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Im Bernstein: Roman
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eBook295 Seiten3 Stunden

Im Bernstein: Roman

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Über dieses E-Book

Die Journalistin Isa Becker ist in die Landschaft ihrer Kindheit zurückgekehrt, hat eine Ideenagentur gegründet und eine neue Liebe gefunden: Greg. Für ein Feuilleton-Projekt fliegt sie nach St. Louis/Missouri, um über Mark Twain zu arbeiten. Als sie dessen Schriften gegen den Krieg entdeckt, löst dies eine intensive Beschäftigung mit den Briefen ihres Vaters aus, der Nationalsozialist war und im Osten gefallen ist.
Begleitet von Selbstzweifeln, dringt sie immer tiefer in seine Geschichte ein, legt sie Schicht um Schicht seines kurzen Lebens frei und kommt dem Geheimnis näher, das ihre Mutter in einen frühen Tod trieb. Die Frage nach den Ursachen für seine Begeisterung, die Isa bis zu den Gräberfeldern Russlands führt, mündet in der Auseinandersetzung mit dem Irakkrieg.
"Kein Krieg ist zu Ende. Er setzt sich fest und zeugt sich fort", heißt es im Buch. Die Autorin nähert sich diesem Phänomen in einem zwischen den Genres wechselnden Text und lässt authentische Dokumente und Fiktion, Zeit- und Liebesgeschichte ineinanderfließen. Der Roman führt an die Ufer des Mississippi, der Donau und der Wolga und lenkt den Blick abseits der historischen Ereignisse auf drei vielfach aufeinander bezogene Frauenschicksale. Brita Steinwendtner erzählt von Irrwegen und Hoffnungen im Rad der Geschichte.
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum15. Nov. 2013
ISBN9783709977552
Im Bernstein: Roman

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    Buchvorschau

    Im Bernstein - Brita Steinwendtner

    Isa.

    MISSISSIPPI

    Isa hieß eigentlich Isolde.

    Auch wenn es heiß war, liebte sie lange Ärmel.

    Sie ging durch ihr Leben und war noch nicht angekommen.

    Augusthell wurde sie geboren, aber was für ein Tag ist heute.

    Und einmal, als sie einen neuen Anfang suchte, wieder einmal einen Anfang, faßte sie einen Entschluß, den andere und sie selbst zwar als lächerlich und unsinnig empfanden, den sie aber schließlich als Konsequenz verteidigte, an den sie sich mit der Zeit gewöhnte und den sie gegen alle berechtigten Einwände als eine Art von Befreiung deutete: Sie nahm den Vornamen Isa an und verbot allen Freunden, sie Isolde zu nennen.

    Isolde, klebriges Nolimetangere im Hirn, hingeschleuderter Samen im Sommer. Klette an den Knochen. Isa scheute sich jedoch auch jetzt noch, die Entscheidung ihrer Eltern gänzlich zu mißachten, das Glück der ersten Gewißheit, die Ungeduld des Erwartens und das zärtliche Fragespiel um Geschlecht und Namen. So hatte sie nach einem Wort gesucht, das dem ursprünglichen nahe war.

    Isolde ist doch ein schöner Name, sagte Gunther, der Bruder. Sie war eine irische Königstochter, sie war sechzehn und trieb es mit Tristan, aber sie kann nichts dafür, daß ein Diktator sie mißbrauchte. Der Name ist doch unschuldig wie jeder andere.

    Glaub ich nicht, Gunther. Der Mißbrauch dringt ins Mark der Worte.

    Du machst alles so halb-halb, Soldi. Wenn du schon mußt, dann nenn dich gleich Adelheid oder Yvonne oder Beverly.

    Nein, sagte Isa, nicht ganz anders. Nur ein kleines Zeichen setzen. Ich bin noch nicht fertig.

    Womit?

    Mit den gebrochenen Flügeln.

    Isa suchte also, wie so viele, einen Neubeginn.

    Es war nicht ihr erster.

    Der Vater war im Krieg gefallen. Die Mutter starb, als sie vierzehn war. So wuchsen Isa und Gunther bei den Großeltern auf. Nach der Hauptschule begann Isa zunächst eine Schneiderlehre – daß du dich durchbringen kannst, wenn wieder Krieg ist, hatte die Mutter gesagt –, wechselte schließlich in die Oberstufe eines Gymnasiums und studierte später in Wien Biologie. Sie wollte sich auf Insekten spezialisieren. Nach drei Semestern brach sie ab und begann ein Studium der Geschichte und Philosophie, das sie ebenfalls nicht beendete. Anschließend ging sie für ein Jahr als Au-pair-Mädchen nach Paris, dann nach Los Angeles.

    Als sie mit fünfundzwanzig nach Wien zurückkehrte, nahm Isa eine Stelle bei einer Tageszeitung an. Sie machte, da sie flexibel und schreibbegabt war, schnell Karriere. Nach einigen Jahren schickte man sie als Korrespondentin nach Frankreich und ernannte sie, als sie zurückkehrte, zur stellvertretenden Leiterin der Kulturredaktion mit Schwerpunkt Ausland. Als sie dreiunddreißig war, heiratete sie den aufstrebenden Rechtsanwalt Laurenz Becker.

    Nach acht Jahren wurden sie geschieden.

    Dann kamen die Jahre der Libertinage. Dann kam der Überdruß.

    Schließlich verließ sie Wien und kehrte nach Oberösterreich zurück, wo sie geboren und aufgewachsen war, und gründete in Linz ihr eigenes Büro.

    So schnell ließe sich ein Leben erzählen.

    So läßt es sich nicht erzählen. In einem Labyrinth entscheiden nicht die Schritte zwischen den Hecken, sondern die Besessenheit, den Ausgang zu finden. Und die Zeit trägt einmal die Farbe des Bernsteins und einmal Nachtschwarz.

    „Idea-Agency Isa E. Becker" stand auf dem Messingschild neben dem Eingang. Die Agentur lag im vierten Stock eines Linzer Bürgerhauses aus dem 17. Jahrhundert an der Ecke Hauptplatz–Klostergasse. Die Fenster gingen nach Sonnenaufgang und nach Süden, es war hell. Der Parkettboden trug die Schritte vieler Generationen. Die hohen Räume bargen den Atem derer, die hier gelebt und geliebt hatten.

    Es war gut, selbständig zu sein. Kein täglicher Streit mehr um Silben, Zeilen und zunehmende Popularisierung. Keine Intrigen. Der Einfall zu diesem Büro für Ideen, die etwas abseits, aber dennoch in der Luft lagen, die das Augenmerk unterschiedlichster Magazine und ihres jeweiligen Publikums erregen konnten, war Isa aus naheliegenden Gründen gekommen. Schon als Journalistin war sie dafür bekannt, auch beneidet worden, daß sie in den Redaktionssitzungen die besten Ideen hatte und die interessantesten Themen vorschlug, die in der Folge aber häufig von Kollegen bearbeitet wurden, was sie erboste. Ihr Gespür für Aktualität wußte sie nun zu ihrer eigenen finanziellen Basis zu machen.

    Im Lauf der Jahre hatte sich Isa einen Namen gemacht und arbeitete für internationale Zeitschriften und Hochglanzmagazine. Die rigorose Sparpolitik der Medienkonzerne – weniger Mitarbeiter, Auslandsreisen, Aufwandsentschädigungen – war ihre Chance: Sie machte die zeitraubenden, aufwendigen Recherchen im Vorfeld, erstellte Treatments, manchmal sogar handliche Booklets, und überließ den jeweiligen Redaktionen die kostensparende Ausführung. Die Idea Agency brachte ihr zwar keinen Reichtum, aber Isa konnte ganz gut davon leben. Und sie gab ihr die Freiheit und das Vergnügen, sich nur mit Themen zu beschäftigen, von denen sie glaubte, daß sie sie selbst weiterbringen würden.

    Wohin, das wußte sie selbst nicht. Aber weiter in der Geschichte ihres Lebens, im Aufglimmen und Verlöschen ihrer Hoffnungen. Vielleicht auch in ihrer Geschichte mit Greg.

    Isa bewohnte ein kleines Haus außerhalb von Linz, in einem Dorf, das fast schon zum Vorort der expandierenden Stadt geworden war. Das Hügelhaus, wie sie es nannte, lag über dem Rodltal, durch das der starke Pendlerverkehr morgens ab halb sechs Uhr Richtung Linz zog und spätnachmittags über den Saurüssel wieder zurück in das nordwestliche Mühlviertel strömte. Der Wind trug den Lärm bis zu ihr hinauf, aber, durch eine Reihe von Fichtenbäumen abgeschirmt, sah sie die Autokolonnen nicht, und sie gewöhnte sich so sehr an das Rauschen, daß sie es nicht mehr hörte. Nur das dreimalige Tuten der Lokalbahn riß sie mitunter aus dem Schlaf, wenn der Zug den Berg abwärts bremste und sein Signal ausstieß, bevor er die Landstraße kreuzte.

    Rund um das Haus standen Obstbäume, uralt, gebrechlich manche, mit Misteln befallen oder mit großen Löchern in den Stämmen, in denen Wespen und Insekten wohnten. Im Herbst trugen die Äpfel schwarze Rinnspuren vom regennassen Moos und den Flechten der oberen Äste. Eine Malerin hatte dieses Haus in den ersten Nachkriegsjahren erbauen lassen. Auf den verworrenen Wegen des Lebens fiel es später an Isas Großmutter. Es war feucht im Keller und an der Nordseite, porös die Wände aus der schlechten Zeit, undicht die Fenster, aber von einem Zauber, der alles andere unwichtig machte. Da geht mir das Herz auf, hatte die Großmutter immer gesagt, wenn sie hier war. Ja, aufgehen wie eine böhmische Buchtel aus Germ-teig, dachte Isa, und sie war glücklich.

    In Sommernächten saß Isa oft spätabends noch auf der Hausbank, die nur ein abgegriffenes Lärchenbrett war. Die Wärme des Tages drang vom Mauerwerk her in ihren Rücken, die Wärme und ein Vertrauen, das sie eins werden ließ mit den funkelnden Sternen, den ortlosen Gräbern und mit dem Plan ihres Lebens, ganz einfach eins werden, auch wenn es das nicht gab und es trotzdem war.

    In den Fugen der Wände lag Erinnerung.

    Die Mutter hatte sich in den letzten Jahren ihres Lebens während der Sommermonate hierher zurückgezogen, und Isa, damals zehn, zwölf Jahre alt, war immer mit gewesen. Gunther war schon mit seinen Freunden unterwegs.

    Sommer, Hitze, Badeschaffl aus Blech zum Kühlen der Haut, Heuduft, Bauernbrot, reifendes Obst. Dorfkinder, Schlehdornhecken und Waldversteck, erste Berührungen und wache, schwüle Nächte, in denen die Hitze vom Dach in die Räume niederstieg und sich die Vorhänge erst im leichten Morgenwind zu bewegen begannen. Schleier über den Erwartungen.

    Isa liebte diese Sommer.

    Zugleich waren sie, über das erste Erzittern von Haut und Lippen hinaus, noch auf andere Weise irritierend und doppelbödig. Allein mit ihrer Mutter, keimte in Isa etwas auf, das sie nicht benennen konnte, das sie aber in sich aufnahm wie die Luft über den verdorrenden Wiesen. Etwas, das wahrscheinlich immer schon in ihr gewesen war, ein dunkler Untergrund, der in das Neugeborene eingesunken sein mochte seit jenem Augenblick, als die Mutter die Todesnachricht aus Rußland erhielt, ihre Trauer jedoch weiter auszuholen schien, in etwas Unsagbares hinein.

    Es war das Nicht-an-das-Leben-glauben-Können.

    Es war der Verlust eines Vertrauens, das wir brauchen, um sagen zu können: ich und die Welt. Es war die Stille, in der die Mutter umging. Das sanfte, das leisere Lachen. Es war das Neigen ihres Kopfes, wenn ihr feines, blondes Haar über die Wangen fiel. Es war die in den leeren Raum noch weiter ausschwingende Bewegung nasser Hände nach dem Abstreifen an der Schürze; Bewegung, die im Unbestimmten, Nutzlosen verlief. Und es war die zärtliche Traurigkeit, die wie der Flügelschlag eines Insekts war, wenn die Mutter abends über Isas Stirne strich.

    Nicht, daß die Mutter bedrückt gewesen wäre. Sie war eine fröhlich wirkende Frau, unternehmungslustig und beliebt. Es gab damals auch einen Stiefvater. Er kam nie ins Hügelhaus. Er war nur eine Episode. Die Mutter erzählte selten, aber mit Innigkeit vom Vater. Mitunter zündeten sie eine Kerze an und sprachen von Rschew, wo er in russischem Land lag, das sie nicht kannten. Aber in diesem innigen Beisammensein der heißen Sommer ahnte das heranwachsende Mädchen, was es bedeutet, ohne Liebe zu leben.

    Isa begann zu begreifen, daß ein Krieg nicht vorbei ist, wenn er vorbei ist.

    Im Haus auf dem Hügel stand auch das Köfferchen, in dem die Mutter die Briefe des Vaters, Fotos und andere Dokumente gesammelt und aufbewahrt hatte. Isa schenkte ihnen, als sie jung war, wenig Beachtung.

    Es war das Kommende, das damals zählte. Die Verlockungen des Unbekannten, die Verführungen der eigenen Bilder und der eigenen Ziele.

    Was war, soll gewesen sein.

    Studienjahre und Welteroberung. Ein Stückchen Draußen.

    Juliette-Gréco-Schwarz und Flower-Power, Menthe und Levis 501, Le Figaro und New York Times, Jean-Paul Sartre und John Wayne’s Western.

    Par avion, Hüte tragen, Laufschuhe kaufen.

    Keine Doppelpunkte setzen, keine Punkte, nur Beistriche und fort und fort.

    Und dann eine schnell geschlossene Ehe.

    Die ersten Jahre.

    Über Glück läßt sich nichts sagen.

    Sie waren erfolgreich, sie paßten in das Wirtschaftswunder. Zunächst die Karriere und die Partys, das MG-Coupé und der Urlaub im Club Méditerranée. Dann der Plan für Kinder. Aber da war es zu spät. Da war die Liebe fortgezogen und zerstäubt im Verdacht. Zerschlagen in der Lüge.

    erst habe ich mich umgebracht

    dann bin ich wieder aufgewacht

    dann habe ich mich umgebracht

    dann bin ich wieder aufgewacht

    dann habe ich mich umgebracht

    dann bin ich wieder aufgewacht

    dann habe ich

    Was bleibt von einem Leben, fragte sich Isa manchmal, wenn das Holz in den Balken des Hügelhauses knackte und sie erschrak und sie sehr allein war. So vieles vergessen. Nein, nichts ist vergessen. Doch, das meiste ist versunken, gelöscht. Deleted. Nach unseren eigenen, ständig wechselnden Tastaturen. Wir sind Wilderer unseres Gedächtnisses, Pragmatiker unserer Wünsche, Designer der eigenen Biographie.

    Und was wird bleiben von einem Morgen mit dir, Greg, es ist noch nicht lange her, draußen trillerten sich quer über den Garten hinweg zwei Meisen an, antworteten sich in unterschiedlichen Tonlagen, so fröhlich und bestimmt sangen sie in den anbrechenden Tag hinein, in das weiche Licht eines Morgens, der den Frühling ankündigte, warme, warmkalte und kalte Schwaden von Luft strichen durch die geöffneten Fenster über die Betten, lesen und deine Hand, den Absatz noch einmal lesen und deine Hand, die Zeilen springen und deine Hand und dann deine Wärme und das Weiche und Harte deines Körpers und draußen fallen jetzt die Amseln in den Gesang ein, und wo sind die Gedanken, bei dir, bei einer ungelösten Aufgabe, beim Klang des Wortes Wolga, bei dir, bei blauen Lavendelzeilen, beim Wegblasen einer Wimper, und schneller der Atem, versunkene Welt und nur unser Atem und das Hineingraben in die Dunkelheit deiner Schulter, in die Beuge zwischen Schulter und Hals, in der dein Herz pocht, alles Licht muß ausgesperrt sein, dein Atem in meinem Haar. Und irgendwann dann Helligkeit über unseren Gesichtern, das Moped des Zeitungsausträgers, das Schlagen einer Tür. Wohligkeit unter den Daunen, die Luft streicht durch das Zimmer, aus dem Bad das Rauschen des Wassers, es wiegt mich ein, treibt mich fort in den Dämmer des Halbschlafs, und später, irgendwann, weckt mich der Schrei der Krähen, die sich jagen.

    Isa war nicht mehr jung, aber noch jung genug, um nicht alt zu sein. Ihr blondes Haar, das sie zu einem Zopf, der ihr über den halben Rücken fiel, flechten konnte, hatte Glanz und Fülle. Die langen Röcke und die hochhackigen Schuhe, die sie gerne trug, betonten ihre zierliche Figur und ließen sie größer wirken, als sie war. Sie hatte genug Ideen. Sie hatte wieder Pläne. Nach elf verlorenen Jahren in Wien, nach einigen Affären, in die sie sich nach der Scheidung von Laurenz gestürzt hatte, nach gespielter Heiterkeit und prekären Hürden eines neugewonnenen Single-Lebens, war sie endlich nach Linz und in das Hügelhaus übersiedelt und hatte neu begonnen. Eines Tages eine neue Liebe gefunden. Greg. Wer weiß, was daraus wird. Das Leben verlief wieder in zielgerichteten Bahnen wie damals, als sie noch Schnittmuster für Skihosen und Anzüge gezeichnet hatte.

    Auf Isas Schreibtisch lagen unterschiedliche Projekte: über das Leben der Künstler und der High Society auf der Insel Sylt, über augenlose Lurche und Salamander in den Höhlen der Alpen und schließlich eine Studie, der ihr derzeitiges Hauptinteresse galt: der Vormarsch der deutschen Truppen über Minsk und Smolensk auf Moskau zu und der anschließende Rückzug bis an die Ufer der oberen Wolga bei Rschew, wo die Angriffslinien beider Seiten zum Stillstand gekommen waren. Trotz der Fülle an Schriften und Filmen über Stalingrad, über die Wehrmachtsausstellung, über Hitlers Helfer, Frauen und Attentäter und die Suche nach der Schuld der Väter, glaubte sie an die Notwendigkeit solcher Recherche, für die sie auch persönliche Gründe hatte.

    Für heute versperrte Isa ihr Büro. Sie schlenderte über den Linzer Hauptplatz, kaufte das erste Eis des Jahres, einen Bund weißer Tulpen und die New York Times und fuhr nach Hause.

    Es wird Krieg geben, stand als Überschrift zu lesen.

    Diesmal im Irak. Befürchtungen, Drohungen, Beschwichtigungen.

    Sie ging vor das Haus, streifte die Schuhe von den Füßen und setzte sich auf das Lärchenbrett an der Hauswand. Schaute ins Rodltal, das ihr verhäuselt und verhüttelt zu Füßen lag. Siebenstätters zimmerten ein neues Dach, im Garten von Schierlingers drehte sich der Sprinkler langsam hin und her. Die Hochwasserkatastrophe des vergangenen Jahres – viele Häuser bis zum ersten Stock unter Wasser und Schlamm, das E-Werk kaputt, das einzige Lebensmittelgeschäft überflutet, Tausende Setzlinge der Baumschule weggeschwemmt, die Straßen aufgerissen – schien nach außen ohne Spuren vorübergegangen zu sein. Aber Isa wußte, daß Ehen fast zerbrochen waren, Ersparnisse eines Lebens weg waren und Kinder einen Schock für ihr Leben haben würden. Aber irgendwo lachten andere Kinder, die Vergißmeinnicht erinnerten nur an Blau, der Nußbaum setzte Knospen an, Bienen summten, Käfer paarten sich, nichts fror, alles lebte.

    Greg.

    Das war das Lachen. Er hieß eigentlich Gregor, aber zwei R waren ihr zuviel.

    Greg, das war das Unerwartete. Der schwarz glänzende Stein, den man findet, wenn die Flut auf den Sand schlägt und für kurze Zeit das Strandgut des Zufalls anspült, bevor sie Zentimeter um Meter das Ufer erobert und nimmt, was ihr nicht gehört. Er war die Muschel, die man ans Ohr hält und in der man im vermeintlichen Rauschen des Meeres das Rauschen des eigenen Blutes hört, im großen Befremdlichen das kleine Vertraute.

    Sie hatten sich vor fünf Jahren bei Freunden kennengelernt. Sonntags-Brunch in einer Dreizimmerwohnung an den Hängen des Pöstlingbergs, Smalltalk über Politik und Wetter, ein paar Verhältnisse und ein paar Scheidungen. Unter ihnen glitzerte die Donau, ein Frachter stromauf, einer stromab. Greg stand an das Geländer des Balkons gelehnt, ein Glas Prosecco in der Hand, auch ihr war langweilig, eine klassische Filmszene. Sie lachten, er hatte etwas entwaffnend Selbstverständliches und sagte: Verzeihen Sie, aber die großen Ohrringe stehen Ihnen nicht gut, ich glaube, Ihr schönes Gesicht ist schöner ohne.

    Greg hatte irgend etwas mit Technik zu tun, Isa hatte nur zerstreut zugehört. Denn es war seine Stimme, die sie traf. Es war die Art, wie er sprach. Es lag eine distanzierte Ironie darin, die ihr wohltat. Keine verletzende, auch keine oberflächliche Ironie, sondern eine, die Zäune wegzuräumen imstande war. Und sie dachte: Dieser Mann reißt Pflöcke in mir nieder. Lindert meine Schreckensbilder.

    3. Julmond 1942

    Hier kam gestern Alarm. Das Gefecht begann um 4.00 Uhr. Wir schlugen zurück, und so sind in 3 Tagen ungefähr 300 russische Panzer vernichtet. Wir liegen einer russischen Elite- und Stoßtruppe gegenüber, die mir zerschlagen scheint, wenigstens ihre Panzer.

    Heil dem Führer

    Écoute, hatte schon damals in Paris eine Freundin zu Isa gesagt, du hast zu viel Tod erlebt. Der Vater gefallen, die Mutter an Kummer gestorben, die Großmutter, so wie du sie beschreibst, immer schon in den Fängen des Dieu Thanatos. Und dann dieses ominöse Köfferchen mit Briefen aus dem Krieg, vergiß es, wirf es ins Wasser!

    Parce que, je t’assure: tu es toi, toi même! Du hast dein eigenes Leben, schau, daß du da rauskommst!

    Und Marie-Claire hatte ihr die Karten aufgeschlagen und ihr zwei große Liebesverhältnisse vorausgesagt. Und dann waren sie auf Profiteroles mit heißer Schokolade gegangen und ein Jacques-Brel-Imitator sang „Ne me quittes pas …", und dann saßen sie unter den Laternen am letzten Spitz der Isle de la Cité, die Seine war nicht zum Ertränken und das Rauschen der Weiden über ihren Köpfen zum Auf- und Davonfliegen.

    Erzähl mir mehr von dir, sagte Greg. Er hatte Isa von ihrer Idea Agency abgeholt.

    Sie waren für das Wochenende unterwegs nach Waxenberg.

    Ein leerer Erinnerungsraum.

    Isa gefiel das. Vielleicht ein guter Anfang.

    Der Abend war lau, als sie in Richtung böhmische Grenze fuhren, vierundzwanzig, fünfundzwanzig Grad, obwohl erst Mitte Mai. Zwischen Gramastetten und St. Veit führt die Straße über eine der vielen Mühlviertler Hochflächen. Die Wiesen im Giftgrün des Frühlings. Im Grün der ersten Stärke, des Übermuts. Nie wieder in diesem Jahr wird es so grün sein.

    Und über dem Gras der Schleier. Ein Licht, das ein Schleier ist. Über den Wiesen, den Wäldern, Höfen, Scheunen, den Wegen vom einen zum andern. Entrückt alles. Die Luft zwischen Erde und Himmel: ein gelblicher Schleier. Hüllt den Horizont ein, hüllt die untergehende Sonne ein, die nur mehr eine diffuse Scheibe ist. Verborgene Wahrheit.

    Keine Menschen sind zu sehen. Sie sind verzaubert, vielleicht in einen Stein, vielleicht in den Klang einer leisen Violine, in die Myriaden von Birken- und Fichten-Blütenstaub-Teilchen, die weich und ohne Naht und ohne Not in einer beiläufigen Geste des Alls Erde und Himmel einhüllen, verschmelzen im Gelb ihrer selbst. Flug der Sehnsucht an den Saum des Glücks.

    Erzähl mir von dir.

    Greg hat das Dach seines BMW geöffnet.

    Es läßt sich gut erzählen in vorbeifliegender Landschaft.

    Alles in Bewegung.

    Alles nicht so wichtig.

    Die Perspektiven wechseln, je nach Richtung, Seite, Geschwindigkeit, Lichteinfall, Wohlbefinden oder Übelkeit.

    Das Leben ist so.

    Erinnerung ist so.

    Nichts, dem man trauen dürfte.

    Isa erzählt.

    Aber man kann ein Leben nicht erzählen.

    Man kann Geschichten daraus machen.

    Sie müssen nicht wahr sein.

    Ich hol dich da raus, sagt Greg.

    Woraus?

    Aus deinen Erinnerungen, deinen Kriegen und deinen Toden.

    Tod hat keine Mehrzahl.

    Aber die Menschen, die er trifft.

    Vielleicht brauch ich ihn.

    Sicher nicht, Isa. Du brauchst die Liebe.

    Sie lachen. Der Motor ist leise, die Automatik schaltet, seine Hand ist frei. Die Landschaft ist eine schöne Kulisse für ihr erstes, tastendes Versteckspiel. Sie fragen und antworten und suchen zu verbergen, daß da etwas entstehen könnte, an das sie beide nicht mehr glaubten.

    Du brauchst mich nirgends herausholen, sagt Isa nach einer Weile.

    Warum nicht?

    Weil ich nicht drin bin.

    Warum erzählst du mir dann davon?

    Du hast mich gefragt, Greg.

    Ja. Und ich weiß jetzt, daß dein Vater in Rschew gefallen ist und daß es ein Rätsel gibt, das mit ihm und deiner Mutter zusammenhängt und das du zu ergründen suchst.

    Sie hat mir etwas verschwiegen. Vielleicht war es nur eine Kleinigkeit.

    Das wirst du nicht mehr erfahren.

    Ich möchte es aber.

    Es war Krieg, Isa. Da ist

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