Ich will Dich tragen: Auf dem Todesmarsch von Birkenau nach Buchenwald
Von Jehuda Berkovits
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Ich will Dich tragen - Jehuda Berkovits
Berkovits
I. TEIL
IN DEN TODESLAGERN
Birkenau – Frühjahr 1944
Es dämmert schon, als unsere Gruppe von etwa 300 bis 350 Männern – darunter einige Jungen unter zwanzig – von der Laderampe geführt werden. Wohin der Marsch geht, weiß ich nicht. Eigentlich weiß ich nichts. Ich weiß nicht, wo die Viehwaggons – 20 bis 25 Waggons mit je 80 bis 100 Personen – ankamen. Ich weiß nur, dass ich gestern gegen Abend, als unser Zug langsam durch eine Bahnstation fuhr, durch einen kleinen Spalt die Aufschrift KRAKOW sah – obwohl die Fenster mit Brettern und Stacheldraht verschlossen waren.
Jetzt marschiere ich den Bahnsteig entlang und weiß nicht, wo wir sind. Wohin meine Mutter Serena Berkovits (1907) geführt wurde sowie meine Schwester Judit Berkovits (1928), mein Bruder Miklos Berkovits (1933), mein Großvater mütterlicherseits Vilmos Berkovits (1862), meine Tante Amalie Rosenblüth (1900), ihre drei Töchter Irene Berkovits (1922), Jolan Berkovits (1925), Rachel Berkovits (1927) und ihr Sohn Juda Berkovits (1931) und all meine vielen Verwandten und Bekannten – keine Ahnung, wohin sie gehen mussten. Ich weiß nicht, wer diese Gestalten in gestreifter Kleidung sind, die uns mit den SS-Soldaten und mit Stöcken in Fünferreihen ordnen wollen. Ich weiß nicht, wer der Offizier in SS-Uniform ist und welche Bedeutung es hat, dass er die aus den Viehwaggons geworfenen Menschen mit einem Wink mal nach rechts, mal nach links schickt. Die Menschen werden wie Tiere aus den Wagen geworfen, aber all ihr Gepäck mit den Wertsachen – Schmuck, Goldmünzen, Papiere und anderes – muss im Waggon bleiben. Ich weiß auch nicht, was dieser ungewöhnlich niedrige und breite Schornstein ist, aus dem hohe Flammen in den dunklen Himmel herausschlagen, aber wir marschieren jetzt in diese Richtung. Ich weiß auch nicht, wo dieser fürchterliche Gestank um uns herkommt. Es riecht wie eine Mischung aus Abwasser und verbranntem Fleisch, aber noch viel übler und ekeliger.
Wortlos und stolpernd gehen wir beim Zwielicht der Flammen. Ich, Jehuda Berkovits (geboren 1930), gehe etwa in der Mitte der Gruppe, am linken Rand, hinter meinem Vater Benedikt Berkovits (1899). An seiner Rechten schlendert sein Bruder, mein Onkel Jenõ Berkovits (1895), mit seinem Sohn, also meinem Cousin Jakob Berkovits (1929). Wir gehen durch ein weit geöffnetes Tor mit Stacheldraht und kommen zu einem Gebäude. Wir müssen rein. Drinnen wird befohlen, dass wir uns nackt ausziehen. Die SS- und Wehrmachtssoldaten und jene mit den gestreiften Kleidern begleiten die Befehle mit Prügel. Die Schuhe muss man mit den Schnürsenkeln brav aneinander binden, die Kleidungsstücke ordentlich zusammengefaltet auf die Schuhe legen, alle Wertsachen wie Schmuck, Uhren, Geld und Papiere geordnet vor die Schuhe legen. Nun wird uns mitgeteilt, dass wir in die Dusche gehen und danach zurückkommen würden. Man mahnt uns sogar, uns unsere Nachbarn beim Auskleiden gut zu merken, damit wir unsere Sachen leicht wiederfinden können. Die Tür wird geöffnet und wir müssen in einen weiteren Raum gehen. Das geht natürlich mit Prügel. Anscheinend gehört hier Prügel immer dazu. Prügel bekommen wir alle, wer aber die deutsche Sprache nicht versteht, bekommt eine doppelte Portion, um zu lernen, sich schneller zu bewegen und die in der verfluchten Sprache erteilten Befehle auszuführen. Hier sind Bänke vorbereitet. Wir setzen uns und werden von Barbieren in Behandlung genommen. In Minutenschnelle scheren sie uns kahl, befreien uns von Bart und sämtlichen Haaren am Körper. Von hier treiben sie uns in die Dusche. Jedem wird ein Stück Seife in die Hand gedrückt mit dem Aufdruck RIF, etwa so groß wie eine Zündholzschachtel. Nach der Dusche wird im nächsten Raum jedem eine gestreifte Hose, ein gestreiftes Hemd, eine gestreifte Mütze und ein Paar Schuhe mit Holzsohlen zugeschmissen und man treibt uns sofort aus dem Raum ins Freie. Draußen graut schon der Morgen. Nackt, von der Dusche noch nass – ein Handtuch bekommen wir nicht – zitternd vor Kälte und von den bisherigen Schlägen ziehen wir uns langsam an. In der Regel bekommen die Großgewachsenen kleine Hosen, die Kleineren weite Hosen. Niemand hat einen Gürtel oder irgendetwas in der Art. So muss man die Hose mit der Hand halten, damit sie nicht runterrutscht. Ähnlich ist es mit den Schuhen mit Holzsohlen. Entweder sind sie zu groß oder zu klein, und alle ohne Schnürsenkel.
Aunkunft und Selektion auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau, 27.05.1944 Diese Bilder wurden von SS-Fotografen für Propaganda-Zwecke aufgenommen.
Quelle: Yad Vashem, Archivnummer 14DO9
Ungarische Juden auf Ihrem Weg vom Zug ins Lager, 27.05.1944
Quelle: „Auschwitz-Album", Public Domain. Yad Vashem Archiv-Nr. FA268/4
Inzwischen ist es hell geworden – und wir erkennen einander nicht wieder. Die in Eile in Streifen kahlgeschorenen Köpfe, die Gesichter ohne Bart, die zu engen oder zu weiten gestreiften Kleider haben jeden von uns in entstellte Gestalten verwandelt. Wir schaffen es nicht, den Zustand unserer Kleidung zu ändern – es gibt einfach nichts, womit wir uns helfen könnten. Unsere eigenen Kleider, die wir vor dem Haareschneiden so ordentlich zusammengelegt zurückgelassen haben, sowie unsere Sachen, die im Waggon geblieben sind, werden wir unser Leben lang nie wieder sehen – wenn wir überhaupt am Leben bleiben. Lange können wir einander nicht bestaunen. Wieder gehen wir in Reihen, diesmal zu einem Tisch, wo unsere Personalangaben eingetragen werden und uns eine Nummer in den linken Arm tätowiert wird. Ab jetzt – so die Anweisung – haben wir keinen Namen mehr. Den sollen wir vergessen. Ab jetzt sind wir nur noch eine Nummer.
Mein Vater A-9775.
Ich A-9776.
Der Bruder meines Vaters, Onkel Jenõ (Josef), A-9777.
Sein Sohn, Jakob A-9778.
Die Meisten aus dem Waggon, Mütter mit ihren Babys, Kleinkinder, einige Jugendliche, Großmütter, Großväter und die Kranken, die am Wagenboden gelegen haben – sie alle fehlen. Die Männer zwischen 25 und 40 Jahren, die im ungarischen Arbeitsdienst an der Ostfront Zwangsarbeit leisten mussten, sind – infolge der Grausamkeiten der sie bewachenden ungarischen Soldaten – auch nicht unter uns.
All das geschieht, nachdem ich zwei Nächte und bereits drei Tage lang in einem ratternden, geschlossenen Viehwaggon zusammengepfercht und ohne Schlaf gestanden bin. Die Trennung der Familie, über siebzig Stunden ohne Essen und Trinken, eine fremde, unbekannte, feindliche Umgebung und noch andere Ereignisse – all das brachte mich in einen gewissen Taumel. Jetzt werde ich langsam wieder wach. Ich nehme die Geschehnisse um uns wahr, erfahre einiges von den Juden aus Polen und der Slowakei – sie sind schon länger da und sprechen Jiddisch. Nun weiß ich, dass dieser Ort, wo wir gestern mit den Viehwaggons angekommen sind, das Vernichtungslager Birkenau ist. Ich erfahre auch, dass der Offizier in SS-Uniform, der an der Rampe die aus den Waggons geworfenen, halb ohnmächtigen Menschen nach rechts oder links leitet, jener Mengele ist, der die Menschen selektiert – er schickt sie rechts (vorerst) ins Leben, links in den Tod. Auch die nach links Geleiteten müssen sich nackt ausziehen, auch ihre Haare werden geschoren, auch sie werden in die Dusche geschickt, wie wir. Bei uns kommt Wasser aus der Dusche, bei ihnen strömt das Gas Zyklon B aus den Duschköpfen. So sterben sie alle. Ihre Leichen werden dann im Krematorium zu Asche verbrannt. (Max Faust, Oberingenieur der I.G. Farben AN, des Herstellers von Zyklon B, untersuchte mit Himmler in Auschwitz die Wirksamkeit von diesem Gas. Es bewirkt einen dreiminütigen Todeskampf.) Gestern, in der Nacht, als wir von der Rampe zur Dusche marschierten, sahen wir die Flammen dieses Feuers in den dunklen Himmel schlagen, aus jenem niedrigen und breiten, viereckigen Schlot. Zum „Trost" sagten sie auch, wir sollten nicht traurig sein, früher oder später kämen wir alle ins Krematorium. Wenn es nach mir geht, lieber später als früher…
Sie erklären auch, was die drei Buchstaben auf den Seifen bedeuten sollen, die wir für die nächtliche Dusche bekamen: RIF heiße „rein jüdisches Fett".
Jetzt, bei Tageslicht, sieht man die endlosen Reihen der dunklen Lagerbaracken. Man sieht die Zäune. An den Betonsäulen sind beidseitig Porzellanisolierungen, daran elektrischer Stacheldraht. Überall die Warnung: „Vorsicht – Hochspannung – Lebensgefahr!". Dem Zaun entlang stehen Wachtürme mit Scheinwerfern, darin deutsche Soldaten mit Maschinengewehren. Die Älteren raten uns, uns von den Kapos fernzuhalten. Diese haben Stöcke und eine Armbinde mit der Aufschrift KAPO. Sie kommen aus ganz verschiedenen Nationen, die meisten sind Figuren aus der Unterwelt, darunter auch manche Mörder. Nach Birkenau wurden sie direkt aus dem Gefängnis gebracht und hier bekamen sie verschiedene Positionen und Posten. Wie richtige Sadisten arbeiten sie zur Zufriedenheit der deutschen SS-Lagerleitung.
Die erste Suppe in Birkenau
Wir haben keine Uhr, wissen nicht, wie spät es ist. Es mag aber gegen Mittag sein, da wir zur Essensverteilung wieder in Reihen stehen müssen. Das Menü: Schlange stehen mit Prügel, Suppenausteilung mit Prügel. Die „Suppe" genannte Brühe wird in eine runde Schüssel gefüllt, das Blechgefäß mag