig, am zehnten Morgen nach dem Eisenbahnunglück, erlöste anhaltendes Klingeln an der Tür Elsa aus dem ohnmächtigen Staunen vor der Leichtigkeit, mit der sich ihre Zähne wiederum aus Ober- und Unterkiefer lösten, als die Zunge am Gaumen entlangglitt.

    Die Türklingel schrillte wie besessen.

    Elsa fuhr aus dem Bett, stürzte zum Fenster. Niemand stand vor der Haustür. Das Geschrill brach ab. Die Stille, die ihm folgte, war ihr fürchterlich. Als Schritte hörbar wurden, die schweren Schritte Elisabeths, im Durchgang des Vorderhauses dumpf, im Hof hell, hob das die eisige Lähmung in Elsas Brust nicht auf. Sie konnte ihre Schwester erst sehen, als die an die Ecke des Gebäudes gelangte, das quer zum Vorderhaus stand und in dem Elsa wohnte. Elisabeth hob ihr verschwollenes Gesicht und rief: Mach schnell! Das Taxi wartet. Bei dem Wort Taxi spürte Elsa einen Stich zwischen Herz und Magen, danach schien eine Nervenbahn durchschnitten zu sein. Sie sah ihre Hände nach Strümpfen und Schuhen fassen. Ihr Blick mied den Spiegel.

    Elsas Pupillen waren weit. Über ihrer Oberlippe stand Schweiß auf aschgrauer Haut.

    Elsa schloss die Tür ab. Elisabeth sagte: Vor zwei Stunden war Mutter noch bei Bewusstsein. Sie gingen zwischen Noas Apfelgarten und dem Hinterhaus, dann zwischen Noas Kirschgarten und dem Trockenplatz zum Vorderhaus und ihre Absätze klopften auf die Steine, mit denen der Hof gepflastert war und dröhnten auf dem Zement im Durchgang zur Straße.

    Sie waren durch Morgensonne gegangen. Elsa begriff es im Schatten der Häuserzeile. Dort stand das Taxi. Sie zitterte, denn sie fror.

    Was tust du mir an? Elsa dachte es nicht eigentlich. Sie dachte gar nichts. Etwas in ihr dachte. Eine Stimme, die sich Gehör zu verschaffen trachtete. Unablässig. Bis sie sie wahrnahm. Ihre eigene Stimme. Fern, hell, kindlich: Was tust du mir an?

    Was tue ich dich an? Na was? Das war die spöttische Zunge der Mutter, die nach dreißig sächsischen Jahren zwar das breitste hörder Westfälisch abgelegt, aber nach wie vor so gut wie nie einen Dativ benutzt hatte, die Elsas Klage nachzuäffen schien.

    Elisabeth legte den Arm um die kleine Schwester. Die ergab sich diesem Arm nicht. Ihre Schultern waren wie aus Holz.

    Ida Teubler lag hinter einem Wandschirm. Ihr Mund stand offen. Sie atmete schwer. Die Augenlider waren zugeschwollen. Die Haut über den Wangenknochen hatte sich lila gefärbt. Auf Stirn und Wangen lag tiefe Röte, reichte hinab in den Ausschnitt des Hemdes, aber das Kinn war weiß. Dort stirbt sie zuerst, dachte Elsa.

    Eine Krankenschwester maß der Mutter den Puls. Elsa blickte auf den Sand, der durch die Einschnürung des zierlichen Glases rann, als sähe sie das zum ersten Mal und dachte erstaunt: So ist das?

    Ganz genau so! Die gewöhnliche Antwort der Mutter. Elsas Gedächtnis lieferte sie ihr reflexhaft zu. Die Mutter lag in den Kissen und nichts deutete darauf hin, dass sie wahrnahm: zwei ihrer Töchter wachten bei ihr.

    Schüttel die Federn auf, sagte Elisabeth. Sie schob ihren Arm unter den Nacken der Mutter und hob deren Oberkörper an und Elsa tat wie ihr geheißen. Kissen und Hemd waren vom Fieberschweiß nass. Elsa drehte das Kissen um.

    Elisabeth verlangte ein frisches Hemd für die Mutter, ein im Rücken offenes Hemd, und ging der Krankenschwester zur Hand.

    Niemals hatte Elsa die Mutter so nackt gesehen. Sie blickte verzagt auf den Leib, den die Frauen entblößten, dessen großer Nabel Mittelpunkt glänzender, zu Hüften und Schenkeln verlaufender Schwangerschaftsstreifen war. Die riesenhaften, schwärzlich geäderten Brüste, herabgesunken zu diesem Narbenkranz, hoben und senkten sich im unregelmäßigen Rhythmus mühevollen Atmens. Die Brustwarzen glichen in der Färbung den Hämatomen in ihren Ellenbeugen.

    Elisabeth und die Krankenschwester legten der Mutter das frische Hemd an und wechselten das Stecklaken unter dem breiten Gesäß.

    Die Frauen gingen energisch um mit dem massigen Fleisch. Wälzten es vom Rücken auf die Seite und wieder auf den Rücken, zogen das Leinen straff und schichteten Zellstoff zwischen die gedunsenen Schenkel. Sie schienen so etwas wie Zufriedenheit zu erreichen, als sie die Decke über dem Leib glatt zogen. Die Stationsschwester kam und fragte, ob sie Frühstück wollten.

    Ja, sagte Elsa.

    Sie verspürte rasenden Hunger, tauchte den Zwieback in Milchkaffee und stopfte ihn sich in den Mund, aß auf, was eine Stationshilfe für sie und Elisabeth gebracht hatte. Für Momente irritierte sie die Weichheit in Elisabeths auf sie gerichteten Blick. Ihre Augen suchten die Augen der Mutter. Die lag unverändert und schlürfte die Luft, als dürste sie nach ihr. Elsa schien es, als blitze zwischen den geschwollenen Lidern über den Tränensäcken ein Spalt, durch den die Seele hinauslugte aus dem gepeinigten Fleisch.

    Jetzt brauchte Elisabeth nicht mehr zu bestreiten, dass zu der Mutter Gestalten kamen, die sagten: Komm mit! Sie waren Nacht für Nacht gekommen. Nun war heller Tag, und Ida Teubler sah sie hinter zugeschwollenen Lidern und redete, den Töchtern unhörbar, mit ihnen:

    Kommt ran! Meine Mädchen sind bei mich. Zwei von die Drei. Luise hats weit. Die Elli, ehe sie beim Elsken schellte, hat nach sie telegrafiert. Für die Polizei. Von Dortmund nach Leipzig gehts nicht ohne Stempel. Wie nicht von Hörde nach Aplerbeck, als wir den Franzosen hatten. Geduldigt euch!

    Willi, dachte sie wie so oft, auf dich brauch ich nicht warten. Du bist schon dort. Nun komm ich zu dich. Aber diesmal vernahm sie seine Stimme, wie sie fragte: Mutter?

    Willi!, rief sie. Williken!

    Von den Gestalten, die sie umgaben, starrte eine aus seinen Augen sie an. Es waren seine Augen. Er kannte sie nicht mehr. Sie sah es. Sie sah sich hinein in diese Augen, die sie den Rest ihres Lebens auf jenem Foto über dem Küchensofa in ihren Zwiegesprächen, die sie allein bestritt, angeblickt hatte und die beständig an ihr vorbei gesehen hatten.

    Williken!

    Mutter? Du?

    Ja Kind. Sie seufzte. Wie du mich nich anguckst! Erinnerst du dich an die Platane im Hof? Wir konnten sie vom Fenster in die Krone sehn.

    Sie hielt seinen Blick fest, um ihm zu sagen, was sie Jahre hindurch beschäftigt hatte: Wo du gefallen bist, träumte mich: Ich lag im Schlafzimmer tot, und in die Platane vorm Fenster hackten zwei Spechte auf sich los. Eins mit den Schnabel in die Brust vom andern. Die Federn ganz blutich. Die Platane war hoch wie das Haus vis-à-vis. Ist in Schutt und Asche gefallen. Vierter Dezember dreiundvierzig. Der Baum steht noch. Willi, was sächst du nix? Auch in dein Urlaub warst du stumm wie ein Fisch.

    Im Fieber stattete sie ihn mit Worten aus, tausendmal gedacht, hin und her gewendet in ihren stummen und lauten Gesprächen mit dem Toten.

    Was denn, Mutter? Was soll ich sagen?

    Der Krieg war alle und du kamst nicht zu mich nach Hause, schalt sie.

    Ich habe Gott gedankt, dass ich Schwestern hatte, die mussten nicht Soldaten werden und dass du mir nicht zusehen musstest bei dem, was ich tat.

    Lass, Willi, lass! Weißt du noch, wie du Semmeln ausgetragen hast? In weißem Zeug. Hab ich dich genäht. Hose. Hemd. Schürze, die reichte dich bis zu die Knöchel. Und das Käppi auf dein Scheitel. Alles hatte ich dich genäht. Und gestärkt mit Kloßwasser. Westfälische Klöße. Dein Leibgericht.

    Ja, sagte er und schien zu grinsen, ich war stolz, als mir der Bäcker den Korb anvertraute, aus dem ich Beutel an den Messingklinken fremder Wohnungen füllen durfte. Wenn ich in Lappland an Leipzig dachte, waren es die nach Bohnerwachs duftenden Treppen, die bunten Glasfenster auf den Etagen, die gewaschenen Fliesen der Hausflure, die schweren Türen der Häuser, die Gänge über die Dachböden von einem ins andere Haus, an was ich dachte.

    Und an die Platane, Willi? Erinnerst du dich an die Platane?

    An die Platane und den Fliederbusch. Ja.

    Er blüht, sagte die Mutter, auch wenn ich nicht mehr bin.

    Die Platane! Finnlands Wälder, Mutter, was waren die gegen die Platane im Hof. Ich konnte das nicht aushalten, ohne verrückt zu werden, so habe ich mich gesehnt.

    Lass, Willi! Denk nicht mehr dran. Weißt du noch? Du bist ein Lieferwagen gefahren, gerade mal sechzehn.

    Ein elendes Dreirad bei einer elenden Lampenschirmfirma, Mutter! Als Junge sah ich einen silbernen Vogel in einem Hangar, der extra für ihn gebaut war, wie das Rollfeld, über das unser Lehrer uns führte. Das ist die Ju! Wie er das sagte! Ein Mann kam übers Rollfeld, ganz in Leder. Mir war klar, dass er sie fliegen konnte. Ich erkannte es daran, wie er ging, wie er uns anlachte. Seitdem wollte ich fliegen. Deshalb kam der Krieg. Für mich! Damit ich Flieger wurde.

    Deinetwegen! Du bist meschugge. Denk nicht mehr dran! Fünfzehn Jahre ist der Krieg alle. Willi, du wärst jetzt vierzig. Ein Mann in die besten Jahre. Eine Stütze für deine Schwestern.

    Ich bin fünfundzwanzig. Immer fünfundzwanzig. Immer.

    Da ist eine Narbe auf deiner Brust!?

    Er lachte sein ihre Fürsorge zurückweisendes Lachen. Das war ein Messer, sagte er. Die Finnen wollten nicht, dass wir ihre Mädchen ansahen.

    Mädchen?!

    Mädchen?!, äffte er sie nach. In Sümpfen, Frösten, Schneewüsten. Mädchen!

    Wie haben wir auf dich gewartete, murmelte sie, deine Schwestern und ich.

    Du hast gedroht dem Kompaniechef zu schreiben, weil ich dir nicht schrieb. Meine Schwestern! Jede hat mir deine Angst geschildert. Ihre Sorge um dein Herz. Was hätte ich dir denn schreiben sollen? In meinem Leben habe ich keine anderen Frauen gekannt als euch. Mädchen! Vier Jahre war ich nur unter Männern. Viertausend Kilometer von zu Hause. In einem Land, wo es im Sommer nicht dunkel und im Winter nicht hell wird. Wo der Himmel dich erdrückt oder die Fressen deiner Vorgesetzten bei der Befehlsausgabe dich zur Salzsäule machen. Was hätte ich gegeben für eine, die auf mich wartet. Der Messerstich galt einem andern. Man hat uns verwechselt.

    Willis Gesicht erinnerte sie quälend an ein anderes.

    Als ich dich kriegte, dachte sie, ist mein Willem gestorben. Vom Phönix, von die Kokillen weg ins Hospital. Am Tag vom Putsch. Hörde war voll roter Fahnen. Und es knallte schon wieder. Der Krieg war alle, zu Hause gings weiter. Mir schwante, er sei bei. War aber Spanische Grippe. Als ich ihn gefunden hatte, hat er mich nicht mehr erkannt. Und als ich ihm die Augen zudrückte, war ich in Wehen. Natürlich!, dachte sie. Willem ist er ähnlich. Sein Vatta! Schon tauchte der auf. Hätte sein Bruder sein können, entblößte im Lachen die gesprenkelten Zähne. Aber sie redete zum Sohn: Die haben mich ins Hospital über Nacht behalten. Am Morgen bin ich mit dich nach Hause. Der Nabel war nicht ordentlich abgebunden. Luise ist draufgekommen. Hat deine Windel offen gemacht. Wärst mich gestorben ohne Luise. Was habe ich angestellt mit dich! Wollte dich nicht auch noch hergeben. Warst doch das Letzte, was mich von Willem blieb.

    Hinter zugeschwollenen Lidern rief sich die Sterbende Mann und Sohn herbei, Männer in der Kraft ihrer Jugend. Ihnen gesellte sich eine dritte Gestalt hinzu. Sie sah, wie in Willis kindlich werdender Miene Zorn aufglühte, wie seine Augen bettelten, wie sein Körper vor Wut steif wurde und seine Hände sich zu Fäusten ballten. Sie aber lachte. Die Gestalt hinter Willi war Teubler.

    Was ist denn, mein Schäfken?, fragte sie. Willi, mach doch kein Drama draus! Du warst alt genugens um in dein eigenes Bett zu schlafen. Allein hätte ich uns nicht durchgebracht. Das Geld verfiel. Der Franzose hielt uns besetzt. Karl Teubler hat mich geheiratet. Mit vier Kindern!

    Er hatte mich nicht lieb, klagte Willi.

    Du warst eifersüchtig, sagte sie.

    Willis Lachen gellte ihr in den Ohren. Eifersüchtig warst du! Keine Ferne hat mich vor deiner Eifersucht geschützt, wenn ich ein Mädchen ansah.

    So ist das, sagte sie. Ganz genau so!

    Seit du gefallen bist, bin ich nicht mehr froh gewesen. Als dein Vatta tot war hatte ich noch Kraft. Bei dich war ich wie ausgehöhlt von Herzeleid. Ich habe nie geweint. Salzige Tränen, hier sind sie drin. Eine Flut. Das Herz säuft mich ab wie ein Stein. Aber sag mich vorher wie du umkamst!

    In der Salzflut bin ich ertrunken. Abgeschossen überm Lyngenfjord.

    Du warst doch bei die Flak!

    Ist doch egal. Ich stand am Geschütz und im Fadenkreuz tanzte meine Messerschmidt. Ich sah mich in der Kanzel. Deutlich. Gab Feuer. Ein Wölkchen verpuffte am Himmel. Der Rest trudelte ab in die See.

    Was für ein Unsinn, Willi! Ihre Seele strengte sich an, ihn aufzuhalten.

    Willi! rief sie, was ist mit die Spechte? Habs gesehn! Mit meine Augen, die Vögel! Eins machte das andre tot. Das ist wider die Natur. Ach, wärst du bloß nicht in Krieg gegangen, schrie sie und der Atem wurde ihr knapp. Sie keuchte, als versuche sie den Entschwindenden einzuholen. Dann wandte sie sich dem anderen zu: Willem! Mit dein Tod fing alles an. Kommst aus dem Krieg und stirbst mich weg, klagte sie laut.

    Die Influenza, sagte Wilhelm bekümmert. Im Krieg bin ich dem Sensenmann entkommen. Mit der Schnauze im Dreck. Wie ein Käfer, der sich totstellt. Nur nicht den Kopf heben! In den Schlamm wühlen, in Schrapnellsplitter, in Stacheldraht, in Gaspatronen. Der Tod brüllte: Steh auf! Lauf! Sonst verreckst du! Aber ich grub meine Finger tiefer in die Erde, hielt mich fest an ihr mit Klauen und Zähnen. Taub vom Lärm sah ich die Spuren der Geschosse über mir, als ich die Augen hob. In diese Stille hörte ich dich sagen: Willem, bleib du bloß heil! Du trugst das weiße Kleid. Unter deinen aufgetürmten Locken lachtest du mich an.

    Der Tod hatte mich nicht vergessen. Schickte mir im Morgengrauen einen Feind. Ich wollte mich nicht rühren. Und musste niesen. Ich nieste wie verrückt. Der oben am Trichterrand legte an. Ich hob die Hände übern Kopf. Frater! schrie ich. Nix schießen! Ich rappelte mich hoch. Ich kroch zu ihm hinauf. Sein Bajonett auf meiner Brust. So kam ich aus dem Krieg. Frau! Ich wollte unsere Töchter heranwachsen sehen und unsere Urenkel noch. Ich habe kein Gewehr mehr angerührt. Auch nicht gegen Freikorps und Reichswehr. Ich bin malochen gegangen. Du weißt es.

    Ja. Ich habe Kappus gekocht. Jeden Tag Kappus. Füllte dich den Henkelmann, als du in Phönix gingst. Sagte dich: Willem, mach kein Unsinn! Die Augen glänzten dich. Der geht jetzt zu die Barrikaden, dachte ich. Es war das Fieber. Das Kind stieß mich, als ich zu dich rannte. Wollte raus, sein Vatta sehn, bevor der sich davonmacht.

    Kommst aus den Krieg und lässt mich allein mit die Kinder.

    Frau! Du hattest so viel Kraft.

    Willem, vier Jahre habe ich niemanden angeguckt.

    Wilhelms sommersprossiges Gesicht erheiterte sich. Nein doch! So eine Wilde wie du?

    Nur mit dir. Glaubs! Kaal Teubler bekam mich erst in der Hochzeitsnacht. Stimmt doch! Kaal? Ihr Erinnern tastete nach seinem Schattenbild.

    Der Schatten flüsterte: Quäle dich nicht. Das hatte Karl Teubler nach dem Blutsturz geröchelt, mit dem sein Leben endete.

    Nach und nach stellte sich in ihrer Brust ein Gefühl ein, als bahne die Salzflut, die ihr Herz erdrückte, sich einen Weg durch die Augen ins Freie. Die Töchter, die bei ihr saßen, vernahmen nur den stockenden Atem. Die Tränen löste die Hitze des Fiebers in den Zellen des Fleisches für immer auf.

    Weine, sagte Karl Teubler. Das macht dich leicht. Leicht musst du werden.

    Kaal, sagte sie, die Hochzeit mit dich war mein Pakt mit das Leben. Er gildete nicht mehr, als du dann tot warst.

    Als Willi tot war, sagte er sanft.

    Wie kannst du mich das sagen!

    Du hast ihm gehört.

    Ja, dachte sie.

    Du lagst bei mir, aber warst nicht bei mir, du lauschtest dem Atem des Jungen. Sogar, als wir eine eigene Kammer hatten, entging dir keine Regung nebenan. In keinem Augenblick.

    Ja, dachte sie. So ist das. Genau so. Hast du doch wissen gemusst! Eifersüchtig warst du. Sie fasste ihn fest ins Auge. Sein schwindsüchtiges Aussehen verlor sich. Er wurde zu jener Person, die eines Tages ihre Küche betreten hatte, um ihr eine Versicherung aufzunötigen. Er steckte in einem maßgeschneiderten Anzug, das hatte sie auf den ersten Blick gesehen. Davon verstand sie was. Der Versicherungsvertreter Karl Teubler sagte: Sie haben vier Töchter! Willi trug Kleidchen, das ließ den Rivalen noch unerkannt. Was wird aus denen, wenn ihnen, meine liebe Frau, etwas zustößt?

    Sie hatte schallend gelacht, er sie verständnislos angeblickt und plötzlich gestrafft vor der Nähmaschine gestanden, hinter der sie saß, um das Leben für sich und die Kinder zu verdienen. Aus seinem makellos reinen Hemdkragen war Röte vom Halse zu den tadellos rasierten Wangen gestiegen. Er hatte nicht begriffen, weshalb sie lachte und ganz begriff sie es auch nicht. Vielleicht, weil er gesagt hatte: Meine liebe Frau!

    In einer Aufwallung mütterlich schwesterlicher Zärtlichkeit wusste sie, dass es um Versicherungsangelegenheiten nicht ging, als er, seinen halt- suchenden Blick auf das Schwungrad der Maschine gerichtet, sie mit Strenge fragte: Haben Sie diese Singer schon abbezahlt?

    Sie war versucht gewesen, ihn zu fragen, ob denn sein schöner, grau-wollener Anzug bezahlt sei. Doch sie sah seine glühenden Ohren unter den geschorenen Schläfen und das spiegelglatt aus der Stirn gebürstete Haar mit dem messerscharfen Scheitel und dort die verletzliche Kopfhaut, muschelweiß. So wenigstens an Sonntagen auszusehen, hatte Wilhelm sich vergeblich bemüht. Dieser Teubler aber sah wohl jeden Tag so aus.

    Mein Herr, ich tätige niemals Abzahlungsgeschäfte, sagte sie. Alles was sie hier sehen, gehört mich! Er wurde noch dunkler. Sie trug nur eine Wickelschürze und sein Blick irrte über ihre bloßen Arme, zu ihrem Hals, in den Schürzenausschnitt, wo dicht beieinander ihre Brüste lagen, unter die sie die Arme geschlagen hatte. Sein Blick wagte sich hinter den Lidern hervor. Sie wich diesem Blick nicht aus. Ein Zug in seiner Miene erschloss sich ihr nicht. Fast ein Grinsen, halbseitig zwischen Nasenflügel und Schläfe. Nur zu sehen in einem bestimmten Lichteinfall. Unwillkürlich glitt ihr Blick hinab zu seinen glänzenden Schuhen, als verberge sich in einem der Huf. Später tauchte dieser Moment in ihren Zweifeln auf, wenn sie sich fragte, was eigentlich er bei ihr, die sechs Jahre älter war und älter noch aussah, suche.

    Kaal, fragte sie jetzt, als wir nach Leipzig gingen, träumte mich, das Elsken ist schwanger und ihr Kind ist von dich. Der Traum hat mich gepeinigt, bis das Kind da war, das Füchsken. Gott sei Dank hatte es Willems Haut und Haar.

    Gespenster hast du gesehen, sagte er tonlos.

    Sollte ich mich nicht Gedanken machen? Abend für Abend war Elsa für die Versicherung auf die Beine. Zur gleichen Zeit wie du.

    Er lachte. Nacht für Nacht kamst du in mein Bett gekrochen. Du hast mich bewacht. Je länger wir zusammen lebten, je größer die Mädchen wurden, um so klarer kam es ans Licht: Du warst eifersüchtig auf deine Töchter. Jede von ihnen hätte für meine Frau gelten können. Wenn ich mit Elsa durch die Stadt ging, stürzten sich die Fotografen auf uns „Hochzeitsreisende". Sie hatten alles, deine Töchter, was du nicht mehr hattest. Und du hattest, was keine noch hatte! Nämlich drei Kinder allein durch den Krieg und dann vier durch die Inflation gebracht. Du warst wie eine Löwin. So stark, so unerschrocken. Du warst, wie ich hätte sein wollen. Du warst die geborene Geschäftsfrau. Und wäre ich zu Gelde gekommen, hätte ich dir einen Modesalon eingerichtet. Du konntest das: Mit Geld umgehen und mit Leuten.

    Ja. In meine Küche. Zwischen Ausguss und Nähmaschine. In Hörde. In Halle. In Leipzig. Kaal. Sie werden meinen Sarg auf deinen stellen. Wird nicht viel übrig sein von. Ich habe Willem überlebt und dich und Willi auch. Ich will die Augen zumachen, und es soll ewig dunkel bleiben.

    Ihr Körper war in Hitze. Sie hörte ihren eigenen Atem laut und schwer und entfernt die Stimmen ihrer Töchter, die nicht darüber einig werden konnten, ob man das Fenster offen oder geschlossen halten solle.

    Hinter ihren geschwollenen Lidern gewann eine lange entschwundene Gestalt Konturen, und sie gönnte es sich, sie in der Pracht all dessen erstehen zu lassen, was sie als Mädchen den Kopf verlieren ließ: ein baumlanger Kerl! Weißblond der Schopf und sein Vollbart. Sonnenverbrannt. Augen, blau wie ein wolkenloser Sommerhimmel, lachten sie unter der Schiffermütze an und hinter den Lippen zwei Reihen kräftige, unverfärbte Zähne, bei deren Anblick sie damals eine Gier auf ihn überfiel.

    Geertje, sagte sie, du hast mich gesagt, ich bin deine Frau! Du hast mich ein Kind gemacht und sitzen lassen! Die Luise nämlich. Wegen dem Königin-Luise-Tempel, nach dem du mich gezerrt hast.

    Gegenwärtig war ihr der Geschmack seines Mundes, seiner Haut, die nach Salzwasser roch und nach Teer aus den Planken des Lastkahns, mit dem er den Kanal von Emden herauf gekommen war. Gegenwärtig die Weite eines Himmels in seinen Augen, nicht zu finden bei den Männern, die im Schacht arbeiteten. Alle Bitterkeit der Demütigung durch seine, von ihr so erlebte, Unredlichkeit, abgelagert in ihrer Seele, darauf Hass auf

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