Rettung vom Totenwagen: Als Zweijähriger aus dem KZ Bergen-Belsen in die Schweiz
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Über dieses E-Book
Doch Peter kann sich an diese Zeit nicht erinnern. Erst als alter Mann beginnt er, der Geschichte seiner jüdisch-orthodoxen Familie nachzuspüren. Er kehrt zurück auf das Gelände des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, wo ihn der geheime Transport einst hinbrachte, und schliesst so Stück für Stück seine Erinnerungslücke. Peter Iczkovits gehört zu den letzten Zeugen des Holocausts – den Kindern.
Von seinen aussergewöhnlichen Erlebnissen hat er der Historikerin und Journalistin Katrin Schregenberger berichtet, die seine Erzählungen – ergänzt durch umfassende historische Recherchen in Schweizer Archiven und in der Forschungsliteratur – hautnah erfahrbar in den historischen Kontext einbettet. Hierbei verdeutlicht sie, dass das Judentum auch in der Schweiz nicht gegen Antisemitismus gefeit war – und welche Rolle die Schweizer Behörden dabei spielten.
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Buchvorschau
Rettung vom Totenwagen - Katrin Schregenberger
AUFSTIEG UND BEDROHUNG
Peter Iczkovits sitzt an seinem Schreibtisch in Zürich-Wiedikon, an dem er lieber sitzt als zu Hause, denn er steht hier, in der Firma, die er mit Abertausenden Arbeitsstunden seines Lebens erbaute und die nun sein erstgeborener Sohn Chanan führt. Dieser telefoniert im Hintergrund, auf Englisch, Hebräisch, Schweizerdeutsch und Französisch. Peter hievt ein Bündel auf die Tischplatte und schält es aus dem weissen Tuch. Ein Buch kommt zum Vorschein, gross wie ein Fotoalbum, ledergebunden, dick wie ein Backstein. Den Buchdeckel ziert eine Prägung in goldenen Lettern: Peter J. Iczkovits. «Ich müsste das Buch neu binden lassen, es sind neue Dokumente und Bilder aufgetaucht», sagt er, hüstelt, richtet seine Kippa und schlägt den Deckel auf.
Auf dem Titelblatt prangt eine Illustration, sie zeigt den Hammer eines Richters. Darunter steht auf Deutsch: «Fakten: Warum ich hier bin», auf Englisch: «Facts: Why did we survive (Warum wir überlebt haben)», auf Hebräisch: «Ich sterbe nicht, ich lebe und ich kann meine Geschichte erzählen».² Er blättert. Auf der ersten Seite ist die Fotografie eines lachenden einjährigen Blondschopfs eingefügt. «Das war ich in Ungarn», sagt Peter.
Er fährt fort: «Nachdem ich jetzt pensioniert bin, habe ich mehr Zeit, mich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Und das Puzzle, es kommen einfach immer neue Teile dazu, und es wird immer interessanter. Ich glaube kaum, dass am Schluss dann dieses Puzzle mit 3000 kleinen Stückli, dass das dann alles ineinanderpasst. Das glaube ich nicht.»³
Das ganze Puzzle seiner Familiengeschichte hat Peter binden lassen, darin alte Fotografien, ein Röntgenbild einer kindlichen Lunge, Kopien von Briefen seines Vaters an verschiedenste Ämter, an die Fremdenpolizei und an Entschädigungsbehörden, ausserdem Passkopien seiner Eltern, seiner Grosseltern, Bürgerurkunden, sogar die Kopie einer Urkunde, die sein Urgrossvater Lipót damals 1885 in Ostungarn bekam, als er seinen Militärdienst geleistet hatte.
Peter sagt: «Alles begann mit Lipót», und blättert zu einer Fotografie von 1905. Sie zeigt eine Familie vor der Fassade eines ländlichen Hauses, in der Mitte sitzt ein Mann mit Zylinder und buschigem Bart. «Da ist er, zwischen seinen Füssen steht eine Weinflasche, warum wissen wir nicht. Das sind seine Frau und seine Kinder, er hatte drei Söhne und drei Töchter.»
Lipót ist die ungarische Version des Namens Leopold. Er gehört Peters Urgrossvater, jenem Vorfahren, der die Familie Iczkovits ins goldene Zeitalter der Industrialisierung führte, die das «Vorher» so prägte.
1884 gründet Leopold Iczkovits mit einunddreissig Jahren einen Kaufmannsladen in Tótkomlós, einer Kleinstadt in Südungarn.⁴ Bald spezialisiert er sich auf Maschinen, der Laden wird zum Kaufhaus. In dem Maschinenkaufhaus, das an der Hauptstrasse der Stadt liegt, finden die rund 8500 Bewohner ab der Jahrhundertwende Nähmaschinen, später folgen Landwirtschaftsmaschinen. Es geht bergauf für alle, die auf Industrialisierung setzen, während es für die alten Eliten, für den Adel, der in Ungarn zu jener Zeit führend ist, bald bergab gehen wird. Da die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, damals eines der grössten Länder Europas, Reformen und Industrialisierung verschleppt, trifft der fast mittelalterliche Lebensstil von Adel und Bauern bald auf eine neue Schicht von Industriellen. Und diese Spannungen werden zu Problemen führen.
Doch das weiss Leopold noch nicht, als er sich auf einen hölzernen Stuhl niederlässt, um für jene Fotografie zu posieren, die Peter einst in sein Buch einsortieren wird. In Gedanken setzen wir uns zu ihm, stellen uns vor, was ihn stattdessen beschäftigt haben könnte.
DAS GEBETBUCH, TÓTKOMLÓS 1905
Als Leopold Iczkovits an diesem Tag dasitzt, auf einem Stuhl, und sich nicht bewegen darf, während zwei Hände auf seiner Schulter liegen, jene seiner Frau und jene seiner ersten Tochter, und während sein Sohn Franz an ihm vorbeischaut, starr den Horizont fixierend, da beginnt ihn sein Gebetbuch in die Rippen zu drücken.
Schon einige Minuten steht und sitzt die ganze Familie da, steif und unbeweglich, damit die Fotografie möglichst scharf wird. Wie immer trägt Leopold das Gebetbuch, das so klein ist, dass es leicht in eine Hand passt, in der Innentasche seines Mantels. Gerne würde Leopold es aus seiner Tasche nehmen, er tut es aber nicht. Schon oft drückte das Büchlein gegen seine Brust, seinen Bauch, vor allem als er als Infanteriesoldat dem königlichen Heer diente. Er erinnert sich an seine Zeit in der straffen Uniform, die zu tragen seinem Vater noch verboten gewesen war.⁵ Und er erinnert sich an die grünen Wälder des Tokajer Gebirges mit seinen Burgen, an der Nordgrenze des Reiches, wo er stationiert war. Zwanzig Jahre ist das jetzt her, die Urkunde, die seinen Dienst bescheinigt, beginnt bereits zu vergilben.
Leopold erlaubt sich ein Blinzeln, dann schaut er wieder starr geradeaus, denn diese Fotografie soll scharf werden. Sie soll zukünftige Generationen daran erinnern, was die Familie Iczkovits erreicht hat. «Gott sei Dank dürfen wir im Ungarn des Jahres 1905 leben», sagt Leopold zu sich.
Er denkt daran, wie er vor über zwanzig Jahren hierherzog, nach Tótkomlós. Wie er die erste Nähmaschine in dieses Dorf brachte, das erste Fahrrad. Er denkt an seinen Vater, der ihm beigebracht hatte, nie, niemals den Glauben an die Zukunft zu verlieren. Unwillkürlich drängt sich ein Bild in seine Gedanken, verdunkelt seine Augen, die das Objektiv der Kamera fixieren. Ein Bild seiner Fantasie, genährt von den Geschichten seines Vaters, seines Grossvaters. Das Bild einer lachenden Fratze. Von Bauern mit Knüppeln und Mistgabeln. «Es ist ein Wunder», denkt er, «dass sein Grossvater genau dann in der Religionsschule in Moskau weilte, als in seinem Heimatdorf im Osten die Judenhatz losging. Dass er entkam.»
«Das ist zum Glück für immer vorbei», denkt Leopold weiter, blinzelt erneut und schiebt das Bild beiseite. Er will seinen Nachfahren keinen tristen Eindruck hinterlassen. Denn die Zukunft verheisst Gutes.
DAS JUDENTUM IN DER DOPPELMONARCHIE ÖSTERREICH-UNGARN
Das ungarische Judentum sticht zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch zwei Merkmale hervor. Erstens: Jüdische Ungarn sind in der ökonomischen Entwicklung und Industrialisierung des Landes seit dem 19. Jahrhundert so federführend wie in keinem anderen europäischen Land.⁶ Zweitens: Viele ungarische Juden sehen sich als flammende Patrioten.⁷
Seit der rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Bürgerinnen und Bürger im Jahr 1867 setzen viele alles daran, vollständig mit der ungarischen Gesellschaft zu verschmelzen. Das gilt nicht nur für liberale Jüdinnen⁸ und Juden, sondern auch für Orthodoxe, die zu dieser Zeit ein Drittel des ungarischen Judentums ausmachen.⁹ Viele Familien sind im 18. Jahrhundert aus Osteuropa eingewandert, oft im Zuge der Flucht vor judenfeindlichen Pogromen. Die Familie Iczkovits hat 1905 denselben Weg hinter sich.
Die Familienlegende besagt, dass der Urahne «Leib» einst – es muss um 1800 gewesen sein – aus Russland vor der Judenverfolgung floh. Er fand in Oroszkomoróc, einer Stadt in den Karpaten, damals Ostungarn, heute Teil der Ukraine, ein neues Zuhause. Seinem Sohn Abraham fiel dann die Aufgabe zu, einen Nachnamen zu wählen, wie es das Gesetz in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn verlangte.¹⁰ Wie kam Abraham auf den Namen «Iczkovits»? Die Mehrheit der Juden nahm den Vornamen ihres Grossvaters an. Abraham griff hingegen auf den Vornamen des Urgrossvaters zurück, und der war «Icig» – die jiddische Variante des Namens Isaak. So kam Abraham auf den Namen «Iczkovits».¹¹
Es ist Abrahams Sohn Leopold – Peters Urgrossvater –, der von Ostungarn nach Südungarn zieht und dort ein Maschinenkaufhaus eröffnet, nachdem seine Dienstzeit im kaiserlich-königlichen Heer beendet ist. Österreich gehörte zu den ersten Ländern in Europa, die in der Neuzeit Juden als «wehrwürdig» ansahen und zum Militärdienst einzogen.¹²
Dass Leopold vom Osten in den Süden des Landes, von den Bergen in die Tiefebene zieht, hängt laut der Familienlegende mit dem grossen Hochwasser in Szeged von 1879 zusammen, das 95 Prozent der Stadt zerstörte.¹³ Der damals 24-jährige Leopold, so heisst es, trommelte 300 Handwerker zusammen und reiste mit ihnen über 300 Kilometer nach Szeged, um beim Aufbau der Stadt zu helfen. Südungarn, genauer Tótkomlós, 50 Kilometer von Szeged entfernt, bleibt fortan sein Schicksal.
Als Leopold Iczkovits in den 1880er-Jahren ein Maschinenkaufhaus eröffnet, hat er zur richtigen Zeit den richtigen Riecher. Wir befinden uns nun in der ungarischen Tiefebene, der Boden ist flach, so weit das Auge reicht, und die einstige Steppe wird zunehmend für die Landwirtschaft genutzt.¹⁴ Er verkauft zuerst Nähmaschinen und Fahrräder, bald aber auch Dreschmaschinen und Traktoren, die immer gefragter sind. Um die Jahrhundertwende treibt die orthodoxe Familie Iczkovits also die Industrialisierung des Königreichs Ungarn voran, eine Rolle, die zu jener Zeit vielen Jüdinnen und Juden zufällt. Denn die alten wirtschaftlichen Eliten zeigen kein Interesse daran, das veraltete Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu modernisieren, da sie gegenwärtig davon profitieren. Viele jüdische Familien hingegen haben sich in der Landwirtschaft finanziell abgesichert – und streben nun in den Mittelstand.
Urgrossvater Leopold expandiert, baut kurz vor dem Ersten Weltkrieg neue Lagerhallen und Geschäftsgebäude, errichtet eine Maschinenwerkstatt und eine Tankstelle.¹⁵ Seine drei Söhne rücken bald nach. Der erstgeborene Sohn Franz – der Grossvater Peters – übernimmt nach der Jahrhundertwende zunächst die Leitung der Maschinenhalle und lebt mit seiner Frau in einer Wohnung direkt daneben. 1909 kommt sein Sohn Alfred auf die Welt, später Tochter Blanka.
Doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Er wuchtet die Welt aus den Angeln.
Wir wissen nicht, ob unter den zwanzig jüdischen Männern aus Tótkomlós,¹⁶ die im Krieg als Soldaten dienen, auch der junge Franz ist. Was wir wissen: Leopold, 61-jährig, Franz, 32-jährig, und Alfred, 6-jährig, erleben alle drei die Zeit des Ersten Weltkriegs. Sie erleben, wie die Lebensmittel knapp werden und die Menschen zunehmend auf die Juden zeigen, in denen sie die Schuldigen sehen.¹⁷ Ausserdem, wie die Doppelmonarchie an der Seite des Deutschen Reichs kämpft – und verliert. Die Folgen dieser Niederlage erlebt Leopold, der im Frühling 1918 stirbt, nicht mehr. Franz und Alfred hingegen werden direkt in den Strudel gezogen, der für ganz Europa in einem Albtraum enden wird.
Noch im gleichen Jahr erfasst der Strudel auch die Kleinstadt Tótkomlós.
DAS POGROM, TÓTKOMLÓS 1918
«Nieder mit den Juden, nieder mit den Reichen!», schreien die Soldaten, die Bauern, sie schreien es und legen in ihre Schreie den ganzen Frust und Hass, die Not und das Leid, die der Erste Weltkrieg und das ganze marode System der Doppelmonarchie über sie brachten. Am Mittag dieses 1. Novembers 1918 haben sie sich zusammengerottet in Tótkomlós, in dem zu jener Zeit knapp eineinhalb Prozent der Bevölkerung jüdisch ist.¹⁸ Sie haben sich getroffen, um zu demonstrieren, wie es viele im Land tun. Darunter sind auch Soldaten, die in Russland Kriegsgefangene gewesen waren und nun, im Zuge der Russischen Revolution, freigelassen wurden.¹⁹ Sie schiessen in die Luft und grölen.
In einem jüdischen Laden verlangen einige Soldaten Streichhölzer und Zigaretten, doch statt Streichhölzern entzündet sich hier ein verheerender Streit. Vielleicht benehmen sich die Soldaten rüpelhaft, vielleicht sind sie auf Provokation aus, vielleicht hat der Ladenbesitzer keine Zigaretten. Wir wissen es nicht. Was wir durch Nachforschungen eines ungarischen Historikers aus Tótkomlós wissen, ist, dass der Ladenbesitzer die Soldaten nicht bedienen kann oder will und diese daraufhin anfangen zu wüten.²⁰ Einer zertrümmert das Schaufenster und verteilt alle Waren, die sich darin befinden, auf der Strasse. Die Soldaten verprügeln den jüdischen Mann, sie plündern und zerstören. Diese Zerstörungswut nehmen sie mit auf die Strasse und stecken die Menge an. Stundenlang zieht der Mob durch das Städtchen und zerstört ein jüdisches Geschäft nach dem anderen.
Wir wissen nicht, wie die Familie Iczkovits diesen Nachmittag erlebt, Peter ist diese Geschichte nicht überliefert. Vielleicht verlässt die Familie die Stadt für die Dauer des Pogroms, wie es viele jüdische Familien tun. Oder vielleicht verbarrikadiert sich Franz mit seiner Familie. Was wir wissen, ist, dass der Mob auch das Maschinenkaufhaus Iczkovits plündert und zertrümmert, um aller Ordnung ein Ende zu bereiten. Sicher ist, dass Franz und Alfred am nächsten Tag eine Schadensbilanz ziehen müssen und erfahren, dass der Kantor der Synagoge im Zuge des Pogroms erschossen worden ist.
*
Das Pogrom, das am 1. November 1918 in Tótkomlós ausbricht, entlädt sich im Rahmen der sogenannten Asternrevolution. In den letzten Tagen des Oktobers 1918 protestieren Bürgerinnen und Bürger im ganzen Land, vor allem aber in der Hauptstadt Budapest. Soldaten desertieren zuhauf und schliessen sich ihnen an,²¹ es kommt zu Kämpfen zwischen der Polizei und den Demonstranten. Sie fordern eine demokratische Regierung. Karl IV., der letzte König von Ungarn, gibt schliesslich nach.
Der neuen Regierung fehlt aber die Macht, für Recht und Ordnung zu sorgen in einem Land, das politisch, sozial und moralisch kollabiert.²² Die Soldaten und Bauern, die durch die Strassen von Tótkomlós ziehen, sind wütend, weil sie den Krieg verloren haben, aber sie waren auch vor dem Krieg schon unzufrieden, denn Ungarn verschleppte Reformen zu lange. Die Wut entlädt sich auch in Judenpogromen, jenes in Tótkomlós ist das grösste im ganzen Verwaltungsbezirk.
Die jüdische Bevölkerung zog aus zwei Hauptgründen die Missgunst der unteren Bevölkerungsschichten auf sich. Erstens: Viele Jüdinnen und Juden passten sich kulturell stark an, was den ethnischen Minderheiten im Vielvölkerreich ein Dorn im Auge war, die für ihre Selbstbestimmung kämpften. Zweitens hatten die jüdischen Bürgerinnen und Bürger mit Gunst des Adels die Industrialisierung des Landes vorangetrieben und damit auch dem Kapitalismus Vorschub geleistet, denn dies war der Weg, der ihnen Integration und gesellschaftlichen Aufstieg versprach.²³ Doch vor allem auf dem Land herrschten noch mittelalterlich-feudalistische Strukturen, der Adel verhinderte eine Demokratisierung und soziale Veränderungen. Die Bauern sahen vom Fortschritt wenig. Für viele galten Jüdinnen und Juden deshalb als Inbegriff von Kapitalismus und kultureller Unterdrückung, während der regierende Adel gewissermassen hinter diesem jüdischen Feindbild verschwand.
Nach dem Ersten Weltkrieg muss Ungarn zwei Drittel seines Territoriums abgeben,²⁴ nachdem sich verschiedene Nationalitäten von der Monarchie abspalten.²⁵ In vielen Ungarinnen und Ungarn löst diese Verkleinerung ein historisches Trauma aus, das sich Jahrzehnte später im Zweiten Weltkrieg entladen wird. Der Zerfall der Monarchie führt zudem zu vielen arbeitslosen Beamten,²⁶ die nun auf die bisher jüdisch dominierten Arbeitsfelder schielen. Die wirtschaftliche Schieflage des Landes befeuert die antisemitische Stimmung noch zusätzlich. 1920 wird ein Numerus clausus für jüdische Studenten eingeführt – es ist das erste antijüdische Gesetz in Europa.²⁷ Doch nicht nur in Ungarn nimmt die Judenfeindlichkeit zu – sie ist längst in ganz Europa spürbar.
Für die Familie Iczkovits geht es vorerst trotzdem aufwärts, denn nun verkaufen sie auch: Automobile.
FÜNF NACH ZWÖLF, TÓTKOMLÓS 1925
Franz Iczkovits, nun ein Mann im besten Alter und Mitbesitzer des Maschinenkaufhauses Iczkovits, knöpft seinen schweren schwarzen Mantel auf und klaubt eine Taschenuhr, eine Schweizer Uhr, aus der Westentasche. Wir wissen, dass er eine solche besass, sie wird einst an Peters Weste baumeln. Doch bleiben wir bei Franz.
Franz geniesst das Gefühl, die glatte, schwere Uhr in der Hand zu halten, betrachtet zuerst die Schrift hinter den Zeigern – International Watch Co.