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Flucht zurück: Eine Auswandererkindheit
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eBook116 Seiten1 Stunde

Flucht zurück: Eine Auswandererkindheit

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Über dieses E-Book

Mit dem Blick eines alten Mannes schildert Pepi Feichtinger die Erlebnisse eines Auswandererkindes und den langen Weg zurück in die Heimat, die erst Heimat werden muss. Das Erinnern geschieht in Bruchstücken, einiges bleibt vergessen, vermeintlich Vergessenes tritt scharf zutage. Doch die Genugtuung, überlebt zu haben, blitzt aus allen Erinnerungen, auch aus den trostlosen.
Die sogenannte Option stellte die deutschsprachigen Südtiroler 1939 vor die Wahl, ins Deutsche Reich auszuwandern, oder in der Heimat zu bleiben und sich der geplanten Italianisierung durch das faschistische Regime auszusetzen.
Josef Feichtingers Vater entschied sich für die Auswanderung. "Waren die Feichtinger Nazis?", fragt sich der Autor und lässt die Frage offen. In der bruchstückhaften Erinnerung des damals Fünfjährigen tauchen andere Bilder auf: die neue Heimat in Oberösterreich, die Abwesenheit des Vaters, das Schmierestehen, während die Mutter Feindsender hörte. Nachdem der Vater als gefallen galt und der Krieg zu Ende war, machen sich Mutter und Sohn auf den Weg zurück: Es ist eine Flucht vor der Heimatlosigkeit, vorbei an den Ruinen des zerbombten Österreichs, getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Raetia
Erscheinungsdatum15. Dez. 2017
ISBN9788872836408
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    Buchvorschau

    Flucht zurück - Josef Feichtinger

    trostlosen.

    Die Umsiedlung

    Auszug aus Laatsch

    Das Unheil lässt sich festmachen: Am 30. Mai 1940 meldet sich mein Adoptivvater Franz Feichtinger in der Gemeinde Mals ab. Der vierte Optant aus der Fraktion Laatsch, der einzige ohne Hausnummer. Der halb ausgebaute Schießstand auf dem Falzeron ist eine Notunterkunft. Falzeron heißt ein steiniger Hügel unter einer düsteren, verrottenden Felswand, am Ende des lang gestreckten Dorfes an der Schotterstraße ins Münstertal. Der Schießstand, nie fertiggestellt, war im Besitz einer Bauernfamilie, die ihn Vater überließ, mit der Auflage, ihn bewohnbar zu machen.

    Der „Spengler-Franz" – viele Familien betrieben als Nebenerwerb ein Handwerk – war ein Bauernsohn aus Flutsch, dem letzten Winkel am Dorfende. Geduckte, oft fantasievoll geflickte Dächer, kleine Fenster, rätische Toreinfahrten, die rechts zu Stall und Scheune, links zur Wohnung führen oder umgekehrt – schön für Liebhaber, die nicht dort wohnen.

    Zum Bauernknecht vorgesehen, in einer Familie, die nichts vorsieht. Sieben Pflichtkinder hatten seine Eltern, nach Aufmunterung des Ortspfarrers. Das Anwesen ist keineswegs ärmlich, guter Mittelstand nach Laatscher Maß, trotzdem gibt es nicht für jedes Kind einen Fleck Wiese. Franz Feichtinger hat keinen Beruf erlernt, aber Autofahren, irgendwo im Unterland, das für Laatscher dort beginnt, wo der Blick talabwärts an den verqueren Berghängen hängen bleibt.

    Er hat eine zierliche Frau mitgebracht, aus Lana. Zu Silvester zweiunddreißig hatten sie geheiratet, beide Jahrgang neunundneunzig, beide Dienstboten. Was hatte die gelernte Weißnäherin mit Zeugnis zum Hilfsarbeiter ohne Zeugnis gezogen, der nichts hatte außer einem schwarzen Schnurrbart? Die Einsamkeit versprengten Lebens in Dienstbotenzimmern? Mutter hat nie darüber gesprochen, tastende Fragen abgeblockt, ihr ist die Jugendzeit weggebrochen.

    Über ihre neue Heimat redete sie auch als alte Frau eher abfällig: Kuhfladen in den Gassen, schmutzblinde Fensterscheiben, ungelüftete Stuben, Stallgestank in der Kirche. Pflichtgottesdienst jeden Sonntag, giftige Betweiber, unter dem Kopftuch geflüsterte Gemeinheiten gegen die Zugezogene. Und Dorfgockel, die auch unter dem Faschismus Macht ausübten. Vater hatte einmal einen Lärchenstock ausgegraben, der einen Waldsteig behinderte, in elender Schinderei. Als er die Brocken heimtransportieren wollte, stellte sich ihm ein Mitglied der Interessentschaft in den Weg und drohte mit den Carabinieri, wegen Holzdiebstahl. Vater hätte ihn …, wenn ihn nicht ein Kollege …! Beim wiederholten Erzählen wechselte Mutter den Familiennamen des Missgünstigen. Es gab wohl mehr als einen im Dorf.

    Nach fünf Jahren erfolgloser Ehe, im Frühjahr achtunddreißig, adoptierten die Feichtinger einen Jungen, gerade einen Monat alt, Josef getauft, aus der Meraner Gegend, Mutters Sehnsuchtsland. Sie war drei Jahre lang von Spital zu Spital geschoben worden, ein unerklärlicher Schmerz im linken Knie. Der Schmerz verschwand, es blieben Operationsnarben und ein steifes Knie. Ihr Gelübde, ein Kind anzunehmen, wenn sie wieder schmerzfrei wäre, hat sie gehalten. Und der Franz, das wiederholte sie, sei in den kleinen Pepi verliebt gewesen und habe manche Sauferei nach erfolgreichem Schmuggel gestrichen.

    Der Franz war ein gerissener Schmuggler, mit einem Riecher und einem Ortsgedächtnis und einer Kaltblütigkeit, wie sie nur wenige im Schmugglerparadies Obervinschgau aufweisen konnten.

    Laatsch ist meine früheste greifbare Spur: Ein Foto zeigt ein weißes Bündel in der Bildmitte, neben den Eltern, vor dem Schießstand. Auf zwei weiteren bin ich schon etwas älter, und Mutter hält mich – im Hintergrund das Dorf Laatsch – gut verpackt auf dem Arm, ein Muttersöhnchen.

    Von diesem Ort gibt es erste Erzählungen von einer Geiß, die auf den Rat einer alten Bäuerin für mich eingestellt worden war, da ich auch verdünnte Kuhmilch nicht vertrug. Es gab Grund zur Sorge: das Seppele – ein Hascherle? Diese Unverträglichkeit verschwand bald, die Eltern atmeten auf.

    Die Geschichte vom italienischen Finanzer im Ziegenstall: Mutter hängte vor dem Haus Wäsche auf, da erschienen an einem Vormittag drei Herren in ziemlich neuen Uniformen, grüßten mit ausgesuchter Höflichkeit und zeigten den Hausdurchsuchungsbefehl – Schmuggel! Es liege ein Hinweis vor.

    Mutter, die italienisch sprach wie Andreas Hofer, spielte die Gekränkte, da sie wusste, dass kein verbotenes Stäub-chen zu finden war. Sie fragte den Typen mit einem Sternchen am Kragen, wieso ihr ehrbarer Name in solchen Verdacht gekommen sei. Er antwortete freundlich: Amtsgeheimnis.

    Als sich die Herren, das Kind herzend und die fraulichen Brüste abschätzend, verabschieden wollten, entdeckten sie im Ziegenstall, wo ein Böcklein auf seine Verwandlung in einen Braten wartete, einen verdächtigen weißen Sackzipfel. Mutter lachte herzlich beim späteren Erzählen: Der Jüngste musste mit Märtyrermiene in diese Gestankhölle kriechen. „Der hat drei Tage gestunken, das schwöre ich!"

    Vater wurde nachdenklich. Ein Hinweis? Ein Verräter ist, wer Namen preisgibt, böswillig oder für Lire. Das ist ein tödliches Verbrechen. Man hörte damals manchmal Schreie gefangener Schmuggler aus der Finanzkaserne in Mals, die mitten im Dorf liegt.

    Erinnerungsfetzen: Wir brauchten Holz, Ziegel, Zement. Und zu essen, für drei. Vater arbeitete bei einem Holzhändler, der auch ein Sägewerk besaß. Ein Name irrlichtert durch die Erinnerung: Hieß er Capolini, der Holzfresser mit faschistischem Wolfshunger auf die schönen Wälder der Fraktion Laatsch? Er hat Vater entlassen, deutschsprachige Arbeiter störten.

    Es gab damals keine regelmäßige Arbeit. Zwar staubten Lastwagen durch das Dorf mit Material für die Bunker, die Mussolini, der sonst nichts hatte, dem Vinschgau schenkte. Doch da arbeiteten ausschließlich Italiener. Und vielleicht zwei, drei Deutschsprachige, Mitglieder der faschistischen Partei, mit verwelschten Familiennamen. Der Name Feichtinger war widerspenstig.

    Vater wurde Optant.

    Er hatte nichts zu verlieren, Heimatliebe ist eine Romantugend.

    Für den Bauernsohn war Bauer-Sein das höchste, aber er besaß keinen Fleck Boden. So sah er sich wohl als Besitzer auf einem schönen Hof, irgendwo draußen, als Herr über Dienstboten, wie es die Nazipropagandisten farbig ausmalten. Das wäre zugleich die beste Vorsorge für das Büblein, das diesen Besitz einmal erben würde.

    Mutters Haltung war nicht so eindeutig. Das beweist ihre unwirsche Antwort auf diesbezügliche Fragen: „Was weißt du? Hast in die Windeln gemacht, damals!"

    So redeten alle.

    Mutter fühlte sich als Deutsche und wollte nicht welsch sterben, wie sie sagte.

    So dachten alle.

    Sie sah aber die Auswanderung als wirtschaftlichen Zwang und billige Gelegenheit für die Gemeinden, Habenichtse loszuwerden. „Sie haben uns hinausgeschoben, sagte die alte Frau, nicht ohne Bitterkeit. Für manche der „Besseren in Laatsch galt Armut als Schande. Der Franz war jahrelang im Dienst gewesen, irgendwo „unten", wie die Obervinschger sagen, im reichen Teil Südtirols. Er hat aber nichts heimgebracht. Im Dorf hieß es: Wozu hat er sich eine Familie zugelegt! Eine Halbstädtische aus dem Unterland und einen Fratz, der nicht ihm gehört. Es wäre besser, wenn die zwei unten geblieben wären.

    So war Auswanderung der einzige Ausweg aus der Laatscher Misere. Sie verschärfte sich durch Vaters Arbeitslosigkeit. Mutter musste damals ungewaschene Lodenhosen flicken für Milch und Brot, sodass sie sich wie eine Bettlerin vorkam. Weißnäharbeit, feine Hemden und Wäsche oder gestickte Decken, konnte und wollte sich in Laatsch niemand leisten.

    Berührungsängste vor Fremden hatte Mutter keine. Sogar einen Neuanfang als Bäuerin hätte sie riskiert, sie kannte die Bauernarbeit aus Sommeraufenthalten im Ultental. So konnte sie zur Not Kühe melken und Butter schlagen. Und für die Schmutzarbeit wurden in

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