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GYMNASIUM
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eBook264 Seiten3 Stunden

GYMNASIUM

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Über dieses E-Book

Alex kämpft um seine Familie, Kampfarena ist seine neue Schule. Alex denkt, wenn er es hier schafft, werden seine Eltern aufhören, sich wegen seiner schlechten Noten gegenseitig fertigzumachen. Am Gymnasium aber ringt die akademische Mittelschicht um ihren Status, schickt ihre Kinder ins Rennen …

»Hanne Christ liebte ihr Kind und Birgit liebte ihres. Alle liebten ihre Kinder und wollten sie vor dem Niedergang bewahren, vor einem Dasein als Klempner, als Krankenschwester oder kaufmännische Angestellte.«

Ein Schulroman voller wunderbar böser Beobachtungen. Eine Geschichte über erschöpfte Schüler, verzweifelte Mütter und ratlose Lehrer.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. März 2017
ISBN9783734582172
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    Buchvorschau

    GYMNASIUM - Susanne Giebeler

    1

    Der Löwe vor der Schule war verwundet.

    Er brüllte seinen Schmerz nach Westen heraus. Seine verletzte linke Seite konnte man von der Straße aus nicht sehen.

    Hinter den Dächern des Goethe-Gymnasiums ging die Sonne auf, klein und entkräftet machte sie an diesem Septembermorgen nur noch Dienst nach Vorschrift, denn es war ein kräftezehrender August für sie gewesen, ein ermüdender Kampf mit bombastischen Wolkenfeldern aus allen vier Himmelsrichtungen.

    Entlang der Straße liefen Erwachsene zur Arbeit. Nicht mehr lange, und die Schüler würden folgen. Es war der erste Schultag nach den großen Ferien. Sträucher am Rand des Bürgersteigs verdeckten die Sturmschäden des Orkans, der zu Beginn der Ferien über das Ruhrgebiet gefegt war und die hundert Jahre alten Bäume im Park entwurzelt hatte. Die Stämme der mächtigen Buchen und Eichen lagen wie urzeitliche Giganten herum und die Spaziergänger bestaunten schon seit Wochen verstört die Wurzelkrater, standen beklommen an der Brache gegenüber der Schule und tauschten sich über die Macht der Naturgewalten und den Lauf der Dinge aus.

    Es war frisch. Eva Jägersberg blieb stehen, um ihre Strickjacke zuzuknöpfen. Sie musste dazu ihre Aktentasche abstellen, denn die Jacke war neu und die Knopflöcher noch eng. Ein Vogel hüpfte mit einem herunterhängenden Flügel auf der Straße herum. Eva mochte keine Vögel. Vögel und Menschen passten nicht in ein und dasselbe Zeitalter. Spätestens als der Mensch begonnen hatte die Erde zu bevölkern, hätten die Vögel sich zurückziehen sollen. Aber sie waren geblieben und klagten unermüdlich und schrill Mensch und Zivilisation an. Sie dümpelten ölverklebt in schwarzen Gewässern herum, pressten Eier aus ihren Unterleibern und fielen aus den Nestern, um einem den Frühling zu vermiesen, nackt und krank. Säugetiere hatten feste Haut, Vogelhaut war weich und durchscheinend. Eva ekelte sich vor den bläulich schillernden Hähnchen in der Tiefkühltheke, sie ekelte sich vor den Kehlsäcken der Pelikane und vor den federlosen Küken in ihren kotverschmierten Nestern. Und sie hatte jetzt Mitleid mit dem piependen Vögelchen auf der Straße.

    Sie machte einen Versuch, es zu retten, wurde beinahe von einem schwarzen Geländewagen erfasst und sprang zurück auf den Bürgersteig. Am Steuer des chromblitzenden Wagens saß eine Frau. Selbst aus der Entfernung konnte man das am Haar erkennen, das hell und satt über die Kopfstütze wallte. Der Vogel war tot.

    Auch ein platt gefahrenes Rotkehlchen hatte Anrecht auf eine würdige letzte Ruhestätte. Eva wollte den Kadaver von der Fahrbahn schaffen und ihn unter den Sträuchern der Natur überlassen, fürchtete aber, der Vogel könnte vielleicht in ihren Händen anfangen zu zucken und das Hälschen recken. Sie ging weiter, schaute sich unauffällig um und strich im Vorbeigehen mit dem rechten Daumen über die Buchstaben der Bronzetafel am Sockel des Denkmals:

    DER ÜBERZAHL ERLEGEN,

    IM GEISTE UNBESIEGT

    Sie tat das jeden Morgen.

    Der Wagen, der das Rotkehlchen überfahren hatte, hielt vor dem Schulhoftor. Am linken Hinterrad klebten Federn. Ein Mädchen holte einen Korb mit Pflanzen aus dem Heck.

    Eva beschleunigte ihren Schritt, um noch vor dem Mädchen durch das Schultor zu gehen. Sie erreichten das Tor gleichzeitig und schauten einander an.

    „So früh, Leonie?"

    „Der frühe Vogel fängt den Wurm."

    Eva legte die Hand auf die Klinke.

    „Habt ihr ein neues Auto?"

    „Meine Mutter muss gleich nach Düsseldorf. Irgendwas mit Elternpflegschaft."

    Das Mädchen tat einen Schritt vorwärts.

    „Heidekraut. Winterhart. Von meiner Mutter für die Schule. Halten Sie mal."

    Leonie drückte Eva ihre Tasche in die Hand, ging über den leeren Schulhof, die Treppe zur Schultür hoch und stellte das Heidekraut auf den Mauervorsprung rechts neben der großen Tür aus dunklem Holz. Sie stand auf der Treppe und präsentierte die neue Dekoration mit großer Geste, als habe sie soeben ein Schiff getauft oder ein Denkmal enthüllt. Sie hatte noch volleres Haar als ihre Mutter, vielleicht war es nicht ganz so hell. Leonie lachte herüber zu Eva, die noch am Rand des Schulhofs stand. Eva dachte, wie leicht doch Leonies Tasche war und wie schwer die ihre.

    2

    Der Junge sah aus wie ein Mädchen und blutete.

    Er stand an der Wand unter einem Plakat vom deutschfranzösischen Austauschdienst, das für eine Ausstellung warb:

    ÉTÉ 1914. LES DERNIERS JOURS DE L’ANCIEN MONDE

    Das Plakat zeigte eine Gruppe junger Männer, die Wandzeitungen mit Kriegspropaganda studierten. Einer der Männer auf dem Plakat las nicht, sondern schaute in die Kamera.

    Das Blut lief dünn aus dem linken Nasenloch des Jungen, der aussah wie ein Mädchen. Es lief auf sein graues T-Shirt. Durch das Grau war das Blut auf dem T-Shirt nicht mehr leuchtend rot, sondern fast braun. Der Junge lächelte Alex an.

    Es war laut. Schüler wie Lehrer, alle suchten sie irgendetwas, einen Raum, einen Plan, oder beides. Alex saß auf einem Stuhl im Flur und wartete darauf, dass Frau Jägersberg, von der er nicht wusste, wie sie aussah, ihn abholte. Der blutende Junge schien auch zu warten.

    Es klingelte schrill und die Schülerscharen bewegten sich zur großen Treppe, die vom Foyer aus zu den Fluren führte.

    Eine Frau bahnte sich ihren Weg in die entgegengesetzte Richtung, kam auf den Jungen mit dem Nasenbluten zu und reichte ihm ein Papiertaschentuch, aber er nahm es nicht an. Sie schloss die Tür mit dem roten Kreuz auf und schob den verletzten Jungen in das Zimmer. Alex erkannte eine schmale Liege. Die Tür schloss sich. Sie hatte eine Milchglasscheibe. Wenn er sich davorstellte, um zu lauschen, würde die Lehrerin ihn mit Sicherheit bemerken. Er schaute sich um. Die Tür neben dem Krankenzimmer war aus Sperrholz und stand einen Spalt weit offen. Er schaute vorsichtig hinein; es war eine Kammer, in der es kein Licht gab. Hinter einem Wagen mit Eimern und Lappen war genug Platz für ihn. Vorsichtig stieg er über die Kanister mit Desinfektionsmittel und hockte sich unter eine Schräge. In dieser Ecke war die Wand nicht verputzt, es roch modrig, und als er das Gesicht an die Ziegelsteine drückte, bröckelten einige Mörtelklumpen herab. Dumpf hörte er durch die dünne Wand die aufgeregte Stimme der Lehrerin. Sie behauptete, der Junge habe sich absichtlich einen Stift in die Nase gestoßen, um vom Unterricht befreit zu werden. Der Junge widersprach. Durch ein Abflussrohr an der Decke rollte ein Tosen, und als sich das Grollen legte, war Alex schlecht.

    Er wusste von Soldaten, die sich selbst ins Knie schossen, um nicht weiterkämpfen zu müssen.

    Alex hatte es in einem Buch gelesen. Es lag in der Rumpelkammer, in die er abends oft gekrochen war, um seine Eltern zu belauschen, wenn sie sich stritten. Sie stritten sich, wenn sie dachten, dass er schon schlief.

    Das Buch hieß „Weltenbrand", und während seine Eltern ihre Anschuldigungen mal nacheinander, mal gleichzeitig abfeuerten, hatte Alex die schwarz-weißen Fotografien des Buches genauestens studiert. Männer in verdreckten Uniformen lagen dicht beieinander im grauen Schlamm der Schützengräben, tot oder halb tot, mit schrecklichen Verletzungen. Ein kleines Foto auf der Seite 84 zeigte einen jungen Soldaten, der sich selbst einen „Heimatschuss" zugefügt hatte, in der Hoffnung, man werde ihn wegen seines zertrümmerten Knies in ein Lazarett legen oder nach Hause schicken. Da man ihm aber auf die Schliche gekommen war, hatte ihn ein Militärgericht zum Tode verurteilt. Der verzweifelte Gesichtsausdruck des Soldaten war Alex unerträglich und trotzdem hatte er dieses Bild besonders gern.

    Auf manchen Fotos im „Weltenbrand bildeten die Verletzten eine Art Knäuel, das man nur schwer entwirren konnte. Ein Bild hieß „Verletzte Soldaten der Schlacht an der Somme. 24. bis 26. November 1916. Erst auf den zweiten Blick hatte Alex gesehen, dass es für die drei Köpfe der Soldaten insgesamt nur vier Beine und fünf Arme gab. Die fehlenden Gliedmaßen fanden sich einige Seiten weiter zwischen dem entlaubten Gehölz des Schlachtfeldes. Alex hatte darüber nachgedacht, ob es sich bei den abgetrennten Gliedern um Leichenteile handelte. Schließlich waren die Soldaten, zu denen diese Arme und Beine gehört hatten, noch nicht tot. Er hatte sich vorgenommen, Dr. Peterschmidt beim nächsten Arztbesuch danach zu fragen.

    Die Abende in der Rumpelkammer der alten Wohnung waren eine Tortur gewesen. Trotzdem war er, wenn die Eltern ihn schlafend glaubten, jeden Abend dort hineingekrochen, hatte den „Weltenbrand" auf seine Knie gelegt und die Kriegsbilder angesehen. Die Verstümmelten wurden zu Vertrauten, er nahm Anteil an ihren Schicksalen, als wäre er ihr Kamerad. Es war, als könne er durch das Betrachten der Fotos am Krieg teilnehmen, und es war, als könne er dadurch einen Beitrag leisten zum verzweifelten Kampf der Eltern um ihre Ehe, umso mehr, als er der Grund für ihre Auseinandersetzungen war.

    Immer wenn Alex die Seite mit dem toten Mann erreicht hatte, der in der rechten Hand seine abgetrennte linke Hand hielt, musste er sich übergeben. Er brach dann in einen Putzeimer aus emailliertem Blech, der bei den anderen alten Dingen in der Kammer stand. Die Dinge waren nicht alt genug, als dass man sie auf dem Antiquitätenmarkt gewinnbringend hätte verkaufen können, und zu alt, als dass sie in einen modernen Haushalt gepasst hätten. Sie schienen trotzdem von Wert zu sein, denn weder sein Vater noch seine Mutter trennten sich davon. Wenn Alex sich fertig übergeben hatte, schlich er aus der Rumpelkammer, leerte den Eimer im Bad, stellte ihn geräuschlos zurück und legte sich frierend und zitternd ins Bett. Er genoss die Erschöpfung seines Köpers und schlief erleichtert ein. Er war tapfer gewesen.

    „So nicht, hörte er die Lehrerin sagen und Alex beeilte sich, aus der Putzkammer zu kommen. Er schaffte es gerade noch, sich wieder auf den Stuhl gegenüber dem Plakat des französischen Austauschdienstes zu setzen. Das Bild darauf war auch im „Weltenbrand abgebildet, auf Seite zwei.

    Die Lehrerin schob den blutverschmierten Jungen aus dem Krankenzimmer und Alex kam es hoch. Ein Teil der Salve traf die Schuhe der Lehrerin und er sah wie durch einen Schleier die Lehrerin in die Hocke gehen und an ihren Schuhen reiben und dachte, dass jemand ihr helfen müsse.

    Er fühlte sich nicht erleichtert wie sonst, wenn er sich übergeben hatte, es war ihm, als habe er mit dem Mageninhalt die Hoffnung ausgespuckt, die er in den Neubeginn an dieser Schule gesetzt hatte.

    Zu dem Schulwechsel war es gekommen, nachdem die Wortgefechte der Eltern in einer Trennung geendet hatten. Alex’ Mutter, Sabine Haase, wechselte Wohnung und Arbeitsstelle. Sie wollte einen totalen Neubeginn und ließ alles zurück, was nun keine Bedeutung mehr für sie hatte: ihre Edelstahltöpfe mit Kupfersandwichboden und ihr echtseidenes Hochzeitskleid. Die CD-Sammlung mit den Hits ihrer Jugend 1988–1994, Alex und den Gin nahm sie mit.

    Sabines neue Stelle als Krankenschwester war in einer Privatklinik für psychosomatische Erkrankungen. Insgeheim hoffte Sabine, die auf Seelenleid spezialisierte Umgebung könne auch ihrem Schmerz über die zerstörte Familie Linderung verschaffen. Sie würde dann nicht mehr auf den Alkohol angewiesen sein, denn, so viel war klar, der Gin unterspülte das Fundament ihres Berufs. Er ertränkte ihre Kraft, riss ihr Mitgefühl mit sich.

    Auch Alex versuchte, dem Neuanfang in der anderen Stadt etwas Gutes abzugewinnen. Immer hatten sich die Konflikte zwischen Vater und Mutter an seinen Noten entzündet. Gefangen in einem Netz aus Schuldgefühlen und Erwartungsdruck, war er an der alten Schule irgendwann verstummt und den Versagern zugeordnet worden. All die Jahre hatte er gehofft, jemand würde das Netz zerreißen, seinen Lähmungszustand beenden. Aber niemand kam, niemand sagte „Steh auf und geh". Er war ein schlechter Schüler gewesen. Aber das sollte sich nun ändern.

    Nach dem Umzug in die neue Stadt musste er sich hier zwischen drei Gymnasien entscheiden. Er hatte nicht lang überlegt. Die Schule, vor der imposant und schon von Weitem sichtbar ein riesiger steinerner Löwe vor Stärke strotzend sein Maul aufriss – diese Schule musste es sein. Der Löwe würde sein Schutzpatron werden, würde mit seinen Reißzähnen die Fesseln zerschneiden, und er würde aufstehen und selbst stark und stolz wie ein Löwe sein.

    Der Löwe war bald mehr als ein Talisman, der Löwe wurde ein Freund, zu dem es ihn zog, noch bevor das Schuljahr begonnen hatte. Jeden Tag in den Ferien ging er zum Löwen, setzte sich in der drückenden Augusthitze auf die Stufen zu Füßen des Sockels und malte sich aus, wie anders und gut bald alles werden würde.

    Vor vier Jahren, als Zehnjähriger, hatte er Harry Potter gelesen und sich wie Millionen anderer Kinder eingebildet, er selbst sei Harry. Er hatte sich in der schönen Welt der Zauberschule von Hogwarts zu Hause gefühlt, sich vorgestellt, die Rumpelkammer sei der Schrank der Dursleys.

    Der bevorstehende Schulwechsel verleitete ihn jetzt zu weiteren Projektionen. Die neue Schule lag auf einer Anhöhe wie Hogwarts. Über den Dächern hatte er eine Kuppel gesehen, die zu einer Sternwarte zu gehören schien, ähnlich dem Astronomieturm der Zauberschule. War der Löwe nicht auch das Wappentier von Gryffindor? Auf der Schule mit dem Löwen würde er zeigen, was in ihm steckte. Er würde tapfer sein, mutig und klug, kein Zauberer vielleicht, aber ein guter Schüler, ein kluger Kopf, und einer, der sich für Gerechtigkeit einsetzte. Ein Held. Seine Eltern würden stolz auf ihn sein und der Streit hätte ein Ende.

    Sabine Haase holte Erkundigungen über die Schule mit dem Löwen ein. Man riet ihr ab vom Goethe-Gymnasium, das in der teuersten Wohngegend der ansonsten runtergekommenen Ruhrgebietsstadt lag. Andere Schulen seien einfacher. Aber Alex war der Magie des Löwen ganz und gar erlegen und flehte seine Mutter unter Tränen an.

    Sie bat sich Bedenkzeit aus und befragte den Gin. Der Gin riet Sabine, Alex die Erlaubnis zum Besuch der Schule mit dem Löwen zu geben.

    Eva Jägersberg rieb mit einem Tempotuch über ihre Schuhe. Die Zellstofffasern blieben am schwarzen Veloursleder hängen. Was für ein Start ins neue Schuljahr – erst der sterbende Vogel auf der Straße, dann der verrückte Richard, der mit einem Bleistift in seiner Nase herumstocherte, und jetzt dieser Junge, der auf ihre Wildlederschuhe gekotzt hatte. Man konnte die Cornflakes noch erkennen.

    Sie schloss einen Moment die Augen und lenkte die Konzentration auf etwas Angenehmes, ganz wie man es ihr am Fortbildungstag zur Lehrergesundheit geraten hatte. Eva Jägersberg dachte an Joe. In der ersten großen Pause würde sie Frau Heinevetter kontaktieren, um Joe zu buchen. Für zwei Stunden.

    3

    Alex ging neben Richard, zwei Meter hinter Frau Jägersberg. Seine alte Schule war ein nichtssagender, maroder Betonbau aus den 1970er-Jahren gewesen, mit flachen Decken, vielen Fenstern und orangefarbenen Klassenzimmertüren, auf denen man mit Edding prima Penisse zeichnen konnte. Alex hielt Ausschau nach Peniszeichnungen, konnte aber keine entdecken. Die Türen waren aus dunklem Holz, manche hatten Schnitzereien an den Rahmen.

    Sie gingen durchs Foyer. Die Schritte hallten laut. Frau Jägersberg zeigte auf ein Bild, das in einem Messingrahmen über einer Sitzgarnitur aus brüchigem Leder hing.

    „Unser Namensgeber, sagte sie und öffnete eine Doppeltür aus Glas, die zu einem Gang führte, dessen Wände zur Hälfte mit türkisfarbenen Kacheln gefliest waren. Die Kacheln erinnerten Alex an den Kaminofen der Ferienwohnung in Bayern, wo er im vorletzten Jahr mit seinen Eltern gewesen war. Von irgendwoher war Musik zu hören. Frau Jägersberg drehte sich kurz um: „Unsere Streicherklasse.

    Sie bog nach links in einen weiteren türkisfarbenen Flur. Die Kacheln seien in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts angebracht worden, erklärte sie und Alex musste an die Frau denken, die ihn und seine Eltern durch Schloss Neuschwanstein geführt hatte.

    „Damals ganz modern. Reformpädagogik."

    Alex dachte, dass sein Leben nun auch eine Reform erleben würde, und sein Optimismus kehrte zurück. Er strich mit der Hand die Keramik entlang. Glatt und kühl fühlte sie sich an. Auf seiner Haut klebte noch Erbrochenes und er hätte sich gern die Hände gewaschen. Ein Plakat über den Kacheln forderte dazu auf, Spielzeug für die „Tafel zu spenden. Frau Jägersberg fragte Alex, ob er nicht vielleicht bei dieser Sammlung mitmachen wolle, und er nickte. An der alten Schule hatte es einige Kinder gegeben, die zum Mittagessen zur „Tafel gingen und er stellte sich vor, wie diese Kinder bald mit seinem alten Spielzeug spielen würden.

    Sie gingen noch eine Treppe hinauf.

    „Kunst-LK, sagte Frau Jägersberg. Poppige Goethe-Porträts hingen an der Wand. Ein Lernplakat auf Höhe des Treppenabsatzes erläuterte die „Goethe’sche Farbenlehre, Ausgangspunkt der Verfremdungen. Manche Schüler hatten auch den Löwen als Motiv gewählt. Alex missfielen die pinkfarbenen oder leuchtend grünen Ausführungen des Tiers. Auch Richard schien etwas gegen die bunten Löwen zu haben, denn im Vorübergehen zog er an einem der Bilder, sodass es nun schief an der Wand hing.

    Frau Jägersberg war bereits oben vor einem Schaukasten stehen geblieben und winkte Alex heran. Im Kasten lagen Abbildungen des antiken Griechenland und

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