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Die Versöhnung mit dem Bösen: Geschichte eines Weiterlebens
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eBook348 Seiten4 Stunden

Die Versöhnung mit dem Bösen: Geschichte eines Weiterlebens

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Über dieses E-Book

Ein Leben in Lódz – ein Leben nach Lódz: Leon Weintraub erzählt von Schicksal, Leid und Versöhnung.

Leon Weintraub (geb. 1926) wurde ab 1940 von den Nazis gezwungen, mit seiner Familie im Getto Litzmannstadt zu leben und Zwangsarbeit zu leisten. Die dabei erlernten Fertigkeiten bewahrten ihn vermutlich vor dem Tod: Bei der Auflösung des Gettos 1944 wurden die Inhaftierten in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort umgebracht. Weintraub jedoch gelang es, sich als Arbeitshäftling auszugeben und so der Ermordung zu entgehen. In den Wirren der letzten Kriegsmonate überlebte er mehrere der brutalen Verlegungsaktionen der Nazis, bis ihm schließlich auf einem der Transporte die Flucht gelang. Ein Großteil seiner Familie überlebte den Holocaust nicht. In den Gesprächen mit der Journalistin Magda Jaros erzählt Leon Weintraub von seiner Kindheit in Lódz und seinem Weiterleben nach dem Krieg: seinem Studium der Medizin in Göttingen, seiner Karriere in Polen und seiner Auswanderung nach Schweden aufgrund der antisemitischen März-Unruhen 1968. Es ist die Geschichte einer Versöhnung nach unsagbarem Leid – aber auch eine Mahnung.

"Die dramatischen Erlebnisse der Vergangenheit konnte ich in meinem Archiv der Erinnerung unterbringen. Sie sind nicht ausgelöscht, aber sie bilden auch keine dunkle Wolke über meinem Kopf, die mir die Sonne verdeckt."
Leon Weintraub
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum31. Aug. 2022
ISBN9783835349643
Die Versöhnung mit dem Bösen: Geschichte eines Weiterlebens

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    Buchvorschau

    Die Versöhnung mit dem Bösen - Leon Weintraub

    Vorwort der Autoren

    Ich habe es geschafft … Ich bin 95 Jahre alt geworden und habe es geschafft, mein langes, ungewöhnliches Leben nochmals Revue passieren zu lassen und näher zu beschreiben.

    Seit dem Ende meiner beruflichen Tätigkeit im Alter von 71 Jahren setze ich mich dafür ein, junge Menschen am Beispiel meines eigenen Lebens auf die fatalen Konsequenzen der NS-Ideologie hinzuweisen: angefangen von der Abneigung gegen Menschen anderer Herkunft oder Anschauung bis hin zum massenhaften Völkermord in Gaskammern. Oftmals wurde ich dabei nach meiner Haltung gegenüber den Tätern gefragt. Vergebung oder gar Rechtfertigung dieser jedes menschliche Vorstellungsvermögen überschreitenden Verbrechen ist für mich unmöglich. Es bleibt also nur die Versöhnung, die es nach dem Verzicht auf weitere gegenseitige Vorwürfe und der Unterbrechung der endlosen Spirale von Feindschaft und Bosheit erlaubt, gemeinsam eine menschenwürdige Zukunft zu schaffen. Als Überlebender des Holocaust habe ich eben diese Haltung ganz bewusst eingenommen – die Bereitschaft zur Versöhnung.

    Meine Begegnungen mit Schülern schließe ich für gewöhnlich mit einigen Kernbotschaften. Dabei sage ich, dass das heutige Wissen über die DNA, die Trägerin unseres Erbguts, beweist, dass es nur eine einzige menschliche Rasse gibt – den homo sapiens. Daher beruhte die NS-Ideologie auf völlig falschen Voraussetzungen. Ferner weise ich darauf hin, dass ich bei den von mir durchgeführten Operationen immer festgestellt habe, dass das Hautgewebe aller Patientinnen egal welcher Hautfarbe stets identisch war.

    Dieses Buch entstand dank der Initiative von Magda Jaros. Es war ihre Inspiration und ihr Verdienst, dass ich das, was mir in meinem langen Leben widerfahren ist, nochmals in Erinnerung rufen und weitergeben konnte. Mein Leben war anfangs von Armut geprägt. Meine Jugend verbrachte ich unter unmenschlichen Bedingungen im Getto Litzmannstadt (ich möchte gar nicht daran denken, dass in meiner Heimatstadt ein Getto gewesen war – nicht in meinem Lodz, sondern nur im deutschen Litzmannstadt schufen die Nazis einen furchtbaren Ort der Isolierung) und in mehreren Konzentrationslagern: Auschwitz-Birkenau, Groß-Rosen, Flossenbürg und Offenburg, einem Außenlager von Natzweiler-Struthof. Die Rückkehr in die Normalität war für mich zwar ein mühsamer Weg, aber insgesamt bewerte ich die Zeit nach dem Krieg sehr positiv. Ich führe weiterhin ein abwechslungsreiches Leben und habe viel erreicht. Magda bin ich dankbar für ihre Geduld, ihren Scharfsinn und ihre Tiefgründigkeit bei der Entwirrung der vielen, in den hintersten Winkeln meines Gedächtnisses verborgenen Einzelheiten.

    Ich habe drei Söhne und eine Tochter, die alle bereits selbst eigene Familien gegründet haben. Viel verdanke ich meiner Frau – seit 45 Jahren ist Evamaria meine Stütze, und es ist ihr Verdienst, dass ich mich so gut fühle.

    Ich bin für mein Alter in guter psychischer und physischer Verfassung, wobei ich viel Zufriedenheit aus meinem Leben schöpfe. Nach Auschwitz benutze ich das Wort »sich beklagen« nicht mehr, denn alles ist seitdem um Welten besser.

    Den Leserinnen und Lesern dieser Erzählung möchte ich meine unerschütterliche Überzeugung ans Herz legen, dass in allen zwischenmenschlichen Beziehungen der gesunde Menschenverstand letztlich die Oberhand behält.

    Leon Weintraub

    Stockholm, 2020

    *

    Ich erlebte Leon Weintraub im Fernsehen, als er im Namen der Holocaust-Überlebenden anlässlich des 74. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz-Birkenau eine Rede hielt. Er sprach dabei von dem Risiko, das der in Polen und weltweit wiederauflebende Nationalismus mit sich bringe. Er strahlte Stolz, Würde, aber auch Traurigkeit aus. Ich rief ihn an, um ihm zu dieser Rede zu gratulieren. Ich kenne ihn noch aus Zeiten, in denen ich als Kind in der Volksrepublik Polen in den Ferien regelmäßig nach Schweden gefahren bin, wohin meine Tante emigriert ist. Ich wusste, dass er in mehreren Konzentrationslagern gewesen ist. Einmal wollte ich sogar heimlich einen Blick auf seinen Unterarm erhaschen, um zu sehen, ob dort eine Häftlingsnummer eintätowiert ist – was nicht der Fall ist. Er hat mir nie von seinen Erlebnissen erzählt, und ich habe ihn nie danach gefragt. Ich spürte wohl eher Scheu und Respekt. Nach jenem Telefonat tauschten wir unsere Mailadressen aus. Schließlich wagte ich es, ihm das Buch vorzuschlagen. »Die Zeit ist reif dafür« – schrieb er zurück. Dies verstand ich als Einwilligung.

    Unsere Gespräche begannen wir in einer anderen Welt. Wir trafen uns mehrmals in Warschau, wo Leon im Sommer 2019 häufig zu Gast war. Er drehte mit dem Bayerischen Fernsehen einen Dokumentarfilm, nahm an den Gedenkfeiern zum 74. Jahrestag der Auflösung des Ghettos Litzmannstadt teil und begleitete eine Gruppe deutscher Studenten zu den Gedenkstätten. Im Herbst 2019 gelang es mir, ihn in Auschwitz zu treffen – er war dort nur angereist, um sich mit Pfadfindern aus Lodz zu treffen. Im Dezember 2019 besuchte ich ihn in Stockholm. Den Winter 2019 /20 verbrachte er im damals sonnig-warmen Arizona. Er scherzte, dass dies die einzigen Wochen im Jahr seien, in denen er langsamer treten und seinen Akku wieder aufladen könne. Und dann kam die Zeit der Corona-Pandemie, die er in seiner Stockholmer Wohnung verbrachte. Wenn er damals nicht unter »Hausarrest« gestanden hätte, wäre dieses Buch sicherlich nicht entstanden. Aber so fand er endlich Zeit dafür.

    Wir unterhielten uns auf Skype, wobei mir im Laufe der Gespräche immer deutlicher bewusst wurde, mit was für einer interessanten Lebensgeschichte und was für einem außergewöhnlichen Menschen ich es zu tun hatte. Leon überraschte mich durch sein phänomenales, in zahlreichen Momenten geradezu fotografisches Gedächtnis. Präzise rekonstruierte er die Topographie von Städten und die räumliche Ausstattung von Wohnungen. Mitunter hatte er Schwierigkeiten, seine Emotionen zu zeigen, die er – wie er mir erläuterte – in den Kriegsjahren einfrieren musste. Ich fragte ihn nicht nach den großen geschichtlichen Zusammenhängen. Diese seien den Historikern überlassen, obwohl sie zwangsläufig mit Leons Schicksal eng verflochten sind. Wir unterhielten uns über ganz gewöhnliche Dinge: über Lodz in der Zwischenkriegszeit, das Alltagsleben im Getto, den Alptraum in den KZs und dann über die Rückkehr in die Normalität und das Leben als Erwachsener. Leon erzählte mit einer schönen Sprache und viel Gefühl für einzelne Wortbedeutungen, obwohl er doch seit 50 Jahren nicht mehr in Polen lebt. Als die Rede auf seine Ansichten zur Welt von heute kam, überraschte er mich mit überaus zutreffenden Bemerkungen, aber auch durch die Gewagtheit seiner Äußerungen. Ich verstand, dass ein Mensch in seinem Alter sich nicht mehr auf die Zunge beißen muss und frei sagt, was er denkt.

    Trotz des großen Altersunterschieds zwischen uns habe ich diesen überhaupt nicht wahrgenommen. Es war eher Leon, der in unserem Duett oftmals als der Jüngere erschien, obwohl er das gute Recht hatte, auch schlecht aufgelegt zu sein. Er ging nie aus dem Haus, und die ihm nahestehenden Menschen sah er mit Ausnahme seiner Frau lediglich auf seinem Handy oder dem PC-Bildschirm. Dennoch begrüßte er mich stets gut gelaunt, war positiv eingestellt und hellwach. Seine Lebensenergie hätte für mehrere Personen ausgereicht. Die ihm begegnenden Unannehmlichkeiten verglich er mit dem Leben in einem goldenen Käfig. Über was hätte er sich also beklagen sollen? Wiederholt sprach er davon, dass es abgesehen von letzten Dingen wie Tod oder Krankheit keine Probleme gebe. Und die Schwierigkeiten, die man auf Schritt und Tritt antreffe, müsse man einfach nur lösen. Dies nahm ich mir zu Herzen. Ich weiß nicht, ob sich aus unseren stundenlangen Gesprächen tatsächlich Freundschaft entwickelt hat, aber eine tiefe Verbundenheit auf jeden Fall. Leon, ich danke dir!

    Magda Jaros

    Warschau, 2020

    Vorwort zur deutschen Ausgabe

    Das vorliegende Buch, Die Versöhnung mit dem Bösen, das vom Wallstein Verlag in Göttingen veröffentlicht wird, hat für mich eine sehr starke emotionale Bedeutung. In dieser Stadt habe ich im Wintersemester 1946 /47 das Medizinstudium an der Georg-August-Universität begonnen – und das nach der langen Zeit der Verfolgung und Entwürdigung im Getto Litzmannstadt und in verschiedenen Konzentrationslagern sowie anschließend der Erholungszeit in Reichenau am Bodensee und dem DP-Lager Bergen-Belsen. Hier, in dieser wunderbaren und im Zweiten Weltkrieg kaum zerstörten Stadt, konnte ich meinen Weg zurück ins Leben finden. Angefangen mit einem Gespräch mit Prof. Hermann Rein, dem damaligen Dekan der Medizinischen Fakultät, dann mit meinem späteren Mentor Rachmiel Brandwajn, der mit mir im Polnischen Studentenheim am Nikolausberger Weg 22 ein Zimmer teilte, und schließlich meine »Sturm und Drang-Periode« als politischer Aktivist in der FDJ-Hochschulgruppe; all dies hat zu meiner psychischen Entwicklung beigetragen, um »Erbträger« der Enzyklopädisten und ein Befürworter der Parole »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« zu werden. In diesem Sinne habe ich mich in meinem sehr langen Leben bemüht zu handeln.

    Eine weitere Anknüpfung zu Göttingen ist der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der 1970 König Hänschen der Erste, das Buch von Janusz Korczak, in der Übersetzung meiner Frau Katja Weintraub herausgegeben hat. Janusz Korczak wurde 1972 posthum der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zuerkannt.

    Dem Göttinger Wallstein Verlag bin ich daher für die Herausgabe des Buches sehr dankbar und hoffe, dass dieses Buch bei den deutschen Lesern eine gute Aufnahme finden wird.

    Ich möchte hier Magda Jaros, die meine Erinnerungen und Gedanken vortrefflich niedergeschrieben hat, Jan Obermeier für die Übertragung ins Deutsche, Prof. Sascha Feuchert, dem Urheber der Stellenkommentare, und meinem Lektor Dr. Jan Philipp Bothe für die sehr gute Zusammenarbeit meinen herzlichsten Dank aussprechen.

    Leon Weintraub

    Stockholm, 2022

    Einführung

    Eine Villa am Stadtrand von München im September 2020. Es ist ein warmer, sonniger Tag. Im Garten befinden sich drei kleine Tische, Fernsehkameras auf Stützschienen stehen bereit. Einen Augenblick später begegnen sich drei Menschen, die sich zwar nicht persönlich kennen, aber durch eine gemeinsame Vergangenheit verbunden sind. Leon Weintraub – ein Jude aus Lodz, Jens-Jürgen Ventzki – der Sohn von Werner Ventzki, dem Oberbürgermeister von Litzmannstadt,[1] der ins »Dritte Reich« eingegliederten Stadt Lodz, und Julie Lindahl, die Enkelin eines SS-Manns, der damals im Gefolge der Wehrmacht in Wielkopolska (Großpolen, unter NS-Besatzung in »Reichsgau Wartheland« umbenannt) einmarschierte, die dortigen Landgüter an sich riss und die dort arbeitenden Polinnen sterilisierte. Eine Enkelin und ein Sohn der Täter sowie deren Opfer (was wichtig ist – Leon wird sich als Sieger anstatt als Opfer bezeichnen) wollen sich über Geschichte unterhalten. Aufgenommen wird das Gespräch vom Bayerischen Rundfunk, der eine Programmreihe mit Holocaust-Überlebenden vorbereitet, solange diese noch über ihre Erlebnisse erzählen können.

    Werner Ventzki, unter dessen Aufsicht das Getto stand, wurde nie gerichtlich verurteilt. Er war nach dem Krieg Aktivist des Bundes der Vertriebenen. Später war er als wiedereingestellter Beamter im Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte in Bonn und Berlin tätig; er verstarb 2004. Die Großeltern von Julie flohen aus Furcht vor einem möglichen Prozess zu Beginn der 1960er Jahre nach Brasilien. Sowohl Julie als auch Jens-Jürgen entdeckten ihre dunkle Vergangenheit durch Zufall: Julie, als sie in Familiendokumenten stöberte, Jens-Jürgen, als er 1990 eine Ausstellung über das Getto Litzmannstadt besuchte. Sie liefen vor dieser Vergangenheit nicht davon. Ventzki schrieb ein aufsehenerregendes, auch in polnischer Sprache erschienenes Buch unter dem Titel Seine Schatten, meine Bilder. Eine Spurensuche. Lindahl veröffentlichte ihre Memoiren in den USA (The Pendulum) und in Schweden (Pendeln).

    Zu dieser Begegnung kam es auf Betreiben des schwedischen Bürgers und Gynäkologen Leon Weintraub, der es für interessant hielt, drei Generationen zusammenzubringen, deren Geschicke durch eine gemeinsame Geschichte verbunden waren. Die in Brasilien geborene Julie Lindahl lebt wie Weintraub bis heute in Schweden – sie wurde ihm von einer Freundin vorgestellt. Von bekannten Holocaust-Überlebenden wusste Weintraub, dass Jens-Jürgen Ventzki ein Buch schrieb und Kontakt zu Menschen suchte, die den Krieg in Litzmannstadt auf der anderen Seite des Stacheldrahts überlebt hatten.

    »Wir gingen auf das Problem von Schuld und Verantwortung ein, und Frau Lindahl fügte noch die Frage der Scham hinzu«, sagte Weintraub. »Zu Beginn wandte ich mich an Ventzki. Ich sagte ihm, dass ich nicht wisse, was es bedeutet, einen Vater zu haben, da mein Vater starb, als ich eineinhalb Jahre alt war. Aber ich kann mir vorstellen, was für ein Schock es für ihn gewesen sein muss, zu entdecken, dass der Mensch, den er geliebt und bewundert hatte, der ein Vorbild für ihn gewesen war, in Wirklichkeit ein glühender Nationalsozialist und Kriegsverbrecher gewesen war und die Mitverantwortung für das getragen hatte, was sich im Getto Litzmannstadt in meiner Stadt ereignete. Es tut mir leid für ihn, dass er das erleben musste. Aber andererseits verneige ich mich davor, dass er den Mut hatte, über den eigenen Schatten zu springen und sich von allem abzunabeln, was sein Vater darstellte.«

    Die Familie Ventzki wohnte in Lodz in der schönen, von einem Garten umgebenen Sezessionsvilla von Hilmar Girbardt in der Bednarska-Straße. Ihr standen ein Dienstmädchen sowie ein Chauffeur, ein Koch und ein Gärtner zur Verfügung. Jens-Jürgen erinnerte sich an sein privilegiertes Leben. Mit Tränen in den Augen erzählte er, dass seine Mutter als Frau eines Prominenten die von Juden beschlagnahmten und an die Gettoverwaltung weitergeleiteten Waren auf dem Bałucki-Markt kaufen konnte. Für 540 Reichsmark – also für so gut wie nichts – erwarb sie einen Silberfuchs-Pelz, später noch einen Persianermantel und mehrere Goldringe. Der Vater blieb dem »Führer« bis ans Lebensende treu und verurteilte ihn nie. Er bedauerte, dass seine Familie nach der Niederlage des »Dritten Reiches« ihre bisherige Position verloren hatte. Jens-Jürgens Brüder wollten sich nicht mit der Geschichte und ihrem schweren Erbe beschäftigen. In den Augen Werner Ventzkis war der eindringliche Mahner Thomas Mann nichts weiter als ein flüchtiger Vaterlandsverräter. Julie Lindahl wird von ihren Angehörigen als das schwarze Schaf der Familie behandelt. Es war immer schwierig, mit ihnen über ihren 1976 verstorbenen Großvater und seine Vergangenheit zu sprechen. Ihre Familie sah es als Verrat an, eben diese Vergangenheit wieder ans Licht zu holen.

    Alle drei dachten ähnlich – sie verdammten das, was der Nazismus und die NS-Ideologie mit sich gebracht hatten. Jens-Jürgen hoffte darauf, dass sich andere Menschen mit ähnlichen Vorfahren wie er nach der Betrachtung des Dokumentarfilms trauen würden, öffentlich über ihre Verwandten und die Vergangenheit zu sprechen. Nur auf diese Weise kann man der braunen Gefahr in Europa und in der Welt entgegentreten. Am Ende des Gesprächs reichten sie sich wegen der Corona-Pandemie nicht die Hand, sondern stießen ihre Ellenbogen aneinander. Danach aß man in freundschaftlicher Atmosphäre zu Abend.

    »Für mich war das symbolisch«, sagte Leon Weintraub. »Ich, ein armer Bursche aus einer jüdischen Familie, der mit aller Grausamkeit und extremer Deutlichkeit kennenlernte, was Unterdrückung, Entmenschlichung und Verfolgung bedeuten, begegnete einem Menschen, der in sich die Gene meines Verfolgers trug. In gewissem Sinne stand er mir nahe, obwohl uns alles trennte: Geburt und Religion, mit der wir aufgewachsen waren, der materielle Status. Aber eines hatten wir gemeinsam – meine Stadt Lodz.« Dort hat alles angefangen …

    Das Czulent-Gässchen und andere Adressen

    Eine Welt, die nicht nur physisch, sondern auch mental auf einige wenige Straßen im armen jüdischen Lodz begrenzt war: die Kamienna-Straße, Wschodnia-Straße, Południowa-Straße und Kiliński-Straße. Ich fühlte eine unerklärliche, lähmende Angst davor, mein Viertel zu verlassen.

    Lodz steht auch mir nahe. Ich kam im Stadtteil Górna auf die Welt. Bis zu meinem Studienabschluss wohnte ich in der Plattenbausiedlung Retkinia. Das Stadtzentrum und das Netz der Einbahnstraßen kenne ich ausgezeichnet. Einige Menschen vergleichen das Stadtzentrum mit Manhattan, was ich etwas übertrieben finde. Und obwohl ich in Lodz ein renommiertes Lyzeum und dann die dortige Universität besucht habe, lasteten auf meinem Wissen über das jüdische Lodz der Roman Gelobtes Land (Ziemia obiecana)[1] und der gleichnamige Film von Andrzej Wajda. Im Schulunterricht oder in den Vorlesungen sprach man manchmal über jüdische Blutsauger, wie etwa Hausbesitzer, Fabrikanten oder kapitalistische Ausbeuter. Aber man erfuhr nichts über diejenigen Menschen in Lodz, die Theater, Kinos oder Konzertsäle schufen und dadurch zugleich die prächtigsten Paläste und Gebäude der Stadt errichteten. Man wusste nichts über Krankenhäuser, Kinderheime oder Gymnasien. Nichts über das riesige Erbe, ohne das Lodz nicht die Stadt wäre, die es heute ist.

    Ich habe mich oft gefragt, warum das so war. Natürlich kann man alles auf die Politik der Nachkriegszeit schieben, auf die lügenhafte Verfälschung der Geschichte. Aber das wäre zu einfach. Warum ist das jüdische Lodz den Einwohnern dieser Stadt so schwach in Erinnerung geblieben? Warum hat meine Oma – auch eine Lodzer Bürgerin, die in diese Stadt verliebt war – nie darüber gesprochen? Die Antwort fand ich im Buch von Waldemar Wolański, Ślepy Maks. Historia prawdziwa [Der blinde Max. Eine wahre Geschichte]. Der Held dieses Buches ist eine weitere facettenreiche jüdische Gestalt, von der ich lediglich eine sehr vage Vorstellung hatte. Warum redet niemand über den berüchtigten Räuber, den Al Capone von Lodz? Warum kann sich niemand an ihn erinnern? Die Antwort überraschte mich durch ihre Schlichtheit und vortreffliche Logik: »Das ist doch ganz klar: Es gibt niemanden mehr, dem er in Erinnerung gerufen werden könnte.«[2] Ich denke, dass das auf das ganze jüdische Lodz zutrifft – es gibt niemanden mehr, dem es in Erinnerung gerufen werden könnte. Vielleicht wäre es also angebracht, an dessen Anfänge zu erinnern?

    Alles begann am Alten Markt. Dort kaufte Daniel Lejzerowicz – der erste jüdische Hausbesitzer – im Jahre 1794 ein Grundstück und errichtete dort ein Holzhaus. 1810 lebten am Markt bereits 14 jüdische Familien. Anfang des 19. Jahrhunderts durften sich die Juden in Lodz noch ansiedeln, wo sie wollten. Sie wählten zumeist den Alten Markt und dessen Umgebung: die Wolborska-Straße (dort entstand die berühmte, wunderschön verzierte Synagoge), die Drewnowska-Straße, den nördlichen Teil der Piotrkowska-Straße (heutige Nowomiejska-Straße) und die Podrzeczna-Straße. Die Situation änderte sich erst 1821, als die Kleinstadt Lodz durch Beschluss des Königreiches Polen ein Fabrikort wurde. In der Folgezeit entwickelte sich dort die Textilindustrie, die Lodz für immer veränderte. Dieser Industriezweig bildete sich durch die nach Lodz eingeladenen Weber aus Deutschland heraus. Diese legten mit dem Wojewoden von Masowien vertraglich fest, dass es fortan keinem Juden erlaubt war, in der neuen Siedlung – also in der Neustadt – zu wohnen oder dort Grund und Boden zu erwerben. Diese Vereinbarung wurde durch einen Erlass von Józef Zajączek, dem russischen Statthalters des Königreichs Polens, im Jahre 1825 bekräftigt. Der Erlass legte fest, dass Juden sich nur innerhalb der Altstadt ansiedeln durften, wo man ihnen ein spezielles Viertel zuteilte. Sie durften hingegen nicht in bessere Stadtteile umziehen – es sei denn, dass sie ein von Schulden unbelastetes Vermögen in Höhe von mindestens 20.000 Zloty besaßen, darüber hinaus Polnisch, Russisch oder Französisch sprachen und sich in ihrer Bekleidung von anderen Bürgern nicht unterschieden. Eine Ansiedlung außerhalb ihres Viertels ermöglichte man den Juden auch dann, wenn sie eine Fabrik errichteten oder ihre Kinder auf eine öffentliche Schule schickten.[3]

    Um das Jahr 1820 siedelte eine für diese Geschichte wichtige Gestalt, Samuel Saltzman, aus dem nahegelegenen Ort Brzeziny nach Lodz über. Saltzman kam hier rasch zu beträchtlichem Vermögen und wurde Eigentümer mehrerer Wohnhäuser, Plätze und Garnlager. Obwohl er ein reicher Mann war, durfte er sein Viertel nicht verlassen. Saltzman trug einen Vollbart sowie einen Kaftan und war ein frommer chassidischer Jude. Die Errichtung der Synagoge an der Wolborska-Straße wurde größtenteils von Saltzman finanziert. Nach über 40 Jahren gelang ihm der Auszug aus dem jüdischen Viertel. Im Jahre 1862 bat er die Stadtväter von Lodz um die Gründung einer neuen Straße, die die Średnia-Straße (heutige Pomorska-Straße) mit der Północna-Straße verband. Diese Straße erhielt zunächst den Namen »Saltzman-Straße« und wurde im Laufe der Zeit in »Solna-Straße« umbenannt. In der Solna-Straße 5 gründete Saltzman eine chassidische[4] Schule.[5]

    In der Solna-Straße 12 kam am 1. Januar 1926 Leon Weintraub auf die Welt. Zu seinen Erinnerungen an die früheste Kindheit gehört der Unterricht in der Chederschule,[6] wohin ihn seine Mutter, eine fromme Jüdin, sandte.

    Zu Beginn der 1930er Jahre zog die Familie Weintraub in die Kamienna-Straße (heutige Włókiennicza-Straße) um. Diese befand sich am Rande der Neustadt mit ihrem zentral gelegenen Neuen Markt, dem Wolności-Platz. Die Kamienna-Straße hieß auf Jiddisch Czulentgesl – Czulent-Gässchen. In einem der Wohnhäuser befand sich eine Bäckerei. Jeden Freitag vor dem Sabbat brachten Leon und seine Schwester einen Topf mit Czulent, also Grütze mit Fleisch und Gemüse, sowie einen süßen Leckerbissen dorthin. Der Bäcker stellte den Topf in den erloschenen, aber noch glühend heißen Ofen. Das waren festliche Speisen für den Samstag, da an diesem Tag traditionsgemäß nicht gekocht werden durfte.

    Vor dem Krieg war diese Straße recht arm, sie besaß keine Kanalisation. Aber dort befanden sich mehrere jüdische Gotteshäuser.[7] Die Geschichte der Straße ist interessant: Im 19. Jahrhundert errichtete ein gewisser Hilary Majewski ein Wohnhaus im Czulent-Gässchen 11 und zog dort ein. Zwei Jahrzehnte lang fungierte er als Architekt der Stadt und gilt bis heute als Baumeister von Lodz. Er entwarf u. a. den Poznański-Palast,[8] das Grand Hotel und den Heinzl-Palast.[9]

    Um die Jahrhundertwende entwickelte sich Lodz zu einer Stadt atemberaubender Karrieren und spektakulärer Pleiten. Die dortigen Fabrikantenfamilien wurden immer mächtiger, und Baumwolle aus Lodz war bald in ganz Europa bekannt und begehrt – vor allem in Russland. 1915 wurde das Stadtgebiet von Lodz durch die Ortschaft Bałuty erweitert, eine seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer größer werdende dörfliche Siedlung. Interessanterweise zählte Bałuty zu diesem Zeitpunkt bereits 100.000 Einwohner und bildete damit das größte Dorf Europas. Die Lodzer Bürger bezeichneten den neuen Stadtteil als »Abwasser«. Nicht nur aufgrund der fehlenden Kanalisation, sondern auch wegen des dort lebenden lichtscheuen Gesindels.

    In der Zwischenkriegszeit war das jüdische Lodz eine arme und hungrige Stadt. Dort lebten vorwiegend Händler, Ladenbesitzer und Handwerker, die in den hinteren Hofgebäuden der Wohnhäuser wohnten. Sie versuchten gottesfürchtig und fromm zu leben, ihre Kinder ordentlich zu erziehen und einfach durchzuhalten. Lodz war auch eine Stadt der Intelligenz: Ärzte, Juristen und Lehrer bildeten die lokale Elite. Sie besuchten die jüdischen Theater und Kinos und sandten ihre Kinder auf renommierte Schulen. Die Stadt entwickelte sich auch auf künstlerischem Gebiet weiter. Es entstand zum Beispiel das Avantgarde-Theater »Ararat«. Und die aus Lodz stammenden jüdischen Künstler Julian Tuwim, Artur Rubinstein und Artur Szyk erzielten größte Erfolge.[10]

    Im September 1939 lebten in Lodz bereits über 600.000 Menschen, ein Drittel davon waren Juden. Aber obwohl nach dem Krieg zahlreiche Wohngebäude derart unverändert weiterexistierten, dass Andrzej Wajda an der ehemaligen Kamienna-Straße die Szenen für seinen letzten Film Nachbilder [Powidoki, 2016] drehen konnte, gibt es die Stadt, über die Weintraub so liebevoll erzählt, heute nicht mehr.

    *

    Herr Leon …

    Sagen wir »du« zueinander. In Schweden sprechen sich alle so an. Sogar mit dem König ist man per »du«.

    Leon, welche Erinnerungen hast du an deine frühe Kindheit?

    Das sind für mich frühe Bilder aus meiner Vergangenheit. Darin sehe ich meine Wohnung an der Solna-Straße 12: das Eingangstor, rechts ein paar Treppen, man kommt in eine kleine Diele, wo ein flauschiger Vorhang hängt. Dann kommt man ins Zimmer. Dort stehen ein Tisch und eine grüne, korallenverzierte Schirmlampe. Ich erinnere mich an die Stimme von Mama, die ein Gedicht [auf Russisch] aufsagt: »Odin, dwa, tri, czetyrie, piat’, wyszeł malczik pagulat’…« [dt. »Eins, zwei, drei, vier, fünf – ein kleiner Junge ging spazieren«]. Lodz stand unter russischer Fremdherrschaft. Mama kannte diese Sprache.

    Wenn ich mich richtig erinnere, befanden sich auf der linken Seite die Küche, ein Kinderzimmer und das Bad. Rechts das Esszimmer und dahinter lag das Schlafzimmer. Hier habe ich ein deutliches Bild. Das Zimmer war dunkel und hatte ein Fenster zur Straße hin. Ich sehe noch, wie ich auf dem breiten Bett der Eltern mit meiner jüngsten Schwester Róża liege. Ich war das fünfte Kind und hatte vier Schwestern: Lola, Jahrgang 1920, Frania, 1921, Mala, 1922, und Róża, 1924. Ich kam 1926 auf die Welt. Wir liegen unter der Bettdecke, jagen uns gegenseitig mit Schreckgespenstern an der Wand Angst ein und schlüpfen dann mit einem Quietschen unter die Decke.

    Ein zweites Bild: Das jüdische Ostern, also das Pessachfest,[11] steht unmittelbar bevor. Ich bekam einen abgetragenen, knielangen Mantel mit Wildlederkragen. Ich spaziere festlich gekleidet vor mich hin, und plötzlich wird mir klar, dass

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